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Slow Publishing
Langsame Buchproduktion für eine widerstandsfähigere Welt

Barbora Baronová
Barbora Baronová | © Barbora Baronová

Bücher zu veröffentlichen bedeutet, unsere Zukunft zu gestalten. Wie ist das möglich? Weil wir Verleger (wie auch Medien, Politiker, Pfarrer, Lehrer oder Prominente) das Privileg und die Macht haben, durch unsere Veröffentlichungen und die Themen, die sie aufgreifen, in den öffentlichen Raum einzutreten und dadurch das Funktionieren unserer Gesellschaft zu beeinflussen und zu verändern.
 

Von Barbora Baronová

Es ist wichtig, sich dieser Macht bewusst zu sein und sich als Verlagshaus entsprechend zu verhalten. Wollen wir in einer konservativen Gesellschaft leben, die Angst vor dem Anderssein hat? Werden wir weiterhin an gläserne Decken stoßen, weil wir nicht einem bestimmten Geschlecht, Alter oder einer Rasse entsprechen? Werden wir anfangen, das Reisen zu vermeiden, weil wir andere Kulturen nicht verstehen? Werden wir das Älterwerden fürchten, weil wir mit jedem Jahr unsichtbarer für die Gesellschaft werden? Werden wir unsere Träume aufgeben, weil wir keine Vorbilder in dem Beruf sehen, den wir uns erträumen? Oder werden wir glauben, dass es besser ist, den Durchschnitt zu akzeptieren, als nach Höherem zu streben, oder werden wir ein plötzliches Handicap passiv hinnehmen, weil wir die Alternative nicht erkennen werden?

Bücher helfen uns, verschiedene Rollen und Situationen im Leben auszuprobieren. Verschiedene Leben in verschiedenen Kulturen und Zeiten zu leben. Sie bieten uns Einblicke in verschiedene Perspektiven und Ideen. Daher ist es äußerst wichtig, Kindern ein gutes und vielfältiges Angebot an Literatur von verschiedenen Autoren,  Kulturen, Denkweisen, Lebensansätzen und Themen – auch, wenn diese schwierig sind -, zu bieten. Diese Geschichten werden sie bereichern. Und sie werden auch verstehen, dass die Welt durch ihre Vielfalt interessanter und reicher ist. Sie verstehen zum Beispiel, dass jeder Astronaut werden kann, dass es in Ordnung ist, wenn jemand zwei Väter hat oder länger braucht, um sich selbst zu finden, dass es richtig ist, einander zu helfen und zu unterstützen, dass es gesund ist, Menschen mit Behinderungen, mit wilderem oder gemütigerem Temperament in den Freundeskreis aufzunehmen, oder dass der Tod zum Leben dazugehört. Denn das ist die Welt, in der wir leben, und keine Vorschriften von oben können das ändern.

Leider glauben einige zeitgenössische Diktatoren selbst in der zivilisierten Welt des 21. Jahrhunderts immer noch, dass das Leben in einer vorgegebenen, transparenten und kontrollierten Box geplant, organisiert und gelebt werden kann. Man schaue sich nur an, wie die Kultur in Ungarn oder Russland heute zensiert wird, oder was andere osteuropäische Länder, in denen Populisten oder verschiedene konservative Kräfte die Macht übernommen haben, kulturell zu tun pflegen oder versuchen zu tun.

Bücher zu machen, die nicht nur Stereotypen wiederholen - zum Beispiel solche über die Familie als einzig mögliche und richtige soziale Ordnung in der Gesellschaft, über kleine Mädchen in rosa Röcken oder über reiche, erfolgreiche Väter - ist viel anspruchsvoller als die ständige Wiederholung des bewährten literarischen Mittelmaßes. Es erfordert unter anderem den Mut, sich mit dem zu konfrontieren, was "normal" ist. Das "Normale" ist aber oft in erster Linie ein Konstrukt, das leicht überschaubar und am einfachsten von oben zu steuern ist. Es kann aber auch Traumata bei denen auslösen, die nicht in die vorgefertigten Schubladen passen.

Denn die Realität unterscheidet sich oft von der idealen Welt auf dem Papier: In der Tschechischen Republik beispielsweise liegt die Scheidungsrate laut dem tschechischen Statistikamt bei 44 %, und laut einer Untersuchung von PAQ Research und dem tschechischen Rundfunk leben im Jahr 2022 336 000 tschechische Kinder mit nur einem Elternteil, während 40 % der Alleinerziehenden zudem unter der Armutsgrenze leben. Deshalb ist es äußerst wichtig, Bücher unter anderem dazu zu nutzen, die Realität widerzuspiegeln und die Welt nicht nur rosa zu malen - um auf das Leben vorbereitet zu sein, gute Überlebensstrategien zu erlernen, Vielfalt als positiven Wert, als Bereicherung zu sehen. Der rasanten Fluidität der heutigen Welt mit Büchern Rechnung zu tragen - der Soziologe Zygmunt Bauman hat dafür den treffenden Begriff "fluide Moderne" verwendet - bedeutet, trotz allem und jedem nicht auf der Stelle zu treten, sondern auf die Zukunft und ihre Fluidität vorbereitet zu sein.

Ich glaube, dass wir, wenn wir durch Bücher lernen, andere Perspektiven einzunehmen oder Erfahrungen zu machen, die sich von unseren eigenen unterscheiden, bessere, verständnisvollere Menschen werden können, die eine Gesellschaft schaffen, die stärker, freundlicher, demokratischer, gerechter und widerstandsfähiger gegen Bedrohungen ist. Denn eine solche Gesellschaft stärkt unsere Überlebenschancen als Menschheit.
  
"Andere" Bücher - d. h. solche, die nicht dem Mainstream entsprechen, die anspruchsvoller sind, tiefer gehen, unerwartete, einzigartige Erfahrungen vermitteln, aber vielleicht auch vielfältige, kritische Perspektiven bieten - erfordern in der Regel viel mehr Energie, Zeit und Sorgfalt bei der Herstellung. Sie sind keine erstklassigen Bestseller - schließlich wollen viele Menschen nach wie vor ruhige, heitere Bücher vor allem zum Vergnügen und zur Unterhaltung lesen. Natürlich haben leichte Lektüren eine Daseinsberechtigung, ich lese sie auch, aber ich weiß, dass sie mir außer einem kurzzeitigen Vergessen der Lebenswirklichkeit und damit einer Stärkung meines vereinfachten Weltbildes meist nicht viel bringen. Im Gegensatz dazu tragen Bücher, die "blinde Flecken" - wie der tschechische Soziologe Daniel Prokop die Randbereiche der Gesellschaft nennt - und andere nicht dem Mainstream entsprechende Themen behandeln, zur Bibliodiversität, also zur Vielfalt der Bücher, bei.

Der Begriff "Bibliodiversität" wurde vor allem von der unabhängigen australischen Verlegerin und Schriftstellerin Susan Hawthorne geprägt, die in ihrem Buch "Bibliodiversität: Ein Manifest für das unabhängige Verlagswesen" die Bedeutung der Veröffentlichung eines möglichst breiten Spektrums von Büchern erörtert, sei es in Bezug auf Inhalt und Thema, Autorentypen, Genres, Weltanschauung oder Verarbeitung. Sie erklärt, wie wichtig es für jede Kultur ist, Bücher als ihre Grundlage zu betrachten.
 
Für mich persönlich war die Begegnung mit Susan und dem Konzept der Bibliodiversität extrem wichtig, denn bis dahin war mir nicht bewusst, welch politisch mächtiges Sprachrohr ich - als Verlegerin von meist ambitionierten Büchern - bin. Lange Zeit schrieb, redigierte, wählte, kuratierte und produzierte ich Bücher für die Veröffentlichung in meinem Verlag ganz intuitiv; zusammen mit anderen Autorinnen und Autoren behandelten wir natürlich hauptsächlich Minderheitenthemen, ohne den primären Anspruch zu haben, etwas in der Gesellschaft zu verändern. Wir konzentrierten uns auf Frauen über 60, unverheiratete Frauen, Obdachlose, Menschen mit Behinderung, politische Gefangene oder für die Gesellschaft unsichtbare Personen. Erst später, durch das Feedback, erkannten wir die Kraft unserer Arbeit. Als ich das Konzept der Bibliodiversität kennenlernte, war alles miteinander verbunden, und ich verstand, dass man mit dieser Waffe verantwortungsvoll und bewusst umgehen muss. Gezielt. Und langsam.

Susan spricht auch über den langsamen Ansatz bei der Veröffentlichung von Büchern. Sie vergleicht die Buchproduktion mit dem ökologischen Landbau, mit dem Anbau von Tomaten. Wenn wir die saftigen und genau richtig süßen und sauren Früchte genießen wollen, müssen wir ihnen ausreichend Zeit und Raum geben. Wenn wir auf Quantität, auf Geschwindigkeit, auf maximalen Ertrag drängen, dann geht das nicht ohne Kunstdünger und Ausplünderung des Bodens - aber so bekommen wir keine guten, schmackhaften Tomaten, und wir hinterlassen nur Verwüstung. 
 
Susan ist der Meinung, dass wir das Buchverlagswesen mit der gleichen Rücksichtnahme, Sensibilität, Sorgfalt und Geduld angehen müssen wie den ökologischen Landbau. Wir dürfen die Autoren nicht unter Druck setzen und sie nicht zwingen, jedes Jahr einen weiteren Fastseller zu schreiben, sondern müssen ihnen genügend Zeit geben, über jedes Buch nachzudenken. Als Verleger sollte man sorgfältig das Saatgut auswählen, das von Qualität ist und der Gesellschaft nützt. Die Themen ehrlich kuratieren und Schriftstücke auswählen, die es wert sind, veröffentlicht zu werden, auch wenn das bedeutet, etablierte Autoren abzulehnen. Das Thema gemeinsam mit den Autoren zu betrachten, es mit ihnen zu diskutieren und andere Wege zu finden, es anzugehen. Dann bietet man den Redakteuren Zeit, das Buch noch einmal zu lesen und zu kritisieren, um anschließend von einem Lektor mindestens zwei- oder dreimal gelesen und Satz für Satz durchgegangen zu werden. Schlussendlich sollten gute Künstler und Grafiker ausgewählen werden, die das Buch mit Würde in die Welt setzen, nicht nur mit dem erstbesten Cover...

Verlagsarbeit ist anspruchsvoll, sie erfordert Geduld. Die Produktion von Qualitätsbüchern darf nicht überstürzt werden. Aber es ist sicher keine Schande, Bücher langsam zu veröffentlichen. Am Ende wird die Gesellschaft als Ganzes davon profitieren. Denn eine einfühlsamere und verständnisvollere Herangehensweise an das Leben und dessen Reflektion innerhalb unserer heutigen Literatur, wird das Leben für uns alle besser machen.

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