Von und über Judith Hermann
Judith Hermann studierte Germanistik und Philosophie und absolvierte eine journalistische Ausbildung. 1998 erschien ihr Debüt, der Erzählband Sommerhaus, später. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und war ein großer Verkaufserfolg. Nach einem weiteren Erzählband veröffentlichte Judith Hermann auch Romane. Für ihr Werk erhielt sie einige Auszeichnungen, etwa den Kleist-Preis 2001 und den Erich-Fried-Preis 2014. Judith Hermann lebt in Berlin.
© S. Fischer Verlag
Paare, die gemeinsam in der Dunkelheit auf eine Wasseroberfläche blicken, Freundinnen, die einander wiedersehen und sich wenig zu sagen haben, Frauen, die feststellen, dass sich so gut wie nichts von dem, was sie sich im Leben gewünscht haben, erfüllt hat – was passiert mit ihnen, was kann sich noch ändern in ihrem Leben, gibt es Auswege oder zumindest Wege zueinander? Judith Hermann nimmt die Leser mit in einen erzählerischen Park, in dem es viele Wege gibt, viele Erinnerungen und viele Worte, die unausgesprochen bleiben.
Das Erscheinen des mittlerweile vierten Erzählbandes aus der Feder der Berliner Autorin liegt beinahe fünf Jahre zurück, was aber die durchaus reizvolle Möglichkeit bietet, die Texte vor dem Hintergrund der zahlreichen Rezensionen zu lesen, die inzwischen erschienen sind und eine bunte Bandbreite verschiedener Bewertungen darstellen. Deutlich wird dabei, ohne auf die Spezifika der Argumentationen dieser Besprechungen einzugehen, dass das, was die einen als Makel der Erzählungen betrachten, die Anderen als eine Stärke des literarischen Werkes wahrzunehmen vermögen.
Für die Lektüre dieses schmalen Erzählbandes ist es sicher nicht nötig, vorher die Frage danach zu beantworten, ob Judith Hermann mit ihrem Erstlingswerk Sommerhaus, später aus dem Jahr 1998 zu Recht oder zu Unrecht gleich in die vordere Riege der deutschen, damals jungen und neuen AutorInnen vorgerückt sei. Marcel Reich-Ranicki, der 2013 verstorbene „Literaturpapst“ der Kultsendung Das literarische Quartett und langjähriger Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, war seinerseits der Meinung, dass das Debüt der jungen Autorin mehr als vielversprechend, ja sogar „hervorragend“, sei. Kritiker standen dann in der Folgezeit schnell bereit, auf Schwachstellen der folgenden Bücher hinzuweisen, manchmal mit ziemlich keulenartigen Vorwürfen, wie etwa Iris Radisch von der Zeit, dass Hermann eigentlich überhaupt nicht erzählen könne.
Wie auch immer: In größeren, aber regelmäßigen zeitlichen Abständen, ist mit Lettipark der bisher letzte Erzählband erschienen, in dem erzählt wird und zwar anders, als man es von anderen AutorInnen, nicht aber von Hermann, gewohnt sein mag. Hermann bleibt sich stilistisch treu. Was aber macht die Besonderheit dieses Erzählens aus? Hermann schreibt in Andeutungen, meist im Präsens – mit wenigen Worten und in einfachen Sätzen. Diese Reduziertheit erscheint manchem Kritiker als Leere und als Versuch, Bedeutung und Tiefe zu behaupten, wo keine ist. Wenn man sich aber auf diesen Stil einlässt, der mit wenigen wörtlichen Pinselstrichen eine Situation zaubert, aus der heraus dann die Figuren einander begegnen, zwischen denen sich langsam eine knappe Handlung abspielt, entstehen subtil poetische Bilder. Diese erzählen wiederum kaum beachtete Gefühle, die in der Alltäglichkeit des Lebens von Hermanns Figuren nisten. Oft haben diese Gefühle mit Wiederbegegnungen zu tun oder auch mit Abschieden, mit scheiternden oder schon lange gescheiterten, aber nicht beendeten Beziehungen, mit unerfüllten Sehnsüchten. Irgendwo ist stets ein Schatten von Leid oder ein Nachklang von Melancholie. Hermann bleibt auch ihren Themen treu, sie springt nicht von einem zum anderen. Die Figuren wechseln, aber was sie bewegt oder sie umgibt, wechselt nicht.
In Lettipark, der Titelerzählung, begegnet die Protagonistin ihrer Freundin Elena wieder, und es entspinnt sich ein Netz von Erinnerungen, die darauf hindeuten, wie problematisch die Beziehung zwischen den Frauen gewesen war und warum die Beziehung wohl auch jetzt keine Fortsetzung erfahren kann – vielleicht gab es diese auch nie, denkt sich dann eventuell die Leserschaft, die einst schöne Andere bleibt trotz des Wiedersehens fremd, nur ihr äußerlicher Verfall wird konstatiert.
In Kohlen, der ersten Geschichte des Bandes, schippt man irgendwo im Nirgendwo an einem Wintermorgen selbige in den Keller, als ein kleiner Junge vorbeikommt, der seine Mutter verloren hat und mithelfen will. Während der weiteren Arbeit denkt der Erzähler über das künftige Leben des kleinen Vincent und über dessen verstorbene Mutter nach.
© Větrné mlýny In einem Interview zum Erzählband Alice aus dem Jahr 2009 sagte Hermann, ihr sei es wichtig, Erinnerungen zuzulassen; auch in Lettipark sind sie ein ebenso durchgehendes Thema wie unerfüllte Sehnsüchte. Besonders plastisch wird dies in der siebzehnten und letzten Erzählung mit dem Titel Mutter: Eine Tochter beschreibt die Jugendzeit ihrer Mutter und deren Freundin. Sie beschreibt die Wünsche und Ziele, die die Mädchen damals gemeinsam formuliert und die sich nicht erfüllten hatten. Wieder schwingen Melancholie und eine gewisse Resignation in der Luft des Erzählraumes.
Diese drei Streiflichter illustrieren möglicherweise den gemeinsamen Unterton aller in Lettipark versammelten Geschichten – den Versuch, Zustände zu erzählen, in denen das Unvollkommene des Lebens zu einer seltsamen Pointe führen kann. Hermann liefert keine klassischen Lösungen für die Dilemmata, in denen sich ihre Figuren wiederfinden, sie deutet aber durch ihre Beschreibung an, wie sie unter Umständen auszuhalten sind.
Lettipark ist 2018 in tschechischer Übersetzung im Verlag Větrné mlýny erschienen, der alle bisher erschienenen Werke der Autorin hierzulande herausgebracht hat, was eine besonders intensive und positive Rezeption Hermanns in Tschechien belegt. Der Übersetzer, Petr Štědroň, hat zuvor schon Aller Liebe Anfang und Nichts als Gespenster übersetzt – und auch hier eine gelungene Entsprechung für Hermanns, wie eingangs kurz angedeutet, ebenso gelobten wie kritisierten Stil gefunden.
© Sabine Voda Eschgfäller
Die Autorin ist Schriftstellerin und Germanistin an der Philosophischen Fakultät der Palacký-Universität in Olomouc.
Das Erscheinen des mittlerweile vierten Erzählbandes aus der Feder der Berliner Autorin liegt beinahe fünf Jahre zurück, was aber die durchaus reizvolle Möglichkeit bietet, die Texte vor dem Hintergrund der zahlreichen Rezensionen zu lesen, die inzwischen erschienen sind und eine bunte Bandbreite verschiedener Bewertungen darstellen. Deutlich wird dabei, ohne auf die Spezifika der Argumentationen dieser Besprechungen einzugehen, dass das, was die einen als Makel der Erzählungen betrachten, die Anderen als eine Stärke des literarischen Werkes wahrzunehmen vermögen.
Für die Lektüre dieses schmalen Erzählbandes ist es sicher nicht nötig, vorher die Frage danach zu beantworten, ob Judith Hermann mit ihrem Erstlingswerk Sommerhaus, später aus dem Jahr 1998 zu Recht oder zu Unrecht gleich in die vordere Riege der deutschen, damals jungen und neuen AutorInnen vorgerückt sei. Marcel Reich-Ranicki, der 2013 verstorbene „Literaturpapst“ der Kultsendung Das literarische Quartett und langjähriger Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, war seinerseits der Meinung, dass das Debüt der jungen Autorin mehr als vielversprechend, ja sogar „hervorragend“, sei. Kritiker standen dann in der Folgezeit schnell bereit, auf Schwachstellen der folgenden Bücher hinzuweisen, manchmal mit ziemlich keulenartigen Vorwürfen, wie etwa Iris Radisch von der Zeit, dass Hermann eigentlich überhaupt nicht erzählen könne.
Wie auch immer: In größeren, aber regelmäßigen zeitlichen Abständen, ist mit Lettipark der bisher letzte Erzählband erschienen, in dem erzählt wird und zwar anders, als man es von anderen AutorInnen, nicht aber von Hermann, gewohnt sein mag. Hermann bleibt sich stilistisch treu. Was aber macht die Besonderheit dieses Erzählens aus? Hermann schreibt in Andeutungen, meist im Präsens – mit wenigen Worten und in einfachen Sätzen. Diese Reduziertheit erscheint manchem Kritiker als Leere und als Versuch, Bedeutung und Tiefe zu behaupten, wo keine ist. Wenn man sich aber auf diesen Stil einlässt, der mit wenigen wörtlichen Pinselstrichen eine Situation zaubert, aus der heraus dann die Figuren einander begegnen, zwischen denen sich langsam eine knappe Handlung abspielt, entstehen subtil poetische Bilder. Diese erzählen wiederum kaum beachtete Gefühle, die in der Alltäglichkeit des Lebens von Hermanns Figuren nisten. Oft haben diese Gefühle mit Wiederbegegnungen zu tun oder auch mit Abschieden, mit scheiternden oder schon lange gescheiterten, aber nicht beendeten Beziehungen, mit unerfüllten Sehnsüchten. Irgendwo ist stets ein Schatten von Leid oder ein Nachklang von Melancholie. Hermann bleibt auch ihren Themen treu, sie springt nicht von einem zum anderen. Die Figuren wechseln, aber was sie bewegt oder sie umgibt, wechselt nicht.
In Lettipark, der Titelerzählung, begegnet die Protagonistin ihrer Freundin Elena wieder, und es entspinnt sich ein Netz von Erinnerungen, die darauf hindeuten, wie problematisch die Beziehung zwischen den Frauen gewesen war und warum die Beziehung wohl auch jetzt keine Fortsetzung erfahren kann – vielleicht gab es diese auch nie, denkt sich dann eventuell die Leserschaft, die einst schöne Andere bleibt trotz des Wiedersehens fremd, nur ihr äußerlicher Verfall wird konstatiert.
In Kohlen, der ersten Geschichte des Bandes, schippt man irgendwo im Nirgendwo an einem Wintermorgen selbige in den Keller, als ein kleiner Junge vorbeikommt, der seine Mutter verloren hat und mithelfen will. Während der weiteren Arbeit denkt der Erzähler über das künftige Leben des kleinen Vincent und über dessen verstorbene Mutter nach.
© Větrné mlýny In einem Interview zum Erzählband Alice aus dem Jahr 2009 sagte Hermann, ihr sei es wichtig, Erinnerungen zuzulassen; auch in Lettipark sind sie ein ebenso durchgehendes Thema wie unerfüllte Sehnsüchte. Besonders plastisch wird dies in der siebzehnten und letzten Erzählung mit dem Titel Mutter: Eine Tochter beschreibt die Jugendzeit ihrer Mutter und deren Freundin. Sie beschreibt die Wünsche und Ziele, die die Mädchen damals gemeinsam formuliert und die sich nicht erfüllten hatten. Wieder schwingen Melancholie und eine gewisse Resignation in der Luft des Erzählraumes.
Diese drei Streiflichter illustrieren möglicherweise den gemeinsamen Unterton aller in Lettipark versammelten Geschichten – den Versuch, Zustände zu erzählen, in denen das Unvollkommene des Lebens zu einer seltsamen Pointe führen kann. Hermann liefert keine klassischen Lösungen für die Dilemmata, in denen sich ihre Figuren wiederfinden, sie deutet aber durch ihre Beschreibung an, wie sie unter Umständen auszuhalten sind.
Lettipark ist 2018 in tschechischer Übersetzung im Verlag Větrné mlýny erschienen, der alle bisher erschienenen Werke der Autorin hierzulande herausgebracht hat, was eine besonders intensive und positive Rezeption Hermanns in Tschechien belegt. Der Übersetzer, Petr Štědroň, hat zuvor schon Aller Liebe Anfang und Nichts als Gespenster übersetzt – und auch hier eine gelungene Entsprechung für Hermanns, wie eingangs kurz angedeutet, ebenso gelobten wie kritisierten Stil gefunden.
© Sabine Voda Eschgfäller
Die Autorin ist Schriftstellerin und Germanistin an der Philosophischen Fakultät der Palacký-Universität in Olomouc.
- Sommerhaus, später. Erzählungen. S. Fischer 1998. Tschechisch: Letní dům. Übersetzt von Kateřina Hůlková. Větrné Mlýny 2000.
- Nichts als Gespenster. Erzählungen. S. Fischer 2003. Tschechisch: Nic než přízraky. Übersetzt von Petr Štědroň. Větrné Mlýny 2005.
- Alice. Erzählungen. S. Fischer 2009. Tschechisch: Alice. Übersetzt von Tereza Semotamová. Větrné Mlýny 2013.
- Aller Liebe Anfang. Roman. S. Fischer 2014. Tschechisch: Počátek veškeré lásky. Übersetzt von Petr Štědroň. Větrné Mlýny 2016.
- Lettipark. Erzählungen. S. Fischer 2016. Tschechisch: Lettipark. Übersetzt von Petr Štědroň. Větrné Mlýny 2018.
(geb. 1976 in Brünn) Übersetzer, Dramaturg
Petr Štědroň hat Germanistik und Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Masark-Universität Brünn studiert. Er war als Dramaturg am Mahen-Theater des Nationaltheaters Brünn tätig, anschließend als künstlerischer Leiter am Reduta-Theater. Aktuell ist er Direktor des Prager Theaters Divadlo Na zábradlí und gleichzeitig Chefdramaturg des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache. Er veröffentlicht Fachtexte aus den Bereichen Germanistik und Theaterwissenschaft und ist als Hochschuldozent tätig. Aus dem Deutschen hat er verschiedene Theaterstücke übersetzt (Rainer Werner Fassbinder, Peter Handke, Peter Turrini, Roland Schimmelpfennig, Georg Tabori), Opernlibretti (Johann Strauss: Die Fledermaus, Grigorij Frid: Das Tagebuch der Anne Frank, J. W. von Goethe: Der Zauberflöte zweyter Theil bzw. das auf diesem Fragment beruhende Opernlibretto Noci Dnem), Prosa (u.a. Judith Hermann, Katja Lange-Müller, Katharina Hagena). Für die Übersetzung des Romans Ein Regenschirm für diesen Tag von Wilhelma Genazino wurde er 2014 für den Josef-Jungmann-Preis nominiert. Petr Štědroň lebt in Prag.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung
Petr Štědroň hat Germanistik und Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Masark-Universität Brünn studiert. Er war als Dramaturg am Mahen-Theater des Nationaltheaters Brünn tätig, anschließend als künstlerischer Leiter am Reduta-Theater. Aktuell ist er Direktor des Prager Theaters Divadlo Na zábradlí und gleichzeitig Chefdramaturg des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache. Er veröffentlicht Fachtexte aus den Bereichen Germanistik und Theaterwissenschaft und ist als Hochschuldozent tätig. Aus dem Deutschen hat er verschiedene Theaterstücke übersetzt (Rainer Werner Fassbinder, Peter Handke, Peter Turrini, Roland Schimmelpfennig, Georg Tabori), Opernlibretti (Johann Strauss: Die Fledermaus, Grigorij Frid: Das Tagebuch der Anne Frank, J. W. von Goethe: Der Zauberflöte zweyter Theil bzw. das auf diesem Fragment beruhende Opernlibretto Noci Dnem), Prosa (u.a. Judith Hermann, Katja Lange-Müller, Katharina Hagena). Für die Übersetzung des Romans Ein Regenschirm für diesen Tag von Wilhelma Genazino wurde er 2014 für den Josef-Jungmann-Preis nominiert. Petr Štědroň lebt in Prag.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung
Der Schlüssel zum Leben eines Menschen ist die Sehnsucht.
Das Interview mit Judith Hermann und Petr Štědroň über Literatur, Entfernungen zwischen den Menschen und Rückkehr in die Vergangenheit wurde am 23. November 2018 für die Sendung ArtCafé des Tschechischen Rundfunks (Český rohlas Vltava) vorbereitet.
Das Interview mit Judith Hermann und Petr Štědroň über Literatur, Entfernungen zwischen den Menschen und Rückkehr in die Vergangenheit wurde am 23. November 2018 für die Sendung ArtCafé des Tschechischen Rundfunks (Český rohlas Vltava) vorbereitet.
Im Rahmen des Literarischen Colloquiums Berlin fand am 12. Juli 2016 eine Veranstaltung mit Judith Hermann statt, in der die Autorin aus ihrem Buch Lettipark ausgewählte Erzählungen vorlas und im Gespräch mit Kristof Magnusson war.
Auf DichterLesen.net können Sie sich das Interview und die Lesung in Teilen anhören.
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