© S. Fischer Verlag
Paare, die gemeinsam in der Dunkelheit auf eine Wasseroberfläche blicken, Freundinnen, die einander wiedersehen und sich wenig zu sagen haben, Frauen, die feststellen, dass sich so gut wie nichts von dem, was sie sich im Leben gewünscht haben, erfüllt hat – was passiert mit ihnen, was kann sich noch ändern in ihrem Leben, gibt es Auswege oder zumindest Wege zueinander? Judith Hermann nimmt die Leser mit in einen erzählerischen Park, in dem es viele Wege gibt, viele Erinnerungen und viele Worte, die unausgesprochen bleiben.
Das Erscheinen des mittlerweile vierten Erzählbandes aus der Feder der Berliner Autorin liegt beinahe fünf Jahre zurück, was aber die durchaus reizvolle Möglichkeit bietet, die Texte vor dem Hintergrund der zahlreichen Rezensionen zu lesen, die inzwischen erschienen sind und eine bunte Bandbreite verschiedener Bewertungen darstellen. Deutlich wird dabei, ohne auf die Spezifika der Argumentationen dieser Besprechungen einzugehen, dass das, was die einen als Makel der Erzählungen betrachten, die Anderen als eine Stärke des literarischen Werkes wahrzunehmen vermögen.
Für die Lektüre dieses schmalen Erzählbandes ist es sicher nicht nötig, vorher die Frage danach zu beantworten, ob Judith Hermann mit ihrem Erstlingswerk
Sommerhaus, später aus dem Jahr 1998 zu Recht oder zu Unrecht gleich in die vordere Riege der deutschen, damals jungen und neuen AutorInnen vorgerückt sei. Marcel Reich-Ranicki, der 2013 verstorbene „Literaturpapst“ der Kultsendung
Das literarische Quartett und langjähriger Literaturkritiker der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, war seinerseits der Meinung, dass das Debüt der jungen Autorin mehr als vielversprechend, ja sogar „hervorragend“, sei. Kritiker standen dann in der Folgezeit schnell bereit, auf Schwachstellen der folgenden Bücher hinzuweisen, manchmal mit ziemlich keulenartigen Vorwürfen, wie etwa Iris Radisch von der
Zeit, dass Hermann eigentlich überhaupt nicht erzählen könne.
Wie auch immer: In größeren, aber regelmäßigen zeitlichen Abständen, ist mit
Lettipark der bisher letzte Erzählband erschienen, in dem erzählt wird und zwar anders, als man es von anderen AutorInnen, nicht aber von Hermann, gewohnt sein mag. Hermann bleibt sich stilistisch treu. Was aber macht die Besonderheit dieses Erzählens aus? Hermann schreibt in Andeutungen, meist im Präsens – mit wenigen Worten und in einfachen Sätzen. Diese Reduziertheit erscheint manchem Kritiker als Leere und als Versuch, Bedeutung und Tiefe zu behaupten, wo keine ist. Wenn man sich aber auf diesen Stil einlässt, der mit wenigen wörtlichen Pinselstrichen eine Situation zaubert, aus der heraus dann die Figuren einander begegnen, zwischen denen sich langsam eine knappe Handlung abspielt, entstehen subtil poetische Bilder. Diese erzählen wiederum kaum beachtete Gefühle, die in der Alltäglichkeit des Lebens von Hermanns Figuren nisten. Oft haben diese Gefühle mit Wiederbegegnungen zu tun oder auch mit Abschieden, mit scheiternden oder schon lange gescheiterten, aber nicht beendeten Beziehungen, mit unerfüllten Sehnsüchten. Irgendwo ist stets ein Schatten von Leid oder ein Nachklang von Melancholie. Hermann bleibt auch ihren Themen treu, sie springt nicht von einem zum anderen. Die Figuren wechseln, aber was sie bewegt oder sie umgibt, wechselt nicht.
In
Lettipark, der Titelerzählung, begegnet die Protagonistin ihrer Freundin Elena wieder, und es entspinnt sich ein Netz von Erinnerungen, die darauf hindeuten, wie problematisch die Beziehung zwischen den Frauen gewesen war und warum die Beziehung wohl auch jetzt keine Fortsetzung erfahren kann – vielleicht gab es diese auch nie, denkt sich dann eventuell die Leserschaft, die einst schöne Andere bleibt trotz des Wiedersehens fremd, nur ihr äußerlicher Verfall wird konstatiert.
In
Kohlen, der ersten Geschichte des Bandes, schippt man irgendwo im Nirgendwo an einem Wintermorgen selbige in den Keller, als ein kleiner Junge vorbeikommt, der seine Mutter verloren hat und mithelfen will. Während der weiteren Arbeit denkt der Erzähler über das künftige Leben des kleinen Vincent und über dessen verstorbene Mutter nach.
© Větrné mlýny
In einem Interview zum Erzählband
Alice aus dem Jahr 2009 sagte Hermann, ihr sei es wichtig, Erinnerungen zuzulassen; auch in
Lettipark sind sie ein ebenso durchgehendes Thema wie unerfüllte Sehnsüchte. Besonders plastisch wird dies in der siebzehnten und letzten Erzählung mit dem Titel
Mutter: Eine Tochter beschreibt die Jugendzeit ihrer Mutter und deren Freundin. Sie beschreibt die Wünsche und Ziele, die die Mädchen damals gemeinsam formuliert und die sich nicht erfüllten hatten. Wieder schwingen Melancholie und eine gewisse Resignation in der Luft des Erzählraumes.
Diese drei Streiflichter illustrieren möglicherweise den gemeinsamen Unterton aller in
Lettipark versammelten Geschichten – den Versuch, Zustände zu erzählen, in denen das Unvollkommene des Lebens zu einer seltsamen Pointe führen kann. Hermann liefert keine klassischen Lösungen für die Dilemmata, in denen sich ihre Figuren wiederfinden, sie deutet aber durch ihre Beschreibung an, wie sie unter Umständen auszuhalten sind.
Lettipark ist 2018 in tschechischer Übersetzung im Verlag Větrné mlýny erschienen, der alle bisher erschienenen Werke der Autorin hierzulande herausgebracht hat, was eine besonders intensive und positive Rezeption Hermanns in Tschechien belegt. Der Übersetzer, Petr Štědroň, hat zuvor schon
Aller Liebe Anfang und
Nichts als Gespenster übersetzt – und auch hier eine gelungene Entsprechung für Hermanns, wie eingangs kurz angedeutet, ebenso gelobten wie kritisierten Stil gefunden.
© Sabine Voda Eschgfäller
Die Autorin ist Schriftstellerin und Germanistin an der Philosophischen Fakultät der Palacký-Universität in Olomouc.