Von und über Siegfried Lenz
Siegfried Lenz, der 1926 in Lyck, einer kleinen Stadt im masurischen Ostpreußen geboren wurde und 2014 in Hamburg gestorben ist, zählt seit langem zu den bedeutendsten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur.
Nachdem Lenz aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, ging er nach Hamburg und studierte Philosophie, Anglistik und deutsche Literaturgeschichte, ehe er 1950/51 als Redakteur für Die Welt arbeitete. Seit 1951 lebte er als freier Schriftsteller in Hamburg. Bereits mit seinem ersten Roman Es waren Habichte in der Luft gelang es ihm, die Kritik und die Leser für sich einzunehmen, und bis heute zeichnet sich Lenz' Werk durch eine beeindruckende Verknüpfung menschlicher Schicksale und aktueller gesellschaftlichen Fragen.
Weite Teile des Lenzschen Werkes sind geprägt durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Problemen (etwa die Romane Der Mann im Strom, 1957, oder Brot und Spiele, 1959, einer der wenigen geglückten Sportromane der deutschen Literatur) und mit dem Dritten Reich bzw. seiner Verarbeitung. Zu Lenz' größtem Erfolg wurde dabei der 1968 erschienene Roman Deutschstunde.
Siegfried Lenz wurde u.a. der Friedenspreis der deutschen Buchhändler verliehen (1988), sowie der Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main (1999) und der Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte (2009).
Nachdem Lenz aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, ging er nach Hamburg und studierte Philosophie, Anglistik und deutsche Literaturgeschichte, ehe er 1950/51 als Redakteur für Die Welt arbeitete. Seit 1951 lebte er als freier Schriftsteller in Hamburg. Bereits mit seinem ersten Roman Es waren Habichte in der Luft gelang es ihm, die Kritik und die Leser für sich einzunehmen, und bis heute zeichnet sich Lenz' Werk durch eine beeindruckende Verknüpfung menschlicher Schicksale und aktueller gesellschaftlichen Fragen.
Weite Teile des Lenzschen Werkes sind geprägt durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Problemen (etwa die Romane Der Mann im Strom, 1957, oder Brot und Spiele, 1959, einer der wenigen geglückten Sportromane der deutschen Literatur) und mit dem Dritten Reich bzw. seiner Verarbeitung. Zu Lenz' größtem Erfolg wurde dabei der 1968 erschienene Roman Deutschstunde.
Siegfried Lenz wurde u.a. der Friedenspreis der deutschen Buchhändler verliehen (1988), sowie der Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main (1999) und der Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte (2009).
Ein Mann, der Verrat beging, oder ein Mann, der verstanden hat?
Wenngleich Siegfried Lenz (1926–2014) zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur gehörte und seine wichtigsten Werke für tschechische Leser bereits vor 1989 erhältlich waren, steht sein Name in Tschechien etwas im Schatten seines Zeitgenossen Günter Grass oder des etwas älteren Heinrich Böll, deren Werke auch nach 1989 in tschechischer Sprache erscheinen, während Lenz aus den Editionsplänen der Verlage verschwand. Doch der etwas in Vergessenheit geratene Klassiker sorgte in deutschen Literaturkreisen posthum für eine Sensation, als Archivare in seinem Nachlass die Handschrift des Romans Der Überläufer entdeckten, den Lenz´ Hausverlag im Jahre 1952 nicht veröffentlichen wollte und der anschließend in der Versenkung verschwand. Der Überläufer wurde auf dem deutschen Markt zu einem Beststeller, und die ARD strahlte dieses Jahr im Frühjahr anlässlich des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs eine zweiteilige TV-Verfilmung unter der Regie des Oscar gekrönten Regisseurs Florian Gallenberger aus. Auf den tschechischen Markt gelangte Lenz´ zweiter und doch zuletzt herausgegebener Roman in der Übersetzung von Petr Dvořáček im Verlag Prostor.
Der Hauptheld des Buches ist der deutsche Soldat Walter Proska, der nach seiner Gefangennahme durch Partisanen beschließt, auf der Seite der Roten Armee zu kämpfen. Unter Verwendung dieses im Grunde einfachen Plots, der trotz anfänglicher positiver Reaktionen des Verlegers schließlich zum Haupthindernis dessen wurde, dass der Roman damals erscheinen konnte, denkt der Verfasser vor allem mit Hilfe von Dialogen der Charaktere über die Bedeutung von Begriffen wie Patriotismus, Soldatenehre, Gewissen und Moral nach, ebenso darüber, wie einfach diese von einer kleinen Clique Auserwählter zur Beherrschung der Massen und Erreichung der eigenen Machtziele missbraucht werden können. Und dies alles vor der Kulisse unendlicher sumpfiger Wälder des heutigen polnisch-weißrussisch-ukrainischen Grenzgebiets, wo eine ganze Division spurlos verschwinden könnte.
Die Soldaten einer kleinen abgeschnittenen Einheit unter der Leitung eines primitiven, sich in Schikane sonnenden Unteroffiziers sind den Mücken und den Partisanen gleichermaßen ausgeliefert und haben bereits die Hoffnung verloren, sie würden je wieder aus dem unendlichen Wald herausfinden. Ihre Pflichten erfüllen sie nur aus einer Art Trägheit heraus mit dem Bewusstsein, dass die Lage nur schlimmer werden kann, wenn sie nicht vorher Partisanen zum Opfer fallen. Die Gefangennahme der gesamten Einheit durch eine zahlenmäßig stärkere Partisanentruppe stellt für sie zwar keine Erlösung dar, ist andererseits jedoch keine große Überraschung.
Die Gefangenschaft verleiht Proska den Mut, sich endgültig zu entscheiden und sich dieser nicht näher definierten Clique Auserwählter, die er in seinen Überlegungen dafür verantwortlich macht, das deutsche Volk ins Kriegselend gestürzt zu haben, zu widersetzen. Die Gefühlslage des Protagonisten ist nicht leicht zu verstehen, er wird nicht wegen sofortiger Vorteile, die ihm der Seitenwechsel bringen kann, zum Überläufer, und auch nicht, um der Hinrichtung zu entgehen; gleichzeitig aber führen ihn zu einer aktiven Beteiligung an den Kämpfen auf der anderen Seite der Front auch nicht Sympathien für das kommunistische System, über dessen Wesen er sich keine Illusionen macht. Eine der letzten Szenen des Buches, wo Proska zufällig bei heimkehrenden deutschen Kriegsgefangenen auftaucht und bei ihrem Anblick bedauert, dass sie nicht die Kraft und vor allem die Gelegenheit hatten, sich genauso zu entscheiden wie er, trotzdem zeigt dies, dass seine Denkweise den anderen Soldaten fremd ist. Zutage tritt dies vor allem in dem Moment, wo er einen Kameraden aus seiner Einheit wiedersieht, diese Schilderung kann man gleichzeitig auch als Symbol des Bemühens der gesamten deutschen Gesellschaft interpretieren, den Krieg so schnell wie möglich zu vergessen. Wie sich anschließend zeigt, gewinnt Proska auch nicht das Vertrauen der Befehlshaber der Roten Armee, und auch sein Bemühen, sein Handeln zumindest den engsten Verwandten zu erklären, läuft ins Leere.
Der Überläufer enthält eine Reihe von unerwarteten Wendungen und spannenden Momenten. Ein Leser, der auch andere literarische Werke kennt, die an der Ostfront verortet sind, kennt einige Motive bereits und wird diese vielleicht als Klischee wahrnehmen (ein unfähiger, dafür aber umso selbstbewussterer Befehlshaber; ein nach außen zartes Mädchen, tatsächlich aber eine Partisanin, die es gewohnt ist zu töten; ein Soldat, der stirbt, ohne dass ihn die Nachricht von der Geburt seines Sohnes erreicht u. ä.), allerdings muss man berücksichtigen, dass der Romantext Anfang der fünfziger Jahre entstand, man kann also nicht behaupten, dass sich Lenz an von anderswo bekannten Motiven bedient hat. Das Hauptziel des Textes besteht trotz allem darin, die Gedankengänge aufzuzeigen, die Proska schließlich zur Roten Armee führen. Das häufigste Mittel, mit dem Lenz Proskas Gedanken zum Ausdruck bringt, sind Dialoge mit anderen Soldaten, durch die auch die inhaltlich anspruchsvollen Passagen gut lesbar bleiben, eine Reihe von erhabenen bis abstrakten Überlegungen präsentiert der Autor dem Leser in einer einfachen Sprache, wie sie unter den Soldaten üblich war.
Der Roman ist von der Handlung und vom Aufbau her in zwei Teile zu gliedern, wobei diese Gliederung auch von der erwähnten TV-Bearbeitung beibehalten wird. Der erste Teil spielt innerhalb weniger Tage und endet mit der Gefangennahme von Proskas Einheit. Gerade hier lässt sich in psychologisch überzeugender Form die Richtung verfolgen, in die die Überlegungen und Gedanken des Protagonisten laufen und wie sich Proskas Entschlossenheit formiert, die Seiten zu wechseln. Der zweite Teil widmet sich einem längeren Zeitabschnitt, im Grunde handelt es sich um eine Abfolge von frei aneinander anschließenden Episoden, an denen der Autor zeigt, welche Folgen Proskas Entscheidung für ihn persönlich hatte. Der Akt selbst, wo Proska den verantwortlichen feindlichen Offizier aufsucht und versucht, ihn von der Aufrichtigkeit seiner Absicht zu überzeugen, wird im Roman nicht beschrieben (im Unterschied zur TV-Version, wo diese Situation sehr suggestiv geschildert wird). Das Fehlen der Szene lässt eine ganze Reihe von Interpretationen zu – vielleicht wollte Lenz andeuten, dass man nie ganz in die Gedanken eines anderen Menschen hineinblicken kann? Oder wollte er nicht in eine zu detailliertere Beschreibung der internen Strukturen und Entscheidungsprozesse in der Roten Armee abgleiten? Oder hat er die Szene einfach nicht zu Ende geschrieben, nachdem die Arbeitsversion seines Romans vom Verlag abgelehnt worden war? Das werden wir wahrscheinlich nie mehr erfahren.
Ebenso kann ein interessierter Leser die Frage stellen, was der Autor damit beabsichtigt hat, dass er vielen handelnden Personen Namen gab, die mit W beginnen, doch auch hier sind wir weiterhin auf mehr oder weniger qualifizierte Vermutungen angewiesen. Sollten vielleicht die polnischen oder deutschen Namen auf W an die uralte Koexistenz des deutschen und des polnischen Elements auf dem Gebiet, auf dem die Romanhandlung spielt, zu erinnern? In diesem Falle wäre das W eine recht logische Wahl, denn das häufige Vorkommen ist für beide Sprachen – im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der anderen europäischen Sprachen – typisch. Es ist auch möglich, dass Lenz mit dem Buchstaben W auf das alte germanische Symbol der Wolfsangel verwies, das als Zeichen für den Freiheitskampf verstanden wird.
Von der Position eines materiell abgesicherten, nicht durch Krieg bedrohten und in einer Demokratie lebenden Menschen ist es sehr einfach, über einen gewöhnlichen Soldaten, der von den Mühlsteinen des größten Kriegskonflikts in der Geschichte zermalmt wurde und der trotzdem versuchte, der Stimme seines Gewissens zu folgen, zu urteilen. Viel komplizierter ist es, seine Handlungsweise zu verstehen und in der gesamten Breite die Folgen zu sehen, die die einmal getroffene Entscheidung für sein weiteres Leben brachte. Der Überläufer ist ein Roman über das Schicksal eines Menschen, der um nichts glücklicher, besser und wohl auch nicht mutiger ist als sein Umfeld, aber doch eines Menschen, der sich nicht mit der allgemein verbreiteten Apathie abfinden wollte und von seinem Gewissen getrieben das tun wollte, was er für richtig hielt.
© Martin Liška
Der Autor ist Publizist und Historiker, Redakteur des Internetmagazins iLiteratura.
Die Buchbesprechung ist in Zusammenhang mit dem digitalen Literaturmagazin iLiteratura entstanden.
Wenngleich Siegfried Lenz (1926–2014) zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschen Nachkriegsliteratur gehörte und seine wichtigsten Werke für tschechische Leser bereits vor 1989 erhältlich waren, steht sein Name in Tschechien etwas im Schatten seines Zeitgenossen Günter Grass oder des etwas älteren Heinrich Böll, deren Werke auch nach 1989 in tschechischer Sprache erscheinen, während Lenz aus den Editionsplänen der Verlage verschwand. Doch der etwas in Vergessenheit geratene Klassiker sorgte in deutschen Literaturkreisen posthum für eine Sensation, als Archivare in seinem Nachlass die Handschrift des Romans Der Überläufer entdeckten, den Lenz´ Hausverlag im Jahre 1952 nicht veröffentlichen wollte und der anschließend in der Versenkung verschwand. Der Überläufer wurde auf dem deutschen Markt zu einem Beststeller, und die ARD strahlte dieses Jahr im Frühjahr anlässlich des 75. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs eine zweiteilige TV-Verfilmung unter der Regie des Oscar gekrönten Regisseurs Florian Gallenberger aus. Auf den tschechischen Markt gelangte Lenz´ zweiter und doch zuletzt herausgegebener Roman in der Übersetzung von Petr Dvořáček im Verlag Prostor.
Der Hauptheld des Buches ist der deutsche Soldat Walter Proska, der nach seiner Gefangennahme durch Partisanen beschließt, auf der Seite der Roten Armee zu kämpfen. Unter Verwendung dieses im Grunde einfachen Plots, der trotz anfänglicher positiver Reaktionen des Verlegers schließlich zum Haupthindernis dessen wurde, dass der Roman damals erscheinen konnte, denkt der Verfasser vor allem mit Hilfe von Dialogen der Charaktere über die Bedeutung von Begriffen wie Patriotismus, Soldatenehre, Gewissen und Moral nach, ebenso darüber, wie einfach diese von einer kleinen Clique Auserwählter zur Beherrschung der Massen und Erreichung der eigenen Machtziele missbraucht werden können. Und dies alles vor der Kulisse unendlicher sumpfiger Wälder des heutigen polnisch-weißrussisch-ukrainischen Grenzgebiets, wo eine ganze Division spurlos verschwinden könnte.
Die Soldaten einer kleinen abgeschnittenen Einheit unter der Leitung eines primitiven, sich in Schikane sonnenden Unteroffiziers sind den Mücken und den Partisanen gleichermaßen ausgeliefert und haben bereits die Hoffnung verloren, sie würden je wieder aus dem unendlichen Wald herausfinden. Ihre Pflichten erfüllen sie nur aus einer Art Trägheit heraus mit dem Bewusstsein, dass die Lage nur schlimmer werden kann, wenn sie nicht vorher Partisanen zum Opfer fallen. Die Gefangennahme der gesamten Einheit durch eine zahlenmäßig stärkere Partisanentruppe stellt für sie zwar keine Erlösung dar, ist andererseits jedoch keine große Überraschung.
Die Gefangenschaft verleiht Proska den Mut, sich endgültig zu entscheiden und sich dieser nicht näher definierten Clique Auserwählter, die er in seinen Überlegungen dafür verantwortlich macht, das deutsche Volk ins Kriegselend gestürzt zu haben, zu widersetzen. Die Gefühlslage des Protagonisten ist nicht leicht zu verstehen, er wird nicht wegen sofortiger Vorteile, die ihm der Seitenwechsel bringen kann, zum Überläufer, und auch nicht, um der Hinrichtung zu entgehen; gleichzeitig aber führen ihn zu einer aktiven Beteiligung an den Kämpfen auf der anderen Seite der Front auch nicht Sympathien für das kommunistische System, über dessen Wesen er sich keine Illusionen macht. Eine der letzten Szenen des Buches, wo Proska zufällig bei heimkehrenden deutschen Kriegsgefangenen auftaucht und bei ihrem Anblick bedauert, dass sie nicht die Kraft und vor allem die Gelegenheit hatten, sich genauso zu entscheiden wie er, trotzdem zeigt dies, dass seine Denkweise den anderen Soldaten fremd ist. Zutage tritt dies vor allem in dem Moment, wo er einen Kameraden aus seiner Einheit wiedersieht, diese Schilderung kann man gleichzeitig auch als Symbol des Bemühens der gesamten deutschen Gesellschaft interpretieren, den Krieg so schnell wie möglich zu vergessen. Wie sich anschließend zeigt, gewinnt Proska auch nicht das Vertrauen der Befehlshaber der Roten Armee, und auch sein Bemühen, sein Handeln zumindest den engsten Verwandten zu erklären, läuft ins Leere.
Der Überläufer enthält eine Reihe von unerwarteten Wendungen und spannenden Momenten. Ein Leser, der auch andere literarische Werke kennt, die an der Ostfront verortet sind, kennt einige Motive bereits und wird diese vielleicht als Klischee wahrnehmen (ein unfähiger, dafür aber umso selbstbewussterer Befehlshaber; ein nach außen zartes Mädchen, tatsächlich aber eine Partisanin, die es gewohnt ist zu töten; ein Soldat, der stirbt, ohne dass ihn die Nachricht von der Geburt seines Sohnes erreicht u. ä.), allerdings muss man berücksichtigen, dass der Romantext Anfang der fünfziger Jahre entstand, man kann also nicht behaupten, dass sich Lenz an von anderswo bekannten Motiven bedient hat. Das Hauptziel des Textes besteht trotz allem darin, die Gedankengänge aufzuzeigen, die Proska schließlich zur Roten Armee führen. Das häufigste Mittel, mit dem Lenz Proskas Gedanken zum Ausdruck bringt, sind Dialoge mit anderen Soldaten, durch die auch die inhaltlich anspruchsvollen Passagen gut lesbar bleiben, eine Reihe von erhabenen bis abstrakten Überlegungen präsentiert der Autor dem Leser in einer einfachen Sprache, wie sie unter den Soldaten üblich war.
Der Roman ist von der Handlung und vom Aufbau her in zwei Teile zu gliedern, wobei diese Gliederung auch von der erwähnten TV-Bearbeitung beibehalten wird. Der erste Teil spielt innerhalb weniger Tage und endet mit der Gefangennahme von Proskas Einheit. Gerade hier lässt sich in psychologisch überzeugender Form die Richtung verfolgen, in die die Überlegungen und Gedanken des Protagonisten laufen und wie sich Proskas Entschlossenheit formiert, die Seiten zu wechseln. Der zweite Teil widmet sich einem längeren Zeitabschnitt, im Grunde handelt es sich um eine Abfolge von frei aneinander anschließenden Episoden, an denen der Autor zeigt, welche Folgen Proskas Entscheidung für ihn persönlich hatte. Der Akt selbst, wo Proska den verantwortlichen feindlichen Offizier aufsucht und versucht, ihn von der Aufrichtigkeit seiner Absicht zu überzeugen, wird im Roman nicht beschrieben (im Unterschied zur TV-Version, wo diese Situation sehr suggestiv geschildert wird). Das Fehlen der Szene lässt eine ganze Reihe von Interpretationen zu – vielleicht wollte Lenz andeuten, dass man nie ganz in die Gedanken eines anderen Menschen hineinblicken kann? Oder wollte er nicht in eine zu detailliertere Beschreibung der internen Strukturen und Entscheidungsprozesse in der Roten Armee abgleiten? Oder hat er die Szene einfach nicht zu Ende geschrieben, nachdem die Arbeitsversion seines Romans vom Verlag abgelehnt worden war? Das werden wir wahrscheinlich nie mehr erfahren.
Ebenso kann ein interessierter Leser die Frage stellen, was der Autor damit beabsichtigt hat, dass er vielen handelnden Personen Namen gab, die mit W beginnen, doch auch hier sind wir weiterhin auf mehr oder weniger qualifizierte Vermutungen angewiesen. Sollten vielleicht die polnischen oder deutschen Namen auf W an die uralte Koexistenz des deutschen und des polnischen Elements auf dem Gebiet, auf dem die Romanhandlung spielt, zu erinnern? In diesem Falle wäre das W eine recht logische Wahl, denn das häufige Vorkommen ist für beide Sprachen – im Unterschied zur überwiegenden Mehrheit der anderen europäischen Sprachen – typisch. Es ist auch möglich, dass Lenz mit dem Buchstaben W auf das alte germanische Symbol der Wolfsangel verwies, das als Zeichen für den Freiheitskampf verstanden wird.
Von der Position eines materiell abgesicherten, nicht durch Krieg bedrohten und in einer Demokratie lebenden Menschen ist es sehr einfach, über einen gewöhnlichen Soldaten, der von den Mühlsteinen des größten Kriegskonflikts in der Geschichte zermalmt wurde und der trotzdem versuchte, der Stimme seines Gewissens zu folgen, zu urteilen. Viel komplizierter ist es, seine Handlungsweise zu verstehen und in der gesamten Breite die Folgen zu sehen, die die einmal getroffene Entscheidung für sein weiteres Leben brachte. Der Überläufer ist ein Roman über das Schicksal eines Menschen, der um nichts glücklicher, besser und wohl auch nicht mutiger ist als sein Umfeld, aber doch eines Menschen, der sich nicht mit der allgemein verbreiteten Apathie abfinden wollte und von seinem Gewissen getrieben das tun wollte, was er für richtig hielt.
© Martin Liška
Der Autor ist Publizist und Historiker, Redakteur des Internetmagazins iLiteratura.
Die Buchbesprechung ist in Zusammenhang mit dem digitalen Literaturmagazin iLiteratura entstanden.
(Auswahl:)
- Es waren Habichte in der Luft. Hoffmann und Campe 1951.
- Der Überläufer (1951). Hoffman und Campe 2016. Tschechisch: Přeběhlík. Übersetzt von Petr Dvořáček. Prostor 2020.
- So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten. Hoffman und Campe 1955. Tschechisch: Tak hezky bylo v Šulákově: Mazurské povídky. Übersetzt von Jiří Stromšík. Vyšehrad 1982.
- Der Mann im Strom. Hoffmann und Campe 1957. Tschechisch: Muž v proudu. Übersetzt von Bedřich Becher. SNKLU 1965.
- Das Feuerschiff. Hoffmann und Campe 1960.
- Zeit der Schuldlosen. 1961.
- Stadtgespräch. Hoffmann und Campe 1963. Tschechisch: Rukojmí. Übersetzt von Bedřich Becher. Naše vojsko 1966.
- Deutschstunde. Hoffmann und Campe 1968. Tschechisch: Hodina němčiny. Übersetzt von Jan Scheinost. Odeon 1974.
- Das Vorbild. Hoffmann und Campe 1973. Tschechisch: Vzor. Übersetzt von Jaromír Povejšil. Svoboda 1976.
- Wie bei Gogol. 1973.
- Der Geist der Mirabelle. Hoffmann und Campe 1975.
- Heimatmuseum. Hoffmann und Campe 1978. Tschechisch: Vlastivědné muzeum. Übersetzt von Anna Siebenscheinová. Odeon 1984.
- Exezierplatz. Hoffmann und Campe 1985. Tschechisch: Cvičiště. Übersetzt von Anna Siebenscheinová. Odeon 1989.
- Fundbüro. Hoffmann und Campe 2003.
- Schweigeminute. Hoffmann und Campe 2008.
- Eine Liebesgeschichte. Zärtliches aus Suleyken. Hoffmann und Campe 2013.
- Es waren Habichte in der Luft. Hoffmann und Campe 1951.
- Der Überläufer (1951). Hoffman und Campe 2016. Tschechisch: Přeběhlík. Übersetzt von Petr Dvořáček. Prostor 2020.
- So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten. Hoffman und Campe 1955. Tschechisch: Tak hezky bylo v Šulákově: Mazurské povídky. Übersetzt von Jiří Stromšík. Vyšehrad 1982.
- Der Mann im Strom. Hoffmann und Campe 1957. Tschechisch: Muž v proudu. Übersetzt von Bedřich Becher. SNKLU 1965.
- Das Feuerschiff. Hoffmann und Campe 1960.
- Zeit der Schuldlosen. 1961.
- Stadtgespräch. Hoffmann und Campe 1963. Tschechisch: Rukojmí. Übersetzt von Bedřich Becher. Naše vojsko 1966.
- Deutschstunde. Hoffmann und Campe 1968. Tschechisch: Hodina němčiny. Übersetzt von Jan Scheinost. Odeon 1974.
- Das Vorbild. Hoffmann und Campe 1973. Tschechisch: Vzor. Übersetzt von Jaromír Povejšil. Svoboda 1976.
- Wie bei Gogol. 1973.
- Der Geist der Mirabelle. Hoffmann und Campe 1975.
- Heimatmuseum. Hoffmann und Campe 1978. Tschechisch: Vlastivědné muzeum. Übersetzt von Anna Siebenscheinová. Odeon 1984.
- Exezierplatz. Hoffmann und Campe 1985. Tschechisch: Cvičiště. Übersetzt von Anna Siebenscheinová. Odeon 1989.
- Fundbüro. Hoffmann und Campe 2003.
- Schweigeminute. Hoffmann und Campe 2008.
- Eine Liebesgeschichte. Zärtliches aus Suleyken. Hoffmann und Campe 2013.
Vor einiger Zeit meldete sich eine gute Bekannte bei mir, eine gebildete ältere Dame aus Weiden, und teilte mir mit Freude auf Tschechisch mit (sie lernt Tschechisch in einem unüblichen Kurs), dass sie Anfang April im Fernsehen eine zweiteilige Fernsehverarbeitung von Lenz‘ Roman gesehen hat. (Ich hoffe übrigens, dass es eine Gelegenheit geben wird, den Film auch in Tschechien zu sehen.) Sie konstatierte, dass es gegenüber dem Roman im Drehbuch zu einigen bedeutenden Änderungen gekommen ist, vor allem die Linie der Liebesgeschichte der Hauptfigur Proska und der polnischen Partisanin Wanda wurde hervorgehoben. Und sie stellte auch die rhetorische Frage, warum das Kriegsthema nach all diesen Jahren immer noch behandelt wird.
In der Süddeutschen Zeitung vom 3.4.2020 äußerte sich der Regisseur Florian Gallenberger zur Handlung der Liebesgeschichte im Roman folgendermaßen: „Ich glaube, dass Lenz die Arbeit an dem Buch eingestellt hatte, als sich abzeichnete, dass es nicht veröffentlicht werden würde. Er war zwar fast damit fertig, aber eben noch nicht ganz. Das sieht man beispielsweise an der Figur der polnischen Partisanin Wanda, die irgendwann verschwindet. Die ist dann einfach weg. Da mussten wir eingreifen – einfach, um einen filmischen Erzählbogen zu finden.“
Sicherlich lässt sich dieses Motiv und der Roman auch so betrachten, vor allem vom Standpunkt eines Fernsehregisseurs aus, der den „filmischen Erzählbogen“ schließen muss. Auch die tschechische Kritik würde so eine Meinung teilen. Es ist offensichtlich und bietet sich fast von selber an. (Es ist jedoch bemerkenswert, dass echte – geringfügige – Diskrepanzen nicht beachtet werden, wie das plötzliche, nicht sehr wahrscheinliche Erscheinen der Figur des Zwitschosbirski, eines ehemaligen Mitstreiters und Freundes von Proska, am Ende des Romans – obwohl diese Szene an sich vielsagend und eindrucksvoll ist.)
„Zwitschos“ taucht plötzlich auf, Wanda verschwindet plötzlich. Es ist jedoch ebenso gerechtfertigt, ihr „Verschwinden“ in einem anderen Kontext zu sehen: Wanda wird zu Beginn als fast immaterielles Wesen dargestellt, als eine Offenbarung für den Soldaten, eine Fee aus der sumpfigen Landschaft. („Sie trug ein laubgrünes Kleidchen und einen breiten Gürtel um die Taille, die schmal war wie ein Stundenglas“.) Und auch die im ersten Teil dargestellte Umgebung mit den allgegenwärtigen Sümpfen verleiht der ganzen Geschichte einen mythischen, archetypischen Charakter. Der Roman ist so etwas wie ein Bild aus externen Zusammenhängen, das aus selbständigen Einzelbildern zu einem Ganzen verbunden ist. Die Bilder sind real, realistisch – doch werden sie vor allem im ersten Teil beinahe zu einer Fantasie stilisiert, stellenweise sind sie mysteriös oder mythisch. Der Krieg selbst bildet eher den Hintergrund, der sich im ersten Erzählplan materialisiert und verdichtet: in der absurden Situation einer Einheit, die in einem mehrfach von Partisanen dominierten sumpfigen Dschungel „Sicherheit bietet“.
Dasselbe gilt – vor allem – für das Motiv der Partisanin Wanda: Die Bekanntschaft von Proska und Wanda wird in etwa fünf Schlüsselszenen mit mehreren Zwischenspielen (wenn Proska sie mit einem anderen Soldaten im Sumpf sieht oder sie dort vermutet) sehr realistisch dargestellt. Aus der unglaublichen Begegnung von Figuren zweier diametral entgegengesetzter Realitäten im Kontext des allgegenwärtigen Todes zeichnet der Autor trotz des Realismus der Erzählung hier ein Bild von fast imaginären Dimensionen. Wanda verschwindet so unerwartet, wie sie auch erschienen ist. Die Geschichte von Proska und Wanda ist vielmehr ein Abbild unerfüllter Erwartung und tiefer Enttäuschung. Der von seinem Gewissen geleitete Protagonist gelangt in eine Situation voller Frustration und Hoffnungslosigkeit. Wenn man diese Linie, in der die vielschichtigen Bedeutungen mehrmals auffunkeln, derart betrachtet, findet man an Wandas „Verschwinden“ nichts, was über die innere Logik dieser Geschichte hinausgehen würde.
Und dann ist da noch die zweite Frage: „Immer noch der Krieg.“ Dieses Thema ist wirklich immer noch aktuell. Der Krieg (wie auch der Holocaust) kehrt in bestimmten Wellen immer wieder zurück, im Zusammenhang mit der sozialen Atmosphäre, dem Generationswechsel und der Notwendigkeit, eine verblassende oder missachtete Erinnerung wiederzubeleben. Gegenstand des „Historikerstreites“ in den 1980er Jahren war unter anderem die Frage, ob es nicht bereits genug ist mit dem ewigen Erinnern an die deutsche Schuld. Ein bekannter Vertreter, der diese Zweifel äußerte, war der Schriftsteller Martin Walser. Das Gegenteil ist eingetreten: die Nachkommen kehren zur Unglaublichkeit der Schuld ihrer Großeltern und Urgroßeltern zurück. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Büchern, die sich mit der Schuld der Vorfahren und sogar mit den teilweise schwerwiegenden psychischen Problemen befassen, die ihren Ursprung in der nicht verarbeiteten und nicht reflektierten Familiengeschichte haben (etwa Schweigen die Täter, reden die Enkel, oder das intensive Geständnis von Bettina Meyer, Enkelin des Kriegsverbrechers Konrad Meyer SS-Nr. 74695 – Konrad Meyer, das auch auf Tschechisch erschien). Bekannt ist beispielsweise auch die Arbeit der Historikerin Katrin Himmler, Heinrich Himmlers Großnichte, die sich professionell mit ihrem verhängnisvollen Familienerbe auseinandersetzt, z.B. in Die Brüder Himmler u.a.
Für Siegfried Lenz spielte der Krieg im Jahr 1951 noch eine andere Rolle. Es handelte sich um eine frische Erfahrung und das Motiv der Desertion war ihm bekannt, obwohl das Buch nur wenige autobiografische Elemente enthält. Die Zeit schreibt im Zuge eines damals abgedruckten Romanauszugs: „Dies Buch erhebt keinen Anspruch auf Protokollierung, vielleicht aber auf Dichtung. Und der Verfasser ist dem Krieg an sich wieder näher als die anderen.“ So werden nicht nur Wandas Geschichte, sondern auch der Krieg und die Rolle des Menschen darin spezifisch reflektiert und in einen Impuls zur Identitätssuche verwandelt: Proska ist der Prototyp eines fragenden, suchenden Menschen, der keinen „glücklichen“ Ausweg findet, ein Mensch, der sucht und sich selbst und seine eigene Identität nur schwer findet. Und dies für den Preis immensen Leids, des Gefühls der Ausweglosigkeit und von Gewissensbissen – jedoch nicht in Bezug auf das System, das er verlassen hatte, oder diejenigen, zu denen er überlief und denen er schließlich den Rücken kehrte, sondern wegen den schwer vorhersehbaren existenziellen Niederlagen, die seinen Weg begleiteten. Regisseur Gallenberger: „Er will sich nicht nur den Anforderungen der Gruppe oder des Systems unterwerfen […] . Diese Figur erinnert uns daran, eigenverantwortlich, mündig und hinterfragend mit der Realität umzugehen.“
Hier ist übrigens das Motiv des Überlaufens, das Motiv der Fahnenflucht selbst zu erwähnen. In unserem kulturellen Umfeld, das während des Krieges auf der Seite der Gegner des Angreifers und seiner Armee stand, wird jede Form von Widerstand und Protest, einschließlich der „Desertion“ aus den Reihen des Feindes, vorbehaltlos positiv wahrgenommen. Doch möglicherweise haben diejenigen, die diese Armee, also die „feindlichen Reihen“ bildeten, eine andere Ansicht. Diese Menschen hatten vielleicht angespannte, aber durchwegs positive Beziehungen zueinander; sie waren Kollegen, Freunde, egal wo sie sich gerade befanden. Sie nehmen Desertion dann viel differenzierter oder sogar direkt negativ wahr – unabhängig ihrer Gründe, wie anhand der Figur des Zwitschosbirski sehr eindrucksvoll ausgedrückt wird.
So eine Wahrnehmung kann dann in einem bestimmten Umfeld tiefe Wurzeln schlagen – der Regisseur spricht von einem „Vorurteil“. („Man sieht diesen jungen Mann und kann seine Taten nachvollziehen, die man sonst per Vorurteil abgelehnt hätte.“) Betrachtet man das Motiv des „Überlaufens“ aus tschechischer Perspektive, so kann jene ursprüngliche Konfliktbeladenheit, die insbesondere zur Zeit der Entstehung des Romans im deutschen Umfeld vorlag, fehlen. Dies gilt natürlich nur für den Stoff des Romans, die Ausgangssituation. Die mühselige Suche nach einer authentischen Haltung in einer äußerst schwierigen Situation ist nichts, was nur auf die Zeit des Krieges beschränkt wäre. Die künstlerisch wirkungsvolle Geschichte ergreift einen gleichermaßen.
Über den Autor:
Petr Dvořáček übersetzt aus dem Tschechischen ins Deutsche. Neben der tschechischen Übersetzung von Siegfried Lenz‘ Der Überläufer erschienen in seiner Übersetzung Kafka: Roky poznání (2018, dt. Kafka: Die Jahre der Erkenntnis) von Reiner Stach, Pojď s námi budovat pohraničí (2016, dt. Komm mit uns das Grenzland aufbauen!) von Andreas Wiedemann, Holuby v trávě (Tauben im Gras) von Wolfgang Koeppen oder eine Reihe von Robert Menasses Romanen. Ins Deutsche übersetzte Dvořáček das bedeutende Werk Verlorene Pyramiden, vergessene Pharaonen (1994, tsch. Ztracené pyramidy, zapomenutí faraóni) des tschechischen Ägyptologen Miroslav Verner.
Links zum Thema:
Der Überläufer von Siegfried Lenz in der Bibliothek des Goethe-Instituts
In der Süddeutschen Zeitung vom 3.4.2020 äußerte sich der Regisseur Florian Gallenberger zur Handlung der Liebesgeschichte im Roman folgendermaßen: „Ich glaube, dass Lenz die Arbeit an dem Buch eingestellt hatte, als sich abzeichnete, dass es nicht veröffentlicht werden würde. Er war zwar fast damit fertig, aber eben noch nicht ganz. Das sieht man beispielsweise an der Figur der polnischen Partisanin Wanda, die irgendwann verschwindet. Die ist dann einfach weg. Da mussten wir eingreifen – einfach, um einen filmischen Erzählbogen zu finden.“
Sicherlich lässt sich dieses Motiv und der Roman auch so betrachten, vor allem vom Standpunkt eines Fernsehregisseurs aus, der den „filmischen Erzählbogen“ schließen muss. Auch die tschechische Kritik würde so eine Meinung teilen. Es ist offensichtlich und bietet sich fast von selber an. (Es ist jedoch bemerkenswert, dass echte – geringfügige – Diskrepanzen nicht beachtet werden, wie das plötzliche, nicht sehr wahrscheinliche Erscheinen der Figur des Zwitschosbirski, eines ehemaligen Mitstreiters und Freundes von Proska, am Ende des Romans – obwohl diese Szene an sich vielsagend und eindrucksvoll ist.)
„Zwitschos“ taucht plötzlich auf, Wanda verschwindet plötzlich. Es ist jedoch ebenso gerechtfertigt, ihr „Verschwinden“ in einem anderen Kontext zu sehen: Wanda wird zu Beginn als fast immaterielles Wesen dargestellt, als eine Offenbarung für den Soldaten, eine Fee aus der sumpfigen Landschaft. („Sie trug ein laubgrünes Kleidchen und einen breiten Gürtel um die Taille, die schmal war wie ein Stundenglas“.) Und auch die im ersten Teil dargestellte Umgebung mit den allgegenwärtigen Sümpfen verleiht der ganzen Geschichte einen mythischen, archetypischen Charakter. Der Roman ist so etwas wie ein Bild aus externen Zusammenhängen, das aus selbständigen Einzelbildern zu einem Ganzen verbunden ist. Die Bilder sind real, realistisch – doch werden sie vor allem im ersten Teil beinahe zu einer Fantasie stilisiert, stellenweise sind sie mysteriös oder mythisch. Der Krieg selbst bildet eher den Hintergrund, der sich im ersten Erzählplan materialisiert und verdichtet: in der absurden Situation einer Einheit, die in einem mehrfach von Partisanen dominierten sumpfigen Dschungel „Sicherheit bietet“.
Dasselbe gilt – vor allem – für das Motiv der Partisanin Wanda: Die Bekanntschaft von Proska und Wanda wird in etwa fünf Schlüsselszenen mit mehreren Zwischenspielen (wenn Proska sie mit einem anderen Soldaten im Sumpf sieht oder sie dort vermutet) sehr realistisch dargestellt. Aus der unglaublichen Begegnung von Figuren zweier diametral entgegengesetzter Realitäten im Kontext des allgegenwärtigen Todes zeichnet der Autor trotz des Realismus der Erzählung hier ein Bild von fast imaginären Dimensionen. Wanda verschwindet so unerwartet, wie sie auch erschienen ist. Die Geschichte von Proska und Wanda ist vielmehr ein Abbild unerfüllter Erwartung und tiefer Enttäuschung. Der von seinem Gewissen geleitete Protagonist gelangt in eine Situation voller Frustration und Hoffnungslosigkeit. Wenn man diese Linie, in der die vielschichtigen Bedeutungen mehrmals auffunkeln, derart betrachtet, findet man an Wandas „Verschwinden“ nichts, was über die innere Logik dieser Geschichte hinausgehen würde.
Und dann ist da noch die zweite Frage: „Immer noch der Krieg.“ Dieses Thema ist wirklich immer noch aktuell. Der Krieg (wie auch der Holocaust) kehrt in bestimmten Wellen immer wieder zurück, im Zusammenhang mit der sozialen Atmosphäre, dem Generationswechsel und der Notwendigkeit, eine verblassende oder missachtete Erinnerung wiederzubeleben. Gegenstand des „Historikerstreites“ in den 1980er Jahren war unter anderem die Frage, ob es nicht bereits genug ist mit dem ewigen Erinnern an die deutsche Schuld. Ein bekannter Vertreter, der diese Zweifel äußerte, war der Schriftsteller Martin Walser. Das Gegenteil ist eingetreten: die Nachkommen kehren zur Unglaublichkeit der Schuld ihrer Großeltern und Urgroßeltern zurück. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Büchern, die sich mit der Schuld der Vorfahren und sogar mit den teilweise schwerwiegenden psychischen Problemen befassen, die ihren Ursprung in der nicht verarbeiteten und nicht reflektierten Familiengeschichte haben (etwa Schweigen die Täter, reden die Enkel, oder das intensive Geständnis von Bettina Meyer, Enkelin des Kriegsverbrechers Konrad Meyer SS-Nr. 74695 – Konrad Meyer, das auch auf Tschechisch erschien). Bekannt ist beispielsweise auch die Arbeit der Historikerin Katrin Himmler, Heinrich Himmlers Großnichte, die sich professionell mit ihrem verhängnisvollen Familienerbe auseinandersetzt, z.B. in Die Brüder Himmler u.a.
Für Siegfried Lenz spielte der Krieg im Jahr 1951 noch eine andere Rolle. Es handelte sich um eine frische Erfahrung und das Motiv der Desertion war ihm bekannt, obwohl das Buch nur wenige autobiografische Elemente enthält. Die Zeit schreibt im Zuge eines damals abgedruckten Romanauszugs: „Dies Buch erhebt keinen Anspruch auf Protokollierung, vielleicht aber auf Dichtung. Und der Verfasser ist dem Krieg an sich wieder näher als die anderen.“ So werden nicht nur Wandas Geschichte, sondern auch der Krieg und die Rolle des Menschen darin spezifisch reflektiert und in einen Impuls zur Identitätssuche verwandelt: Proska ist der Prototyp eines fragenden, suchenden Menschen, der keinen „glücklichen“ Ausweg findet, ein Mensch, der sucht und sich selbst und seine eigene Identität nur schwer findet. Und dies für den Preis immensen Leids, des Gefühls der Ausweglosigkeit und von Gewissensbissen – jedoch nicht in Bezug auf das System, das er verlassen hatte, oder diejenigen, zu denen er überlief und denen er schließlich den Rücken kehrte, sondern wegen den schwer vorhersehbaren existenziellen Niederlagen, die seinen Weg begleiteten. Regisseur Gallenberger: „Er will sich nicht nur den Anforderungen der Gruppe oder des Systems unterwerfen […] . Diese Figur erinnert uns daran, eigenverantwortlich, mündig und hinterfragend mit der Realität umzugehen.“
Hier ist übrigens das Motiv des Überlaufens, das Motiv der Fahnenflucht selbst zu erwähnen. In unserem kulturellen Umfeld, das während des Krieges auf der Seite der Gegner des Angreifers und seiner Armee stand, wird jede Form von Widerstand und Protest, einschließlich der „Desertion“ aus den Reihen des Feindes, vorbehaltlos positiv wahrgenommen. Doch möglicherweise haben diejenigen, die diese Armee, also die „feindlichen Reihen“ bildeten, eine andere Ansicht. Diese Menschen hatten vielleicht angespannte, aber durchwegs positive Beziehungen zueinander; sie waren Kollegen, Freunde, egal wo sie sich gerade befanden. Sie nehmen Desertion dann viel differenzierter oder sogar direkt negativ wahr – unabhängig ihrer Gründe, wie anhand der Figur des Zwitschosbirski sehr eindrucksvoll ausgedrückt wird.
So eine Wahrnehmung kann dann in einem bestimmten Umfeld tiefe Wurzeln schlagen – der Regisseur spricht von einem „Vorurteil“. („Man sieht diesen jungen Mann und kann seine Taten nachvollziehen, die man sonst per Vorurteil abgelehnt hätte.“) Betrachtet man das Motiv des „Überlaufens“ aus tschechischer Perspektive, so kann jene ursprüngliche Konfliktbeladenheit, die insbesondere zur Zeit der Entstehung des Romans im deutschen Umfeld vorlag, fehlen. Dies gilt natürlich nur für den Stoff des Romans, die Ausgangssituation. Die mühselige Suche nach einer authentischen Haltung in einer äußerst schwierigen Situation ist nichts, was nur auf die Zeit des Krieges beschränkt wäre. Die künstlerisch wirkungsvolle Geschichte ergreift einen gleichermaßen.
Über den Autor:
Petr Dvořáček übersetzt aus dem Tschechischen ins Deutsche. Neben der tschechischen Übersetzung von Siegfried Lenz‘ Der Überläufer erschienen in seiner Übersetzung Kafka: Roky poznání (2018, dt. Kafka: Die Jahre der Erkenntnis) von Reiner Stach, Pojď s námi budovat pohraničí (2016, dt. Komm mit uns das Grenzland aufbauen!) von Andreas Wiedemann, Holuby v trávě (Tauben im Gras) von Wolfgang Koeppen oder eine Reihe von Robert Menasses Romanen. Ins Deutsche übersetzte Dvořáček das bedeutende Werk Verlorene Pyramiden, vergessene Pharaonen (1994, tsch. Ztracené pyramidy, zapomenutí faraóni) des tschechischen Ägyptologen Miroslav Verner.
Links zum Thema:
Der Überläufer von Siegfried Lenz in der Bibliothek des Goethe-Instituts
(geb. 29.06.1949) Übersetzer aus dem Deutschen und Mazedonischen, Redakteur
Petr Dvořáček studierte Bohemistik und Germanistik an der Prager Karls-Universität. Danach war er als Gymnasiallehrer und später als Redakteur (für Sprach-, Literatur-, Kunstwissenschaft), leitender Redakteur und nach 1989 als Chefredakteur im Academia-Verlag tätig. Seit 1992 ist er freischaffender Übersetzer, inzwischen auch Redakteur der Fachzeitschrift Germanoslavica. Er spezialisiert sich vor allem auf Übersetzungen aus dem Bereich der modernen deutschen (Zeit)geschichte und der deutsch-tschechischen Beziehungen sowie Übersetzungen von Belletristik. 2011 erhielt er eine Würdigung des Übersetzerverbandes für die Übersetzung von Niklas Franks Der Vater und 2015 die Übersetzungsprämie des österreichischen Bundesministers für Kunst u. Kultur für Robert Menasses Roman Vertreibung aus der Hölle.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung
Petr Dvořáček studierte Bohemistik und Germanistik an der Prager Karls-Universität. Danach war er als Gymnasiallehrer und später als Redakteur (für Sprach-, Literatur-, Kunstwissenschaft), leitender Redakteur und nach 1989 als Chefredakteur im Academia-Verlag tätig. Seit 1992 ist er freischaffender Übersetzer, inzwischen auch Redakteur der Fachzeitschrift Germanoslavica. Er spezialisiert sich vor allem auf Übersetzungen aus dem Bereich der modernen deutschen (Zeit)geschichte und der deutsch-tschechischen Beziehungen sowie Übersetzungen von Belletristik. 2011 erhielt er eine Würdigung des Übersetzerverbandes für die Übersetzung von Niklas Franks Der Vater und 2015 die Übersetzungsprämie des österreichischen Bundesministers für Kunst u. Kultur für Robert Menasses Roman Vertreibung aus der Hölle.
Deutschsprachige Literatur in tschechischer Übersetzung