Demokratie braucht Denken
Wie wir in einer digitalen Welt neu denken lernen
Wir brauchen in Zukunft digital souveräne und kulturell kompetente Bürgerinnen und Bürger. Denn Demokratie braucht Denken! Deshalb fordert Peter Weibel, Vorstand des ZKM Karlsruhe, neue bildungspolitische, soziale und demokratische Bewegungen zu initiieren und Museen zu Orten der kostenlosen Bürgerbildung zu machen.
Zeitgenössische Buchtitel zum Thema Demokratie heißen Postdemokratie (Colin Crouch, 2004; im Original Post-Democracy), Defekte Demokratie (Wolfgang Merkel, Hans-Jürgen Puhle, Aurel Croissant et al, 2003), Simulative Demokratie (Ingolfur Blühdorn, 2013) usw. Die bisherigen Formen der Demokratie und der Bildung sind offensichtlich so geschwächt, dass sie ihre Aufgaben und die in sie gesetzten Erwartungen nicht mehr erfüllen. Allenthalben wird ein Bildungsnotstand in Deutschland beklagt, und was die Demokratie betrifft, sprechen diese Buchtitel Bände. Die Krise der repräsentativen Demokratie ist also nicht mehr zu leugnen. Neue Formen der Demokratie und der Bildung müssen daher erprobt werden.
Zeitgenößische Kunst vor allem im Museum
Erstaunlicherweise stellt sich das Museum als ein geeigneter Ort dafür heraus. Warum? Weil das Museum schon lange eine Heterotopie ist, ein Ort des Exils, zumindest künstlerischer Ausdrucksformen. Die Klangkunst des 21. Jahrhunderts ist weder in den Prunkbauten der Opern noch in den klassischen Konzerthallen zu hören, sondern (gelegentlich) in Museen. Der künstlerische Film zwangsemigrierte von Kino und Fernsehen ins Museum. Ebenso finden neue Formen des Tanzes, der Aktionskunst und der Performance hauptsächlich in Kunsträumen statt. Die utopischen Momente einer Gesellschaft, sofern sie sich in der Kunst spiegeln, sind nur noch in den Ausstellungsräumen latent vorhanden. Im historischen Augenblick erweitert sich diese Latenz von den künstlerischen zu sozialen Modellen.Es ist also an der Zeit, wenn auch nur mikropolitisch, neue bildungspolitische, soziale und demokratische Bewegungen zu initiieren. Experimentalräume für innovative demokratische Möglichkeiten, neue Formen des Wissenserwerbs und ein neues Unternehmertum müssen geschaffen werden, die auf neuen Formen der Kooperation beruhen.
Von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft
Der Schlüssel eines emanzipatorischen Konzepts liegt in der Stärkung des einzelnen Bürgers und der Gemeinschaft. Bürger und Bürgerinnen bilden in Zukunft andere Bürger. Für das Ausstellungs- und Bildungsexperiment Open Codes (Oktober 2017 bis April 2019) haben wir im ZKM Karlsruhe beispielsweise eine ungewöhnliche, interaktive Form der Auseinandersetzung mit Kunst gewählt, um unsere Besucherinnen und Besucher in diese neue Strategie der Versammlung einzuführen. Das Museum wird zum Ort von Bürgerbildung, in dem die Aneignung von Wissen nicht nur lohnenswert ist, sondern auch belohnt wird. Denn die eigentliche Botschaft des digitalen Wandels lautet: Die Gesellschaft von morgen wird sich von einer Arbeits- zu einer Wissensgesellschaft wandeln (müssen).Daher fordern wir für das 21. Jahrhundert bezahlte Bürgerbildung! Wir brauchen in Zukunft kulturell kompetente Bürgerinnen und Bürger, um die Demokratie verteidigen zu können. Demokratie braucht Denken! Wird etwa in der politischen Arena, in den Massenmedien noch gedacht? Ist nicht ein Trash-Präsident der finale Triumph des Trash-TV? Wir haben uns leider daran gewöhnt, dass die Stimme der Vernunft nicht gehört wird, weil, wie schon Sigmund Freud sagte, die Stimme des Intellekts leise sei. Peter Weibel ist künstlerisch-wissenschaftlicher Vorstand des ZKM Karlsruhe. | Foto: Andy Ridder © ZKM Karlsruhe Aber neu ist, dass auch die Stimme der Wirklichkeit nicht mehr gehört wird. Wenn in einem Berliner Regierungsbüro das Telefon klingelt und auf die Frage des oder der Abgeordneten „Wer ist dran?“ die Assistenz vermeldet „die Stimme der Wirklichkeit“, so reagiert die Politik mit „Oh, nicht abheben!“. Deswegen ist Deutschland mittlerweile in vielen Bereichen zu einer DYSFUNKTIONALEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK (DDR) geworden. Verwaltungswissenschaftler sprechen immer häufiger von Organisationsversagen mit fatalen Folgen für die Menschen. Funktionsfähigkeit ist nicht mehr die Norm, sondern die Ausnahme. Vor allem deswegen, weil es an Echtzeit-Datenmanagement fehlt.
Wir Brauchen Neue Wissensformate im Netz
Deutschland steht im europäischen Digitalisierungsindex auf Platz 17, ist also ein digitales Entwicklungsland. Das Streben nach Machterhalt und ideologische Verblendung haben zum Wegducken von der Wirklichkeit geführt. Nicht nur das Museum als neue Form der Versammlung hat die Chance und die Aufgabe, gemeinsam mit den Bürgern und Bürgerinnen Orte des Wissens und der Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Mit den Instrumenten des Denkens und neuen Formen von Bildung – vor allem auch durch neue Wissensformate im Netz – kann es gelingen, den Zugang zur Wirklichkeit wiederzugewinnen.Peter Weibel (*1944) gilt als ein zentraler Akteur der europäischen Medienkunst. Als Künstler, Theoretiker, Kurator, Vorstand des ZKM | Karlsruhe sowie Direktor des „Peter Weibel Forschungsinstituts für digitale Kulturen“ an der Universität für angewandte Kunst in Wien ist er an den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft tätig. Er leitete u.a. die Biennale in Sevilla und Moskau, die Ars Electronica in Linz sowie das Institut für Neue Medien der Städelschule in Frankfurt.
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