Juli Zeh (geb. 1974) hat sich bereits mit ihrem ersten Roman Adler und Engel (2001, tsch. Orli a Andělé, 2004), in dem sie die Krise der Institutionen aufs Korn nahm und den wahren Grund für den Krieg auf dem Balkan thematisierte, einen vorderen Platz in der Elite der deutschen Gegenwartsliteratur erarbeitet. Auch ihre anderen Werke sowie ihr neuester Gesellschaftsroman Über Menschen (2021, tsch. O lidech) stehen seit langem an der Spitze der Bestsellerlisten. Die gelernte und praktizierende Juristin, die als Richterin am Verfassungsgerichtshof in Brandenburg tätig ist, hat bereits mehr als zwanzig Publikationen in den verschiedensten Genres veröffentlicht, von Theaterstücken, Kurzgeschichten, Romanen, Essays, Reiseberichten bis hin zu populärwissenschaftlichen Büchern und Kinderbüchern. Von ihrem literarischen Talent zeugen ihre anhaltende Beliebtheit bei den Lesern und drei Verfilmungen sowie eine Reihe renommierter Auszeichnungen, darunter der Thomas-Mann-Preis und der Heinrich-Böll-Preis.
Gesundheit als oberstes Prinzip
Im Mittelpunkt des Werks von Juli Zeh stehen soziale Themen und drängende Fragen zur menschlichen Natur, zu Moral und Recht. Das gilt auch für die Dystopie Corpus Delicti. Ein Prozess (2009, tsch. Ve jménu Metody, 2021), die ursprünglich als Theaterstück unter dem Titel Corpus Delicti. Ein Prozess geschrieben und 2007 bei der Ruhrtriennale in Essen aufgeführt wurde. Mit ihrer Zukunftsvision griff sie nicht nur das Problem der Einschränkung der Freiheit zur Erhebung personenbezogener Daten auf, sondern nahm auch die Fallstricke der strengen Coronabeschränkungen um zehn Jahre vorweg. Die Gruppe RAK (Recht auf Krankheit), die sich im Roman gegen den kompromisslosen Totalitarismus auflehnt, erinnert an die immer stärker werdenden Stimmen der heutigen Impfgegner. Es ist also kein Wunder, dass die tschechische Übersetzung in dieser turbulenten Zeit in die Buchhandlungen kommt und uns zeigt, in welche Richtung wir uns unter der Herrschaft der Politik der Angst vor Krankheiten entwickeln könnten.
Der Roman Ve jménu Metody zeigt Elemente der klassischen Anti-Utopie, wie wir sie aus der Feder von George Orwell oder Margaret Atwood kennen, während die Handlung uns in die Welt einer Gesundheitsdiktatur im Deutschland der Mitte des 21. Jahrhunderts versetzt, in der die körperliche Gesundheit zum A und O jeglichen staatlichen Funktionierens wird. Das Buch beginnt mit einer kurzen Definition des Begriffs "Gesundheit" aus Heinrich Kramers fiktivem Werk, gefolgt von der Verurteilung der jungen Naturforscherin Mia Holl, die wegen feindlicher Handlungen gegen die Methode "eingefroren" werden soll. Letztere wird als unfehlbare staatliche Ordnung dargestellt, die sowohl das persönliche als auch das allgemeine Wohlbefinden ohne Krankheit garantiert. Das Buch weist auch Elemente eines Polit-Justiz-Thrillers auf, da Mia versucht, den Tod ihres Bruders Moritz aufzuklären, der aufgrund von DNA-Analysen als Mörder verurteilt wurde. Die Protagonistin, die anfangs eine Anhängerin der Methode ist, versetzt dem Regime einen schweren Schlag, indem sie die Unschuld ihres Bruders aufdeckt. Die kompromisslosen Prinzipien der Methode werden von der bis dahin rationalen Mia als legitim angesehen, da das einzige biologische Ziel aller Organismen die Gesundheit ist. Der Geist tritt in den Hintergrund, und der Körper wird als Apparat, der das reibungslose Funktionieren des Staates ermöglicht, über alles andere gestellt. Als Mia, die sich weigert, ihren Geist dem Staat zur Verfügung zu stellen, vom Gericht verboten wird, privat zu trauern, und sie gezwungen wird, sich einer Behandlung zu unterziehen, beginnt sie allmählich, sich dem System zu widersetzen. Mit ihren "ansteckenden Gedanken" wird sie für die Methode zu einem "überaus gefährlichen Virus".
Kramer gegen Holl
Der geistige Vater des absoluten Prinzips "Gesundheit als staatliche Legitimation" ist Moritz' und Mias Gegenspieler Heinrich Kramer, der in den Medien Plattitüden über gesunden Menschenverstand und den Weg zum Wohlstand verbreitet. Um die Stabilität und das Gedeihen der Gesellschaft zu gewährleisten, heiligt er jedes Mittel. Er nutzt den Fall Mia Holl, um die Methode zu testen und zu stärken, und schreckt auch nicht davor zurück, die Fakten zu manipulieren. Bei dem Versuch der Heldin, Kramers Werk zum Einsturz zu bringen, wird sie von einer materialisierten Halluzination einer "imaginären Geliebten" angetrieben, die ihr ihr Bruder vor seinem Tod vermacht hat. Die Geliebte kann Gegenstände bewegen, bespricht ihre Situation mit Mia und bezeichnet sie als Hexe. Sie bewegt sich am Rande der Normalität, ist weder Opfer noch Täterin, und als Kämpferin für persönliche Freiheit in Kramers Diktatur muss sie von einem Inquisitor verfolgt und gefoltert werden, und zwar von einem fast diabolischen, denn Kramer zieht die Protagonistin gewissermaßen an. Die bewusste Namenswahl für die beiden Protagonisten wird den Leser nicht überraschen - Heinrich Kramers Namensvetter war ein Mitverfasser der Schrift Der Hexenhammer (1486), während Maria Holl (Mia ist ursprünglich eine Koseform von Maria), die ein Jahrhundert später lebte, bei den Prozessen im schwäbischen Nördlingen als Hexe gefoltert wurde. Dieses Vermächtnis stellt die Rückkehr zu inszenierten Prozessen im Namen extremer Rationalität auf eine Stufe mit den fanatischen mittelalterlichen Prozessen und zeigt, dass die Menschheit im Namen "höherer Prinzipien" immer wieder fatale Fehler begeht, die zu einem vegetativen Zustand des Lebens des Körpers ohne Geist führen können. Mias Entwicklung zu einer wagemutigen "Terroristin", die Kramers kranke Vision des Staates zerschlagen will, indem sie sich den Chip, der alle Aktivitäten überwacht, drastisch aus dem Arm reißt, ist das, was wir in der Handlung sehnsüchtig erwarten. Eine Katharsis bietet der Schluss der Lektüre jedoch bewusst nicht.
An einigen Stellen erinnert die Zukunftsdarstellung des Romans an den Actionfilm Demolition Man (1993), in dem die analoge Strafe "kryogenisches Gefängnis" heißt. In beiden Dystopien gelten Kaffee, Zigaretten und Alkohol als illegale Giftstoffe, unhygienischer Körperkontakt wird kaum praktiziert, und die Menschen stehen unter ständiger staatlicher Gesundheitsüberwachung. Der Staat überrascht jedoch mit Zehs inkonsequenter Nachsicht, denn Moritz zum Beispiel bekommt jedes Mal problemlos sowohl Zigaretten als auch eine unerlaubte Zone in seiner Wald-"Kathedrale", so wie Mias Anwalt eine Flasche verbotenen Champagner bekommt. Die scheinbare Freiwilligkeit, im Namen der Methode zu leben, wird durch die Notwendigkeit untergraben, eine große bewaffnete Truppe bereitzuhalten, um gegen potenzielle Gegner vorzugehen. Die Prämisse der kollektiven Gesundheit der Gesellschaft ist die gemeinsame Anstrengung aller Bürger. Der allwissende Große Bruder wird in dem Buch also nicht nur durch den obligatorischen Chip unter der Haut repräsentiert, sondern auch durch die gesamte Bevölkerung, die bereitwillig jede noch so kleine Übertretung an die zuständigen Behörden meldet.
Das Joch der empirischen Daten
Die Liebe wird zu einem "Produkt immunologischer Optimierungsverfahren", und da alles von einem pathologisch gesunden Staat gesteuert wird, kann eine gesunde Familie nur mit einem kompatiblen Typ gegründet werden. Die Erfassung und Manipulation präziser biometrischer Daten sowie die Einschränkung des Lebensraums aufgrund der Ansteckungsgefahr sind eine prophetische Satire auf die heutige Zeit, in der jeder Klick im Internet oder jeder Arztbesuch eine leicht verwertbare, unauslöschliche Datenspur hinterlässt. Leider dient die Datenerhebung selten dem Schutz des Einzelnen, auch wenn Kramer versucht, das Gegenteil zu vermitteln. Eine positive Parallele zu dem, was heute in der Welt geschieht, findet sich in der "Verlangsamung" und "Beruhigung der Menschheit", die der Natur geholfen hat, wieder tief durchzuatmen. Aber ein sauberer Planet kann die negativen Auswirkungen der Gesundheitsdiktatur nicht ausgleichen. Der Angriff auf die persönliche Freiheit lässt Zeh auch in ihrem Privatleben nicht in Ruhe. Sie sprach sich 2008 öffentlich gegen die Fingerabdruckpflicht in biometrischen Pässen aus, ist eine der Initiatorinnen der Charta der Digitalen Grundrechte in einer digitalen Welt und spricht sich seit Beginn der Covid-19-Pandemie gegen Lockdowns und die Einführung einer Impfpflicht aus. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie ein fiktives Interview Fragen zu "Corpus Delicti", in dem sie Antworten auf den Verfall von Werten und Moral in der modernen demokratischen Gesellschaft formuliert.
Corpus Delicti. Ein Prozess zeichnet sich durch sorgfältige Komposition, bissige Dialoge und Minimalismus aus - kurze Kapitel mit Romantiteln werden schnell mit einfachen Szenen (Mias Wohnung, der Gerichtssaal, die Zelle oder die verbotene Zone am Fluss) durchsetzt, was dem ursprünglichen Genre des Dramas entspricht. In knapper und einfacher Sprache lässt die Autorin die Verteidiger der Methode ihre Plattitüden zum Besten geben und betont dadurch die Kälte und Entmenschlichung der beschriebenen Zukunft. Durch präzise Gleichnisse gelingt es ihr, die schwer zu beschreibende Tiefe von Mias Trauer anschaulich darzustellen ("Niemand", sagt Mia, "kann nachvollziehen, was ich durchmache. Nicht einmal ich selbst. Wäre ich ein Hund - ich würde mich ankläffen, damit ich nicht näher komme"). Zeh arbeitet auch mit Übertreibungen - der Ausdruck der Überraschung ist oft der Satz "Hol mich der Virus!" und der obligatorische Gruß "Santé", was "Prost" bedeutet. Einige Rezensenten werfen Zeh trockene, mechanische Charaktere und unnatürliche Konflikte vor, aber diese spiegeln erfolgreich die Seelenlosigkeit des scheinbar idealen Staates wider. Der Roman wurde bald zu einem viel beachteten Werk in der deutschen Oberstufe und ist nicht nur wegen seiner Aktualität lesenswert, sondern auch, weil er auf beiden Seiten überzeugende Argumente liefert und das Problem einer (anti-)utopischen gesunden Gesellschaft von allen Seiten beleuchtet.
© Adéla Grimes
Die Autorin ist Redakteurin und Hochschullehrerin an der Palacký-Universität.
Die Rezension wurde in Zusammenarbeit mit dem Online-Literaturmagazin iLiteratura verfasst.
Im Mittelpunkt des Werks von Juli Zeh stehen soziale Themen und drängende Fragen zur menschlichen Natur, zu Moral und Recht. Das gilt auch für die Dystopie Corpus Delicti. Ein Prozess (2009, tsch. Ve jménu Metody, 2021), die ursprünglich als Theaterstück unter dem Titel Corpus Delicti. Ein Prozess geschrieben und 2007 bei der Ruhrtriennale in Essen aufgeführt wurde. Mit ihrer Zukunftsvision griff sie nicht nur das Problem der Einschränkung der Freiheit zur Erhebung personenbezogener Daten auf, sondern nahm auch die Fallstricke der strengen Coronabeschränkungen um zehn Jahre vorweg. Die Gruppe RAK (Recht auf Krankheit), die sich im Roman gegen den kompromisslosen Totalitarismus auflehnt, erinnert an die immer stärker werdenden Stimmen der heutigen Impfgegner. Es ist also kein Wunder, dass die tschechische Übersetzung in dieser turbulenten Zeit in die Buchhandlungen kommt und uns zeigt, in welche Richtung wir uns unter der Herrschaft der Politik der Angst vor Krankheiten entwickeln könnten.
Der Roman Ve jménu Metody zeigt Elemente der klassischen Anti-Utopie, wie wir sie aus der Feder von George Orwell oder Margaret Atwood kennen, während die Handlung uns in die Welt einer Gesundheitsdiktatur im Deutschland der Mitte des 21. Jahrhunderts versetzt, in der die körperliche Gesundheit zum A und O jeglichen staatlichen Funktionierens wird. Das Buch beginnt mit einer kurzen Definition des Begriffs "Gesundheit" aus Heinrich Kramers fiktivem Werk, gefolgt von der Verurteilung der jungen Naturforscherin Mia Holl, die wegen feindlicher Handlungen gegen die Methode "eingefroren" werden soll. Letztere wird als unfehlbare staatliche Ordnung dargestellt, die sowohl das persönliche als auch das allgemeine Wohlbefinden ohne Krankheit garantiert. Das Buch weist auch Elemente eines Polit-Justiz-Thrillers auf, da Mia versucht, den Tod ihres Bruders Moritz aufzuklären, der aufgrund von DNA-Analysen als Mörder verurteilt wurde. Die Protagonistin, die anfangs eine Anhängerin der Methode ist, versetzt dem Regime einen schweren Schlag, indem sie die Unschuld ihres Bruders aufdeckt. Die kompromisslosen Prinzipien der Methode werden von der bis dahin rationalen Mia als legitim angesehen, da das einzige biologische Ziel aller Organismen die Gesundheit ist. Der Geist tritt in den Hintergrund, und der Körper wird als Apparat, der das reibungslose Funktionieren des Staates ermöglicht, über alles andere gestellt. Als Mia, die sich weigert, ihren Geist dem Staat zur Verfügung zu stellen, vom Gericht verboten wird, privat zu trauern, und sie gezwungen wird, sich einer Behandlung zu unterziehen, beginnt sie allmählich, sich dem System zu widersetzen. Mit ihren "ansteckenden Gedanken" wird sie für die Methode zu einem "überaus gefährlichen Virus".
Kramer gegen Holl
Der geistige Vater des absoluten Prinzips "Gesundheit als staatliche Legitimation" ist Moritz' und Mias Gegenspieler Heinrich Kramer, der in den Medien Plattitüden über gesunden Menschenverstand und den Weg zum Wohlstand verbreitet. Um die Stabilität und das Gedeihen der Gesellschaft zu gewährleisten, heiligt er jedes Mittel. Er nutzt den Fall Mia Holl, um die Methode zu testen und zu stärken, und schreckt auch nicht davor zurück, die Fakten zu manipulieren. Bei dem Versuch der Heldin, Kramers Werk zum Einsturz zu bringen, wird sie von einer materialisierten Halluzination einer "imaginären Geliebten" angetrieben, die ihr ihr Bruder vor seinem Tod vermacht hat. Die Geliebte kann Gegenstände bewegen, bespricht ihre Situation mit Mia und bezeichnet sie als Hexe. Sie bewegt sich am Rande der Normalität, ist weder Opfer noch Täterin, und als Kämpferin für persönliche Freiheit in Kramers Diktatur muss sie von einem Inquisitor verfolgt und gefoltert werden, und zwar von einem fast diabolischen, denn Kramer zieht die Protagonistin gewissermaßen an. Die bewusste Namenswahl für die beiden Protagonisten wird den Leser nicht überraschen - Heinrich Kramers Namensvetter war ein Mitverfasser der Schrift Der Hexenhammer (1486), während Maria Holl (Mia ist ursprünglich eine Koseform von Maria), die ein Jahrhundert später lebte, bei den Prozessen im schwäbischen Nördlingen als Hexe gefoltert wurde. Dieses Vermächtnis stellt die Rückkehr zu inszenierten Prozessen im Namen extremer Rationalität auf eine Stufe mit den fanatischen mittelalterlichen Prozessen und zeigt, dass die Menschheit im Namen "höherer Prinzipien" immer wieder fatale Fehler begeht, die zu einem vegetativen Zustand des Lebens des Körpers ohne Geist führen können. Mias Entwicklung zu einer wagemutigen "Terroristin", die Kramers kranke Vision des Staates zerschlagen will, indem sie sich den Chip, der alle Aktivitäten überwacht, drastisch aus dem Arm reißt, ist das, was wir in der Handlung sehnsüchtig erwarten. Eine Katharsis bietet der Schluss der Lektüre jedoch bewusst nicht.
An einigen Stellen erinnert die Zukunftsdarstellung des Romans an den Actionfilm Demolition Man (1993), in dem die analoge Strafe "kryogenisches Gefängnis" heißt. In beiden Dystopien gelten Kaffee, Zigaretten und Alkohol als illegale Giftstoffe, unhygienischer Körperkontakt wird kaum praktiziert, und die Menschen stehen unter ständiger staatlicher Gesundheitsüberwachung. Der Staat überrascht jedoch mit Zehs inkonsequenter Nachsicht, denn Moritz zum Beispiel bekommt jedes Mal problemlos sowohl Zigaretten als auch eine unerlaubte Zone in seiner Wald-"Kathedrale", so wie Mias Anwalt eine Flasche verbotenen Champagner bekommt. Die scheinbare Freiwilligkeit, im Namen der Methode zu leben, wird durch die Notwendigkeit untergraben, eine große bewaffnete Truppe bereitzuhalten, um gegen potenzielle Gegner vorzugehen. Die Prämisse der kollektiven Gesundheit der Gesellschaft ist die gemeinsame Anstrengung aller Bürger. Der allwissende Große Bruder wird in dem Buch also nicht nur durch den obligatorischen Chip unter der Haut repräsentiert, sondern auch durch die gesamte Bevölkerung, die bereitwillig jede noch so kleine Übertretung an die zuständigen Behörden meldet.
Das Joch der empirischen Daten
Die Liebe wird zu einem "Produkt immunologischer Optimierungsverfahren", und da alles von einem pathologisch gesunden Staat gesteuert wird, kann eine gesunde Familie nur mit einem kompatiblen Typ gegründet werden. Die Erfassung und Manipulation präziser biometrischer Daten sowie die Einschränkung des Lebensraums aufgrund der Ansteckungsgefahr sind eine prophetische Satire auf die heutige Zeit, in der jeder Klick im Internet oder jeder Arztbesuch eine leicht verwertbare, unauslöschliche Datenspur hinterlässt. Leider dient die Datenerhebung selten dem Schutz des Einzelnen, auch wenn Kramer versucht, das Gegenteil zu vermitteln. Eine positive Parallele zu dem, was heute in der Welt geschieht, findet sich in der "Verlangsamung" und "Beruhigung der Menschheit", die der Natur geholfen hat, wieder tief durchzuatmen. Aber ein sauberer Planet kann die negativen Auswirkungen der Gesundheitsdiktatur nicht ausgleichen. Der Angriff auf die persönliche Freiheit lässt Zeh auch in ihrem Privatleben nicht in Ruhe. Sie sprach sich 2008 öffentlich gegen die Fingerabdruckpflicht in biometrischen Pässen aus, ist eine der Initiatorinnen der Charta der Digitalen Grundrechte in einer digitalen Welt und spricht sich seit Beginn der Covid-19-Pandemie gegen Lockdowns und die Einführung einer Impfpflicht aus. Im Jahr 2020 veröffentlichte sie ein fiktives Interview Fragen zu "Corpus Delicti", in dem sie Antworten auf den Verfall von Werten und Moral in der modernen demokratischen Gesellschaft formuliert.
Corpus Delicti. Ein Prozess zeichnet sich durch sorgfältige Komposition, bissige Dialoge und Minimalismus aus - kurze Kapitel mit Romantiteln werden schnell mit einfachen Szenen (Mias Wohnung, der Gerichtssaal, die Zelle oder die verbotene Zone am Fluss) durchsetzt, was dem ursprünglichen Genre des Dramas entspricht. In knapper und einfacher Sprache lässt die Autorin die Verteidiger der Methode ihre Plattitüden zum Besten geben und betont dadurch die Kälte und Entmenschlichung der beschriebenen Zukunft. Durch präzise Gleichnisse gelingt es ihr, die schwer zu beschreibende Tiefe von Mias Trauer anschaulich darzustellen ("Niemand", sagt Mia, "kann nachvollziehen, was ich durchmache. Nicht einmal ich selbst. Wäre ich ein Hund - ich würde mich ankläffen, damit ich nicht näher komme"). Zeh arbeitet auch mit Übertreibungen - der Ausdruck der Überraschung ist oft der Satz "Hol mich der Virus!" und der obligatorische Gruß "Santé", was "Prost" bedeutet. Einige Rezensenten werfen Zeh trockene, mechanische Charaktere und unnatürliche Konflikte vor, aber diese spiegeln erfolgreich die Seelenlosigkeit des scheinbar idealen Staates wider. Der Roman wurde bald zu einem viel beachteten Werk in der deutschen Oberstufe und ist nicht nur wegen seiner Aktualität lesenswert, sondern auch, weil er auf beiden Seiten überzeugende Argumente liefert und das Problem einer (anti-)utopischen gesunden Gesellschaft von allen Seiten beleuchtet.
© Adéla Grimes
Die Autorin ist Redakteurin und Hochschullehrerin an der Palacký-Universität.
Die Rezension wurde in Zusammenarbeit mit dem Online-Literaturmagazin iLiteratura verfasst.
Was macht einen Menschen zum Menschen? Was ist die Menschenwürde? Was bedeutet die persönliche Freiheit für uns? Was verstehen wir unter einem guten Leben? Dies ist nur eine kurze Liste von Fragen, die Juli Zeh im Zusammenhang mit ihrem Roman Corpus delicti beantwortet. Sie beschreibt detailliert die Themen des Romans, die nicht nur unsere Lebensweise, sondern auch die demokratischen Werte der heutigen Gesellschaft betreffen.
Der Roman Corpus Delicti in Fragen von Juli Zeh
Juli Zeh: Fragen zu Corpus Delicti. btb, München, 2020, pp240.
Im Jahr 2020 wurde in Deutschland ein Buch der zeitgenössischen Schriftstellerin Juli Zeh (geb. 1974) mit dem Titel Fragen zu Corpus Delicti (im Folgenden Fragen) veröffentlicht. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um Belletristik, sondern um ein Interview, in dem die Autorin Fragen zu ihrem von der Kritik hochgelobten Roman Corpus Delicti: Ein Prozess (2009) beantwortet. In Tschechien wurde er im vergangenen Jahr vom Verlag Argo unter dem Titel Ve jménu metody (Im Namen der Methode) veröffentlicht.
Der Roman spielt in naher Zukunft nach einer Epidemie in einer nicht näher spezifizierten Gesellschaft, die freiwillig von einer demokratischen Regierungsform zu einer Gesundheitsdiktatur übergegangen ist. Hier wurde die Gesundheit zu einer Staatsangelegenheit von höchstem Wert erhoben. An der Spitze des Staates steht die Methode, die jedem Bürger ein möglichst langes Leben in Gesundheit garantiert. Allerdings um den Preis, dass sie eine ganze Reihe von persönlichen Freiheiten aufgeben müssen. Jeder ist verpflichtet, regelmäßig Berichte über seine sportlichen Aktivitäten sowie Ernährungs- und Schlaftagebücher bei den Institutionen der Methode einzureichen. Diejenigen, die sich nicht an diese Vorschriften halten, werden gnadenlos bestraft.
Diese Roman-Dystopie erfreute sich in Deutschland großer Beliebtheit, und im Laufe der Jahre erhielt die Autorin immer wieder E-Mail-Anfragen von Leser:innen und später auch von Schüler:innen (der Roman ist inzwischen in mehreren Bundesländern Teil des Deutsch-Lehrplans) zu den Hauptfiguren, der Handlung des Buches und seiner Interpretation. Juli Zeh hat diese konkreten Fragen neu formuliert und zu einer Art "Buch über das Buch" gemacht, in dem sie sie ausführlich beantwortet. Gleichzeitig stellt sie in Fragen andere Themen und Ideen vor, die sie beim Schreiben des Romans grundlegend beeinflusst und inspiriert haben, und diskutiert diese. Sie hat keine Informationen über ihre politischen Ansichten ausgelassen.
Dass Fragen erst elf Jahre nach dem Erscheinen des Romans veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass der Text eine besondere und wichtige Rolle in der Arbeit der Autorin gespielt hat und weiterhin spielt, wie Juli Zeh selbst ausdrücklich bestätigt. Diese Bedeutung hängt ihrer Meinung nach sowohl mit dem Roman selbst - er war ursprünglich ein Theaterstück, und dieses Format stellt höhere Anforderungen an die Strukturierung des Textes - als auch mit den politischen Beweggründen zusammen, die sie zum Schreiben des Romans veranlassten. Sie bemerkt: "Bei Corpus Delicti hatte ich das Gefühl: Dieser Text ist meine Aufgabe, und wenn ich sie nicht erfülle, werde ich es eines Tages bereuen."(S.227)
Die thematische Bandbreite des Romans ist recht groß, was auch dem Umfang der Fragen entspricht. Die Autorin gibt selbst zu, dass es ihr "gar nicht leicht ist, ein Hauptthema zu bestimmen." (S.145), und der aufmerksame Leser des Romans wird ihr wohl zustimmen. Einige Themen scheinen jedoch wesentlicher zu sein.
Das Mittelalter und die Hexenverfolgung
Die Fragen verraten gleich zu Beginn eine interessante Information: dass dem Romantext ein Theaterstück vorausgegangen ist. Es wurde von Juli Zeh für ein Theaterfestival im Jahr 2007 geschrieben, und das Thema des Stücks sollte mit dem Mittelalter verbunden sein. Die Autorin erklärt, dass sie das Thema einer "modernen Hexenverfolgung" fasziniert und sie beschlossen habe, die Geschichte "von einer jungen Frau zu erzählen, die zur Ausgestoßenen wird, ja, zur Staatsfeindin wird". (S. 20) Die Figur der mittelalterlichen Hexe wurde also mit der Rolle einer Person verschmolzen, die eine Art Bedrohung für die Gesellschaft darstellte. Die Geschichte spielt jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern, wie im Roman zu lesen ist, irgendwann in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Autorin kommentiert diese zeitliche Verschiebung von der Vergangenheit in die Zukunft mit den Worten von Mia Holl: "Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur". Dies habe es der Autorin ermöglicht, den Text so zu konzipieren, dass er eigentlich "weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft" handelt, sondern "auf Veränderungen in unserer heutigen Gesellschaft hinweisen" will (29). Sie fügt hinzu, dass sie sich "um die heutige Mentalität, um aktuelle Veränderungen in Politik und Gesellschaft, um Denkweisen, Weltsichten, Menschenbilder, wie sie jetzt gerade üblich sind. beschäftigt habe. (S. 118) Mit "jetzt" meint sie den Zustand der Gesellschaft vor 13 Jahren, aber man kann sicher nicht sagen, dass irgendetwas davon zwischenzeitlich an Bedeutung verloren hätte. Ganz im Gegenteil! Auf die Frage, warum der Roman in der Mitte des 21. Jahrhunderts spielt, antwortete sie, dass "Das Verlagern der Geschichte in die Zukunft gab mir einfach mehr Freiheit bei der Ausgestaltung der Handlung, und erlaubte einige radikale Zuspitzungen ". (S. 119)
11. September 2001
Obwohl es fast unglaublich klingt, soll das tragische Datum des 11. September 2001 zu einer Art Meilenstein in Juli Zehs schriftstellerischem und bürgerlichem Leben geworden sein. Sie selbst bezeichnet es als den Moment, der im aktivistischen Sinne "zur Geburtsstunde ihres politischen Bewusstseins wurde", obwohl sie sich natürlich schon vorher für Politik interessiert habe (vgl. 160). Von diesem Moment an, sagt sie, hatte sie das Bedürfnis, etwas „zu tun", was im Falle einer Schriftstellerin bedeutet zu schreiben. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit sei danach für sie zu einem sehr wichtigen Thema geworden. Sie wies darauf hin, dass "Sicherheitspolitik" nicht mit der "Einschränkung von [Bürger-]Rechten" und der "Verbreitung von Angst" einhergehen dürfe. Sie stellt kritisch fest, dass es in der gesellschaftlichen Debatte eine umgekehrte Proportionalität gebe - je mehr Sicherheit, desto weniger (bürgerliche) Freiheit. Diese angespannte Beziehung wurde schließlich auch zu einer der Inspirationen für den Roman. Sie sagt wörtlich: "Ohne den 11. September hätte es diesen Text niemals gegeben. Einen Tag zuvor wäre es noch völlig sinnlos erschienen, einen Roman über eine Gesundheitsdiktatur zu schreiben." (S. 161)
Von Gesundheitsbesessenheit zur Gesundheitsdiktatur
Wie der Text der Fragen zeigt, spielte die Gesundheit - als "Synonym für Sicherheit" - eine weitere entscheidende Rolle bei der Konzeption des Romans. Juli Zeh sieht dieses Thema jedoch in einem breiteren Kontext. Unter anderem kritisiert sie den heutigen Trend der "Gesundheitsbesessenheit", bei dem für viele Menschen "Gesundheit, Fitness, ein schönes und jugendliches Aussehen und gesunde Ernährung" zum Hauptanliegen im Leben geworden sind, dem sie den Großteil ihres Tuns unterordnen. Dazu sagt er wörtlich: "Eine Gesellschaft, die Gesundheit zum Erfolgsprinzip erklärt und Krankheit als eine Form von Versagen ansieht, erscheint mir auf dem besten Weg, inhuman und unsolidarisch zu werden." (S. 92) Und dann weist sie darauf hin, dass "es darauf ankommt, wer sich um wessen Gesundheit kümmert und warum". Sie sieht ein grundsätzliches Problem darin, wenn das Thema Gesundheit politisiert wird, d. h. wenn z. B. ein Mensch, der krank geworden ist, weil er nicht gesund gelebt hat, als "soziale Belastung" angesehen wird. Es darf nicht die Aufgabe des Bürgers sein, "gesund zu bleiben". (147nn) Außerdem gebe es eine Reihe guter Gründe, warum sich der Staat nicht "übermäßig mit der Gesundheit seiner Bürger zu befassen" sollte. (149) In diesem Zusammenhang bezieht sie sich auf den Begriff der "Biopolitik", wie er von dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben in seinem Buch Homo sacer (Nr. 2011, OIKOYMENH) beschrieben wird. Dieser diskutiert hier die Beziehung zwischen dem "biopolitischen Modell der Macht" (Agamb.:14) und totalitären Systemen, insbesondere dem Faschismus und dem Nazismus (Agamb.:128). In Fragen hebt Juli Zeh besonders seine Vorstellung hervor, dass jede enge Verbindung des Staates mit dem menschlichen Körper zum Totalitarismus führt. (vgl. 98) Im Roman Corpus Delicti spiegeln sich all diese Motive im Bild der so genannten "Gesundheitsdiktatur" wider. Hier hat die Gesundheit "nicht nur einen individuellen, sondern auch einen gesellschaftlichen und politischen Wert" erhalten. (31) Diese wird hier als das "höchste Gut" des Menschen betrachtet. Ziel einer rigorosen Prävention ist es, Krankheiten endgültig auszurotten und dafür zu sorgen, dass alle Bürger vollkommen gesund sind. Nach Ansicht von Juli Zeh ist dies jedoch nicht möglich, ohne den Menschen "das Menschliche am Menschen aufzuheben." (106)
Der Staat als Aufpasser
Eng verbunden mit der Gesundheitsdiktatur ist das Motiv des "Überwachungsstaates" oder des "Überwachungssystems", wie es in der Romandiktatur der Fall ist. Juli Zeh betrachtet die verschiedenen Formen der Bespitzelung von Bürgern als eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Dies gilt auch für die Gleichgültigkeit, mit der die Bürger den Gefahren begegnen, die diese Systeme bergen. Er ist besorgt über die häufige Meinung von Menschen, die keinen Grund sehen, gegen Überwachung zu protestieren, wenn sie nichts zu verbergen haben. "Es ist gut, dass sich der Staat um die Sicherheit und Gesundheit seiner Bürger kümmert!" Schließlich dient das alles "einem guten Zweck".
Juli Zeh macht auch auf die Art und Weise darauf aufmerksam, wie wir mit unserer Privatsphäre in den sozialen Medien umgehen. In diesem Zusammenhang spricht sie sogar von einem "erschreckenden Ausmaß an Selbstentblößung". (46)
Diese Überlegungen führten dann zu ihrer Vorstellung von einem Staat, in dem die herrschende Methode eine große Menge an biologischen Daten über seine Bürger sammelt, zum Beispiel durch Sensoren in Toiletten oder am Straßenrand. Der absoluten Überwachung der Bürger dient ein Chip, den sich jeder zwangsweise in den Arm implantieren lässt und der alle persönlichen Daten enthält. Dennoch scheinen diese Menschen in bester Harmonie mit dem staatlichen Establishment zu leben. Natürlich mit einigen Ausnahmen, wie zum Beispiel Moritz Holl.
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Juli Zeh bringt in den Fragen ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass Ideen, die den traditionellen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit grundlegend widersprechen, in der Gesellschaft allmählich an Boden gewinnen. Im Zusammenhang mit dem internationalen Terrorismus seien plötzlich Stimmen laut geworden, die die Einführung eines "Feindstrafrechts" forderten, mit dem Verdächtige außerhalb der normalen Rechtsordnung behandelt werden könnten. (38) Jede Einschränkung der demokratischen Ordnung öffnet jedoch den Weg für Totalitarismus. Und genau auf diese totalitären Tendenzen wollte sie mit der fiktiven Figur des Kramer hinweisen, der als Chefideologe der Methode eine Art modernen Inquisitor darstellt. (39) Gleichzeitig schildert sie in ihrem Roman Corpus Delicti ein Staatssystem, das die Prinzipien der Staatlichkeit aufgegeben hat und zu einer Diktatur geworden ist. Ein solches System kann ihrer Meinung nach nur um den Preis der Unterdrückung aufrechterhalten werden. (90) Dies zeigt der Fall von Mia Holl, die aufgrund einer konstruierten Anklage inhaftiert, aller ihrer Bürgerrechte beraubt und auf ein "einfaches Leben" reduziert wird. Auch hier folgt Juli Zeh den Theorien Agambens und seinem Begriff des "homo sacer". (Agamb.:75nn) Dem Autor zufolge steht Mia in dem Moment, in dem sie sich den Chip aus dem Arm schneidet, endgültig außerhalb des Systems und wird zu jener "heiligen Person", die ungestraft getötet werden kann. (100)
Der Roman Corpus Delicti ist in der Komplexität seiner Themen ein wirklich einzigartiges Werk. Und es ist sicher nicht notwendig, es in allen Einzelheiten zu verstehen, um das Leseerlebnis zu genießen. Dennoch sollte die Absicht der Autorin hier erwähnt werden. Mit ihrem Roman wollte sie unter anderem erreichen, dass die Leser "sich fragen, was ihnen wirklich wichtig ist, was sie zu Menschen macht, was ihre Identität bestimmt und wie das 'gute Leben' für sie aussehen könnte" (103).
© Michael Půček
[1] Zitat. hier und im Folgenden nach: Zeh, Juli: Fragen zu Corpus Delicti. btb Verlag, München, 2020.
Der Roman Corpus Delicti in Fragen von Juli Zeh
Juli Zeh: Fragen zu Corpus Delicti. btb, München, 2020, pp240.
Im Jahr 2020 wurde in Deutschland ein Buch der zeitgenössischen Schriftstellerin Juli Zeh (geb. 1974) mit dem Titel Fragen zu Corpus Delicti (im Folgenden Fragen) veröffentlicht. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um Belletristik, sondern um ein Interview, in dem die Autorin Fragen zu ihrem von der Kritik hochgelobten Roman Corpus Delicti: Ein Prozess (2009) beantwortet. In Tschechien wurde er im vergangenen Jahr vom Verlag Argo unter dem Titel Ve jménu metody (Im Namen der Methode) veröffentlicht.
Der Roman spielt in naher Zukunft nach einer Epidemie in einer nicht näher spezifizierten Gesellschaft, die freiwillig von einer demokratischen Regierungsform zu einer Gesundheitsdiktatur übergegangen ist. Hier wurde die Gesundheit zu einer Staatsangelegenheit von höchstem Wert erhoben. An der Spitze des Staates steht die Methode, die jedem Bürger ein möglichst langes Leben in Gesundheit garantiert. Allerdings um den Preis, dass sie eine ganze Reihe von persönlichen Freiheiten aufgeben müssen. Jeder ist verpflichtet, regelmäßig Berichte über seine sportlichen Aktivitäten sowie Ernährungs- und Schlaftagebücher bei den Institutionen der Methode einzureichen. Diejenigen, die sich nicht an diese Vorschriften halten, werden gnadenlos bestraft.
Diese Roman-Dystopie erfreute sich in Deutschland großer Beliebtheit, und im Laufe der Jahre erhielt die Autorin immer wieder E-Mail-Anfragen von Leser:innen und später auch von Schüler:innen (der Roman ist inzwischen in mehreren Bundesländern Teil des Deutsch-Lehrplans) zu den Hauptfiguren, der Handlung des Buches und seiner Interpretation. Juli Zeh hat diese konkreten Fragen neu formuliert und zu einer Art "Buch über das Buch" gemacht, in dem sie sie ausführlich beantwortet. Gleichzeitig stellt sie in Fragen andere Themen und Ideen vor, die sie beim Schreiben des Romans grundlegend beeinflusst und inspiriert haben, und diskutiert diese. Sie hat keine Informationen über ihre politischen Ansichten ausgelassen.
Dass Fragen erst elf Jahre nach dem Erscheinen des Romans veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass der Text eine besondere und wichtige Rolle in der Arbeit der Autorin gespielt hat und weiterhin spielt, wie Juli Zeh selbst ausdrücklich bestätigt. Diese Bedeutung hängt ihrer Meinung nach sowohl mit dem Roman selbst - er war ursprünglich ein Theaterstück, und dieses Format stellt höhere Anforderungen an die Strukturierung des Textes - als auch mit den politischen Beweggründen zusammen, die sie zum Schreiben des Romans veranlassten. Sie bemerkt: "Bei Corpus Delicti hatte ich das Gefühl: Dieser Text ist meine Aufgabe, und wenn ich sie nicht erfülle, werde ich es eines Tages bereuen."(S.227)
Die thematische Bandbreite des Romans ist recht groß, was auch dem Umfang der Fragen entspricht. Die Autorin gibt selbst zu, dass es ihr "gar nicht leicht ist, ein Hauptthema zu bestimmen." (S.145), und der aufmerksame Leser des Romans wird ihr wohl zustimmen. Einige Themen scheinen jedoch wesentlicher zu sein.
Das Mittelalter und die Hexenverfolgung
Die Fragen verraten gleich zu Beginn eine interessante Information: dass dem Romantext ein Theaterstück vorausgegangen ist. Es wurde von Juli Zeh für ein Theaterfestival im Jahr 2007 geschrieben, und das Thema des Stücks sollte mit dem Mittelalter verbunden sein. Die Autorin erklärt, dass sie das Thema einer "modernen Hexenverfolgung" fasziniert und sie beschlossen habe, die Geschichte "von einer jungen Frau zu erzählen, die zur Ausgestoßenen wird, ja, zur Staatsfeindin wird". (S. 20) Die Figur der mittelalterlichen Hexe wurde also mit der Rolle einer Person verschmolzen, die eine Art Bedrohung für die Gesellschaft darstellte. Die Geschichte spielt jedoch nicht in der Vergangenheit, sondern, wie im Roman zu lesen ist, irgendwann in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Autorin kommentiert diese zeitliche Verschiebung von der Vergangenheit in die Zukunft mit den Worten von Mia Holl: "Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur". Dies habe es der Autorin ermöglicht, den Text so zu konzipieren, dass er eigentlich "weder von der Vergangenheit noch von der Zukunft" handelt, sondern "auf Veränderungen in unserer heutigen Gesellschaft hinweisen" will (29). Sie fügt hinzu, dass sie sich "um die heutige Mentalität, um aktuelle Veränderungen in Politik und Gesellschaft, um Denkweisen, Weltsichten, Menschenbilder, wie sie jetzt gerade üblich sind. beschäftigt habe. (S. 118) Mit "jetzt" meint sie den Zustand der Gesellschaft vor 13 Jahren, aber man kann sicher nicht sagen, dass irgendetwas davon zwischenzeitlich an Bedeutung verloren hätte. Ganz im Gegenteil! Auf die Frage, warum der Roman in der Mitte des 21. Jahrhunderts spielt, antwortete sie, dass "Das Verlagern der Geschichte in die Zukunft gab mir einfach mehr Freiheit bei der Ausgestaltung der Handlung, und erlaubte einige radikale Zuspitzungen ". (S. 119)
11. September 2001
Obwohl es fast unglaublich klingt, soll das tragische Datum des 11. September 2001 zu einer Art Meilenstein in Juli Zehs schriftstellerischem und bürgerlichem Leben geworden sein. Sie selbst bezeichnet es als den Moment, der im aktivistischen Sinne "zur Geburtsstunde ihres politischen Bewusstseins wurde", obwohl sie sich natürlich schon vorher für Politik interessiert habe (vgl. 160). Von diesem Moment an, sagt sie, hatte sie das Bedürfnis, etwas „zu tun", was im Falle einer Schriftstellerin bedeutet zu schreiben. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit sei danach für sie zu einem sehr wichtigen Thema geworden. Sie wies darauf hin, dass "Sicherheitspolitik" nicht mit der "Einschränkung von [Bürger-]Rechten" und der "Verbreitung von Angst" einhergehen dürfe. Sie stellt kritisch fest, dass es in der gesellschaftlichen Debatte eine umgekehrte Proportionalität gebe - je mehr Sicherheit, desto weniger (bürgerliche) Freiheit. Diese angespannte Beziehung wurde schließlich auch zu einer der Inspirationen für den Roman. Sie sagt wörtlich: "Ohne den 11. September hätte es diesen Text niemals gegeben. Einen Tag zuvor wäre es noch völlig sinnlos erschienen, einen Roman über eine Gesundheitsdiktatur zu schreiben." (S. 161)
Von Gesundheitsbesessenheit zur Gesundheitsdiktatur
Wie der Text der Fragen zeigt, spielte die Gesundheit - als "Synonym für Sicherheit" - eine weitere entscheidende Rolle bei der Konzeption des Romans. Juli Zeh sieht dieses Thema jedoch in einem breiteren Kontext. Unter anderem kritisiert sie den heutigen Trend der "Gesundheitsbesessenheit", bei dem für viele Menschen "Gesundheit, Fitness, ein schönes und jugendliches Aussehen und gesunde Ernährung" zum Hauptanliegen im Leben geworden sind, dem sie den Großteil ihres Tuns unterordnen. Dazu sagt er wörtlich: "Eine Gesellschaft, die Gesundheit zum Erfolgsprinzip erklärt und Krankheit als eine Form von Versagen ansieht, erscheint mir auf dem besten Weg, inhuman und unsolidarisch zu werden." (S. 92) Und dann weist sie darauf hin, dass "es darauf ankommt, wer sich um wessen Gesundheit kümmert und warum". Sie sieht ein grundsätzliches Problem darin, wenn das Thema Gesundheit politisiert wird, d. h. wenn z. B. ein Mensch, der krank geworden ist, weil er nicht gesund gelebt hat, als "soziale Belastung" angesehen wird. Es darf nicht die Aufgabe des Bürgers sein, "gesund zu bleiben". (147nn) Außerdem gebe es eine Reihe guter Gründe, warum sich der Staat nicht "übermäßig mit der Gesundheit seiner Bürger zu befassen" sollte. (149) In diesem Zusammenhang bezieht sie sich auf den Begriff der "Biopolitik", wie er von dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben in seinem Buch Homo sacer (Nr. 2011, OIKOYMENH) beschrieben wird. Dieser diskutiert hier die Beziehung zwischen dem "biopolitischen Modell der Macht" (Agamb.:14) und totalitären Systemen, insbesondere dem Faschismus und dem Nazismus (Agamb.:128). In Fragen hebt Juli Zeh besonders seine Vorstellung hervor, dass jede enge Verbindung des Staates mit dem menschlichen Körper zum Totalitarismus führt. (vgl. 98) Im Roman Corpus Delicti spiegeln sich all diese Motive im Bild der so genannten "Gesundheitsdiktatur" wider. Hier hat die Gesundheit "nicht nur einen individuellen, sondern auch einen gesellschaftlichen und politischen Wert" erhalten. (31) Diese wird hier als das "höchste Gut" des Menschen betrachtet. Ziel einer rigorosen Prävention ist es, Krankheiten endgültig auszurotten und dafür zu sorgen, dass alle Bürger vollkommen gesund sind. Nach Ansicht von Juli Zeh ist dies jedoch nicht möglich, ohne den Menschen "das Menschliche am Menschen aufzuheben." (106)
Der Staat als Aufpasser
Eng verbunden mit der Gesundheitsdiktatur ist das Motiv des "Überwachungsstaates" oder des "Überwachungssystems", wie es in der Romandiktatur der Fall ist. Juli Zeh betrachtet die verschiedenen Formen der Bespitzelung von Bürgern als eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Dies gilt auch für die Gleichgültigkeit, mit der die Bürger den Gefahren begegnen, die diese Systeme bergen. Er ist besorgt über die häufige Meinung von Menschen, die keinen Grund sehen, gegen Überwachung zu protestieren, wenn sie nichts zu verbergen haben. "Es ist gut, dass sich der Staat um die Sicherheit und Gesundheit seiner Bürger kümmert!" Schließlich dient das alles "einem guten Zweck".
Juli Zeh macht auch auf die Art und Weise darauf aufmerksam, wie wir mit unserer Privatsphäre in den sozialen Medien umgehen. In diesem Zusammenhang spricht sie sogar von einem "erschreckenden Ausmaß an Selbstentblößung". (46)
Diese Überlegungen führten dann zu ihrer Vorstellung von einem Staat, in dem die herrschende Methode eine große Menge an biologischen Daten über seine Bürger sammelt, zum Beispiel durch Sensoren in Toiletten oder am Straßenrand. Der absoluten Überwachung der Bürger dient ein Chip, den sich jeder zwangsweise in den Arm implantieren lässt und der alle persönlichen Daten enthält. Dennoch scheinen diese Menschen in bester Harmonie mit dem staatlichen Establishment zu leben. Natürlich mit einigen Ausnahmen, wie zum Beispiel Moritz Holl.
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Juli Zeh bringt in den Fragen ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck, dass Ideen, die den traditionellen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit grundlegend widersprechen, in der Gesellschaft allmählich an Boden gewinnen. Im Zusammenhang mit dem internationalen Terrorismus seien plötzlich Stimmen laut geworden, die die Einführung eines "Feindstrafrechts" forderten, mit dem Verdächtige außerhalb der normalen Rechtsordnung behandelt werden könnten. (38) Jede Einschränkung der demokratischen Ordnung öffnet jedoch den Weg für Totalitarismus. Und genau auf diese totalitären Tendenzen wollte sie mit der fiktiven Figur des Kramer hinweisen, der als Chefideologe der Methode eine Art modernen Inquisitor darstellt. (39) Gleichzeitig schildert sie in ihrem Roman Corpus Delicti ein Staatssystem, das die Prinzipien der Staatlichkeit aufgegeben hat und zu einer Diktatur geworden ist. Ein solches System kann ihrer Meinung nach nur um den Preis der Unterdrückung aufrechterhalten werden. (90) Dies zeigt der Fall von Mia Holl, die aufgrund einer konstruierten Anklage inhaftiert, aller ihrer Bürgerrechte beraubt und auf ein "einfaches Leben" reduziert wird. Auch hier folgt Juli Zeh den Theorien Agambens und seinem Begriff des "homo sacer". (Agamb.:75nn) Dem Autor zufolge steht Mia in dem Moment, in dem sie sich den Chip aus dem Arm schneidet, endgültig außerhalb des Systems und wird zu jener "heiligen Person", die ungestraft getötet werden kann. (100)
Der Roman Corpus Delicti ist in der Komplexität seiner Themen ein wirklich einzigartiges Werk. Und es ist sicher nicht notwendig, es in allen Einzelheiten zu verstehen, um das Leseerlebnis zu genießen. Dennoch sollte die Absicht der Autorin hier erwähnt werden. Mit ihrem Roman wollte sie unter anderem erreichen, dass die Leser "sich fragen, was ihnen wirklich wichtig ist, was sie zu Menschen macht, was ihre Identität bestimmt und wie das 'gute Leben' für sie aussehen könnte" (103).
© Michael Půček
[1] Zitat. hier und im Folgenden nach: Zeh, Juli: Fragen zu Corpus Delicti. btb Verlag, München, 2020.
Werk (Auswahl)
- Adler und Engel, Schöffling 2001. Tschechisch: Orli a andělé. Übersetzt von Jana Zoubková, Odeon 2004
- Spieltrieb, Schöffling 2004. Tschechisch: Hráčský instinkt. Übersetzt von Jana Zoubková, Odeon 2006
- Schilf, Schöffling 2007. Tschechisch: Temná energie. Übersetzt von Jana Zoubková, Odeon 2009
- Corpus Delicti: Ein Prozess, Schöffling 2009. Tschechisch: Ve jménu Metody. Übersetzt von Michael Půček, Argo 2021
- Nullzeit, Schöffling 2012. Tschechisch: Pod vodou. Übersetzt von Jana Zoubková, Host 2015
(geb. 1966), Übersetzer
Michael Půček studierte Germanistik und Bohemistik an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag und absolvierte ein postgraduales Studium in Computerlinguistik. Er stellte auch vergleichende Forschung zum deutschen und tschechischen Satzbau an und war als Lektor für Deutsch und Tschechisch tätig. Er ist Co-Autor des großen Deutsch-Tschechischen und Tschechisch-Deutschen Wörterbuchs. Seit einigen Jahren widmet er sich dem literarischen Übersetzen.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung
Michael Půček studierte Germanistik und Bohemistik an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag und absolvierte ein postgraduales Studium in Computerlinguistik. Er stellte auch vergleichende Forschung zum deutschen und tschechischen Satzbau an und war als Lektor für Deutsch und Tschechisch tätig. Er ist Co-Autor des großen Deutsch-Tschechischen und Tschechisch-Deutschen Wörterbuchs. Seit einigen Jahren widmet er sich dem literarischen Übersetzen.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung
Die Schauspielerin Karolína Půčková liest aus der tschechischen Übersetzung des Romans Corpus Delicti: Ein Prozess.