Von und über Norbert Scheuer
Der Roman Winterbienen bezieht sich auf das reale Leben eines Mannes, der aus dem Eifeler Bergland in Westdeutschland stammt und dessen Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg hier noch heute bekannt ist. Der Roman wurde von seinem Landsmann, dem deutschen Schriftsteller Norbert Scheuer (geb. 1951), adaptiert. Er begann seine literarische Karriere in den 1990er Jahren mit Kurzgeschichten- und Gedichtsammlungen und wurde dann mit seinen Romanen, für die er mehrfach für den Deutschen Buchpreis nominiert war, auch hierzulande bekannt. Der Roman Winterbienen ist sein erstes ins Tschechische übersetzte Buch, erschienen im Verlag Prostor und übertragen von Jitka Nešporová.
Der Roman besteht aus den Tagebuchaufzeichnungen des Imkers Egidius Arimond und umfasst den Zeitraum von Anfang 1944 bis Kriegsende. Egidius versucht, so gut es geht mit seinem Lebensschicksal einer Erbkrankheit zurechtzukommen. Nach der Nazi-Ideologie ist er eine Belastung für die Gesellschaft, und obwohl sein Bruder Alfons, ein Pilot aus dem Krieg, seine schützende Hand über ihn hält, ist er dennoch von Euthanasie bedroht. Er muss sein eigenes Geld verdienen, um Medikamente zu kaufen, wenn der Apotheker sie ihm überhaupt verkauft, und so bringt er heimlich jüdische Flüchtlinge in Bienenstöcken an die belgische Grenze. Dank seiner hervorragenden Kenntnisse der Landschaft verfügt er über ein ausgeklügeltes System von Verstecken und Routen. Die Möglichkeit, die Bienenstöcke nur nachts zu transportieren, wenn die Bienen nicht aktiv sind, gibt ihm eine gute Ausrede, um bei eventuellen Kontrollen keinen Verdacht zu erregen.
Gleichzeitig nutzt Egidius den Umstand, dass es in der Stadt kaum Männer gibt, und vergisst seine Nöte in den Armen der vielen Frauen. Egidius' Leben scheint dem Schicksal seines Vorfahren, des Benediktinermönchs Ambrosius, zu folgen, dessen Schicksal Egidius in der örtlichen Bibliothek nachspürt und lateinische Fragmente übersetzt, die der Mönch im 15. Jahrhundert niederschrieb. Ambrosius begann in der Region mit der Imkerei, aber seine Leidenschaft für Frauen zwang ihn, den Orden zu verlassen, und wahrscheinlich hielt bereits mit ihm die Epilepsie Einzug in seine Familie gehalten.
Das geordnete Leben der Bienen und die sinnlose Welt des Krieges
Egidius beschreibt in seinen Notizen auch sehr detailliert den Lebenszyklus der Bienen, ihr Verhalten und die Organisation ihrer Gemeinschaft. Die Parallelen zwischen dem organisierten Leben der Bienen, in dem jedes Individuum eine klare Rolle hat, und dem unfassbaren Sturm des Krieges, der sinnlos tötet, werden in dem Buch eindrucksvoll zusammengeführt.Sinn ist das, was Egidius in der Imkerei sucht. Die Organisation des Bienenvolkes beruhigt ihn, und Egidius macht aus seiner Bewunderung keinen Hehl: "Die Bienen arbeiten in sehr komplexen Systemen zusammen. Sie können nicht eine ganze Kolonie umorganisieren, sie können nicht einfach die Königin töten und eine Republik ausrufen. Es hat Millionen von Jahren gedauert, bis sie sich zu dem heutigen System organisiert haben". (S. 21) Außerhalb des Bienenstocks gibt es einfach keinen Sinn, die Menschen sterben oder werden um des Bienenstocks willen getötet, während die Bienen, die die Drohnen nach der Befruchtung töten, dies zum Wohle des gesamten Bienenstocks tun.
Obwohl Egidius versucht, sich so weit wie möglich von der Welt der Bienen abzuschotten, belastet ihn der Krieg mehr und mehr. Diese Unfähigkeit, der Außenwelt zu entfliehen, wird in dem Buch durch die Illustrationen des Sohnes des Autors, Erasmus, gut dargestellt - sie zeigen überhaupt keine Bienen, sondern nur Kampfflugzeuge, von denen nach und nach immer mehr über der Landschaft auftauchen. Mit dem zunehmenden Lärm wächst auch der Schrecken in Egidius´ Leben. Obwohl er mit dem Transport der Flüchtlinge Geld für Medikamente verdienen kann, gibt es niemanden mehr, der sie ihm verkauft. Am Ende des Krieges hat er keine Medikamente mehr, und der Autor beschreibt sehr eindringlich den Zerfall seiner Persönlichkeit und die extreme Verzweiflung, in der Egidius sogar mit einer Waffe zum Apotheker geht. Sein einziger Trost ist in diesem Moment das Geräusch der Bienen.
Er gleitet nicht ins Klischee ab
Der Roman bewegt sich in einem langsamen, fast unheimlich ruhigen Tempo vor dem Hintergrund des Krieges und schildert fast die ganze Zeit über Egidius´ Leben auf sehr lebendige Weise. Diese Struktur bricht jedoch in der letzten Phase des Romans langsam auf, als Egidius aufgrund von epileptischen Anfällen aufhört, sich selbst und die Ereignisse um sich herum wahrzunehmen. An diesem Punkt werden die Tagebucheinträge für den Autor unzureichend, da Egidius sich an fast nichts mehr erinnert. Es ist daher schwer zu glauben, dass er in der Lage ist, seinen Tag im Nachhinein oder sogar kontinuierlich zu erfassen, wenn er in einem Moment darüber schreibt, dass er seine Lebensgefährtin geschlagen hat, und im nächsten nicht sicher ist, ob er es tatsächlich getan hat.
Trotz dieser kleinen Mängel ist der Roman jedoch eine sehr interessante Lektüre. Die in Winterbienen geschilderte Geschichte könnte leicht als Stoff für einen spannenden Kriegsroman dienen. Der Autor glitt jedoch nicht in Klischees ab, und die Themen Krieg und Flüchtlingshilfe werden im Buch nur als notwendiger Teil der persönlichen Geschichte erwähnt. Der Roman ist unaufdringlich und schildert die Lebensnöte des Protagonisten fast beiläufig als Parallele zum faszinierenden Leben der Bienen und den historischen Schriften des Mönchs Ambrosius. Kurzum, Winterbienen ist eine Geschichte der Hoffnung, der Suche nach einem Sinn selbst in der seltsamsten Welt des Leidens.
© Nikola Sedlonova
Der Text ist in Zusammenarbeit mit dem Literaturmagazin iLiteratura entstanden.
Nur wenige zeitgenössische Romane werden von zwei Dutzend Seiten mit verschiedenen Metatexten begleitet, die der Autor selbst verfasst hat. Die Autoren fiktionaler Welten geben oft zu, von realen Ereignissen inspiriert worden zu sein, die ehrlicheren geben Zitate an, und dann wird das Kunstwerk in den Köpfen der Leser und in den Überlegungen der Interpreten oder Literaturpublizisten lebendig, die Verbindungen aufspüren und erfinden, spekulieren und verschiedene versteckte Anspielungen interpretieren. Es liegt zweifellos im Ermessen des Autors, ob er den "Text an sich" in die Welt hinausschickt oder ob er ihn mit Anmerkungen, Erläuterungen und Kommentaren versieht. Immerhin – der Leser kann sie dann im Buch überspringen. Wer sich das keinesfalls herausnehmen kann, ist der "ideale Leser", d.h. der Übersetzer oder die Übersetzerin, der bzw. die dann als Suchende:r nach einem Äquivalent in der Zielsprache die Rolle des neuen Texterstellers übernimmt.
Ein Roman mit Apparat
Der deutsche Schriftsteller Norbert Scheuer hat seinen Roman Winterbienen (2019, tsch. 2021) mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat versehen. Dem Buch ist ein erklärender Text vorangestellt, in dem der Autor die Motive und Gründe zusammenfasst, die ihn zum Schreiben des Romans veranlasst haben: Er wurde von Einheimischen eingeladen, die Geschichte eines Landsmannes nachzuerzählen, der während des Zweiten Weltkriegs Juden rettete, indem er sie in Bienenstöcken zur belgischen Grenze transportierte. Der Mann führte ein Tagebuch, das Norbert Scheuer aufbewahrte und das auch im Buch erwähnt wird, als Teil einer Liste von Literatur, Filmen und anderen Informationsquellen, die er während seiner Recherchen für den Roman studierte. Ein separater Punkt ist ein Verzeichnis der belegten lateinischen Zitate – und der Autor merkt außerdem an, dass er offenbar unbewusst eine Reihe von uneingestandenen Verweisen auf andere literarische Werke in den Roman eingewoben hat und dankt seinen Lesern im Voraus dafür, dass sie diese Detektivarbeit übernommen und bestimmte Fälle aufgedeckt haben.
Die zwölf lateinischen Zitate erscheinen im Roman im Original, aber der Autor kommt seinen Lesern entgegen – er gibt die deutsche Übersetzung sofort in einer Fußnote an und wiederholt und ergänzt die Quelle des Zitats am Ende des Buches. Ähnlich freundlich geht er mit seinen Lesern um, wenn er einige Fachbegriffe oder Dinge erklärt, die im Roman eine wichtige Rolle spielen. Am Ende des Buches finden die Leserinnen und Leser ein Glossar, in dem zum Beispiel folgende Einträge zu finden sind: Konfiteur, Kamm, Winterhilfswerk, Hausierer, Jupp, Abkommandierung, Urbarium, Würzburg-Radar.Bienen, Bergleute, Piloten und Kleriker
So führt der belesene Autor mit Hang zum Akribischen den Leser in die Funktionsweise des Superorganismus Biene (und da es sich um die Tagebuchaufzeichnungen eines Imkers handelt, versteht es sich von selbst, dass der Imker alles fachgerecht benennen kann und alle Zusammenhänge versteht), in die Morphologie der Landschaft im ehemaligen Bergbaugebiet (die er als Einheimischer genau kennt) und in das System der Schächte, der unterirdischen Gänge, Höhlen und Grotten, die er nutzt, um Flüchtlingstransporte zu organisieren), Kriegstechnik (da der Bruder des Erzählers ein erfolgreicher Luftwaffenpilot ist und sich beide Brüder seit ihrer Kindheit für Raumfahrt und Flugzeuge interessieren), aber auch in die regionalen und zeitgenössischen Begriffe, die in der Eifel während des Zweiten Weltkriegs verwendet wurden (der bereits erwähnte Jupp oder der Goldfasan) und die Erscheinungsformen der Epilepsie (an der der Protagonist leidet und somit aus eigener Erfahrung berichtet) ein. Diese Koordinaten markieren die Gegenwart des Erzählers, d. h. die Mitte der 1940er Jahre, als der Zweite Weltkrieg seinen Höhepunkt erreicht.Der Erzähler der Geschichte ist ein Lateinlehrer an einem Gymnasium, der seine Sprachkenntnisse nutzt, um lateinische Fragmente zu übersetzen, die im 15. Jahrhundert von seinem Vorfahren, dem Mönch Ambrosius, aufgezeichnet wurden. Der Lehrer sucht in der örtlichen Bibliothek nach seiner Geschichte und stößt dabei auf die spannende Geschichte der Rettung des Herzes von Kardinal Nicolaus Cusanus, der auf dem Weg nach Ancona, Italien, starb. Norbert Scheuer verwebt die Übersetzungen der lateinischen Fragmente mit der Haupthandlung des Romans – und lässt den Leser in der archaischen Sprache der mittelalterlichen Dokumente schwelgen.
Jedes Wort zählt
Beim Lesen fließt alles leicht dahin, und jeder Satz, jedes gewählte Wort klingt natürlich, der Leser vermisst selten einen Ausdruck, dessen ungefähre Bedeutung sich nicht aus dem Kontext ergibt. Neben den angedeuteten Themen gibt es natürlich wie in jedem guten Roman viel Raum für Liebe und "Stille" zwischen den Zeilen. Damit meine ich eine gewisse schriftstellerische Disziplin: Der Roman ist trotz seiner großen Motivfülle relativ unartikuliert, die Tagebucheinträge sind kurz, und obwohl sich die Handlung des Romans vor dem Hintergrund von Alltagsbeschreibungen entwickelt, stört die Wiederholung nicht, weil sie nur angedeutet wird. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht den Anschein hat, füllen die fast dreihundert gedruckten Seiten nur etwa 150 Standardseiten an Text.
Es kommt also auf jedes Wort an, hier geht nicht viel in der Übersetzung verloren. Die entscheidende Wahl eines angemessenen Äquivalents findet typischerweise auf Wortebene statt (wie im Fall der Kriegslexik, der Bergbau- oder Bienenzuchtterminologie), betrifft aber auch die Morphologie, die Wortstellung und den allgemeinen Ton des Textes, um die Sprache der lateinischen Originalfragmente zu archaisieren. Wörterbücher sind in einem solchen Fall unzureichend; die einzige und unschätzbare Hilfe kann dann von Experten geleistet werden, die mit dem Thema vertraut sind.
Lob für Expertenwissen
Ich möchte mich noch einmal bei Doz. Robert Adam, der sich als langjähriger Hochschullehrer an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität u. a. mit der Morphologie des zeitgenössischen und älteren Tschechisch beschäftigt, bedanken, er hat die übersetzten Passagen mit den Notizen des Mönchs Ambrosius wiederholt gelesen und kommentiert. Ich bat Dr. Martin Pokorný und Ladislav Kylar um Rat zur "Qual der Wahl", unter anderem bei der Wahl des Namens des mittelalterlichen Denkers und Kardinals Nicolaus Cusanus, der auch als Nicolaus von Kusa/Cues oder Kusánus/Cusanus bezeichnet wird, während Kristina Hellerová, Jan Lukavec und Milena Přecechtělová mir bei der Suche nach lateinischen Zitaten in den tschechischen Ausgaben der Klassiker halfen. Michael Rund, Direktor des Museums in Sokolov, half mir zusammen mit weiteren Bergbauexperten in zahlreichen Telefongesprächen und E-Mails, die ruhrgebietsspezifischen Fördertürme und Grubenbaue adäquat zu benennen. Die Besatzung des Flugzeugs korrekt als Crew (und nicht als Besatzung) zu bezeichnen, die Möglichkeit zu haben, die Motor- und Bewaffnungsvarianten des Flugzeugs zu verifizieren, dessen detaillierte technische Beschreibung von dreizehn Illustrationen des Sohnes des Autors, Erasmus Scheuer, begleitet wird, oder im Roman solche Wendungen wie das Alter des Wehrpflichtigen, die Begradigung der Front, die leichten Flugbahnen der Leuchtspuren anzuwenden – das verdanke ich der Fachkompetenz von Dr. Jiří Rajlich, dem Direktor der Abteilung für Geschichte und Dokumentation des Militärhistorischen Instituts. Großer Dank gebührt der Familie Pardus, namentlich dem Imker Ivo, der mit mir alle Kapitel und Abschnitte durchging, die sich mit dem zentralen Thema des Buches befassen: Bienen und Imkerei. Und was oft vergessen wird: Ein großer Teil der Arbeit an jedem Buch wird von der Lektorin geleistet; für ihre sorgfältige Lektüre und ihr unermüdliches Einfordern einer treffenderen Übersetzung danke ich Marta Eich.
Der Roman Zimní včely (Winterbienen) erschien 2021 als erster Band der Edition Zeitgenössische Prosa der Welt im Verlag Prostor. Möge er auch Ihnen gefallen!
– Winterbienen. Verlag C.H.Beck 2019. Tschechisch: Zimní včely. Übersetzt von Jitka Nešporová. Prostor 2021
– Der Hahnenkönig. Kulturreferat Kreis Euskirchen 1994
– Ein Echo von allem. Verlag v. Hase & Koehler 1997
– Eifel Landschaften. Mit Jochen Arlt und Conrad Peter Joist. Wolkenstein Verlag 2000
– Der Steinesammler. Schöffling & Co. 1999
– Flußabwärts. C. H. Beck 2002
– Kall, Eifel. C. H. Beck 2005
– Überm Rauschen. C. H. Beck 2009
– Bis ich dies alles liebte. C. H. Beck 2011
– Peehs Liebe. C. H. Beck 2012
– Die Sprache der Vögel. C. H. Beck 2015
– Am Grund des Universums. C. H. Beck 2017
Jitka Nešporová studierte Bohemistik und Übersetzen und Dolmetschen mit der Sprachkombination Tschechisch/Deutsch an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag. 2014 promovierte sie mit einer Arbeit über die Übersetzungen von Ludvík Kundera. Sie ist Redakteurin der Online-Literaturzeitschrift iLiteratura.cz. Sie ist tätig als Literaturkritikerin, Moderatorin und Übersetzerin. Sie übersetzt zeitgenössische deutsche Prosa, u.a. auch Texte von Stipendiat*innen des Prager Literaturhauses deutschsprachiger Autoren sowie Bücher von Gunther Geltinger, Catalin Dorian Florescu, Vey Kaiser, Angelika Overath und Leo Tuor. Sie lebt mit ihrer Familie in Prag.
Übersetzte Werke