Recht am eigenen Ich
Ein digitales Panopticon
Einer kontrolliert alle: So stellte sich der britische Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832) das moderne Gefängnis vor. Aus seinem „Panopticon“ wurde das „Netopticon“ – das Internet, das einige wenige Unternehmen kontrollieren.
Von Marc Garrett
„Wissen ist Macht“: Nie war dieses Bonmot so treffend wie heute. Ständig beeinflussen irgendwie privilegierte Interessengruppen unsere sozialen Interaktionen und kulturellen Identitäten. Die Vorstellungen von uns selbst werden verzerrt und sind von Unternehmen, Medien und der Politik geprägt. Wahrheiten und Tatsachen sind – wie alles andere auch – Waren. Und kein Recht! Sie gehören dem Meistbietenden. Wer über die entsprechenden Ressourcen verfügt, kann die Menschen nach Gutdünken „informieren“.
So sammeln die Anbieter sozialer Netzwerke wie Facebook oder Google die persönlichen Daten ihrer Nutzer*innen in noch nie dagewesenem Umfang und verkaufen sie dann milliardenfach an Werbetreibende. „Die Infrastruktur von Facebook durchdringt unser tägliches Leben – und zwar in immer einschneidenderer und einschränkenderer Art und Weise“, schrieb ein Team um Jean-Christophe Plantin von der London School of Economics and Political Science in dem 2018 erschienenen Buch Changing Things: The Future of Objects in a Digital World. So haben die Betreiber der Plattform tiefe Einblicke ins Private und nutzen dieses Wissen nicht nur für die Platzierung von individualisierter Werbung. Das muss kritisiert werden.
Eine neue Generation von zeitgenössischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Forscher*innen, Aktivist*innen, Hacker*innen und Journalist*innen entwickelt daher Strategien, wie sich diese geheimen Algorithmen offenbaren und umgehen lassen. Zu ihnen gehört auch Jennifer Lyn Morone. Die amerikanische Künstlerin hat sich selbst 2014 im Rahmen eines Projektes am Royal College of Art in London als Unternehmen registriert. Sie ist Gründerin, Geschäftsführerin, Aktionärin und Produkt ihres eigenen Ichs, der „Jennifer Lyn Morone ™ Inc.“ Ziel des Unternehmens: die Bestimmung des Wertes einer Person. Ihre Absicht ist es, die Auswirkungen marktwirtschaftlicher Prinzipien, die unser alltägliches Leben bestimmen, besser zu verstehen. Indem sie sich buchstäblich selbst in eine „Aktiengesellschaft“ verwandelte, hat sie eine extreme Form des Kapitalismus angenommen.
Das Beispiel zeigt, wie uns das Internet und seine Netzwerke unserer Identität berauben. Denn unsere Online-Aktivitäten werden von Unternehmen und ihren „sozialen“ Zonen dominiert. Hier grasen die Internetnutzer*innen wie Kühe auf den Wiesen. In den sozialen Netzwerken konsumieren sie, was von subjektiven und interessengesteuerten Algorithmen erzeugt wurde. Zugleich bestimmen diese, was wir sehen und hören – und wie andere uns sehen und hören. Wenn wir diese Plattformen und Browser nutzen, stellen wir uns bloß.
Wahrheiten und Tatsachen sind Waren. Und kein Recht! Sie gehören dem Meistbietenden.
Der Journalist Aatif Sulleyman recherchierte für die britische Zeitung The Independent, dass Facebook im Jahr 2014 im Rahmen eines geheimen Experimentes Hunderttausende von Newsfeeds seiner Nutzer*innen manipulierte, um herauszufinden, ob sich damit deren Emotionen beeinflussen ließen. Offenbar wurde insgeheim sogar erwogen, die User*innen mit ihren eigenen Webcams und Smartphone-Kameras zu beobachten. Auch Apple sammelt massenhaft Informationen – angeblich anonymisiert. Dies betrifft Verbindungsdaten, Textnachrichten, Kontaktlisten, Fotos und so weiter. Selbst Bankkonten sind nicht sicher. Opt-out-Klauseln gibt es nicht. Wenn es ums Data-Mining geht, sind Handynutzer*innen wahre Goldgruben.
Mapping-Apps verraten, wo wir sind, und unsere Fernsehgeräte dokumentieren, welche Sendungen wir sehen.
Diese Entwicklung hin zu Benthams Panopticon ging immer weiter. Heute fördern Unternehmen und Regierungen – letztere insbesondere aus militärischen Interessen – immer ausgefeiltere Überwachungsmethoden, die auf der geschickten Kombination von Künstlicher Intelligenz und statistischen Verfahren beruhen. Mit dem Ergebnis, dass die Mapping-Apps unserer Handys verraten, wo wir sind, und Fernsehgeräte dokumentieren, welche Sendungen wir sehen. Die Daten strömen zurück zu den Unternehmen, die sie an die Werbewirtschaft verkaufen. Aus dem „Panopticon“ wurde das „Netopticon“, in dem sich mitschuldig macht, wer Tag für Tag im Internet unterwegs ist und so die kollektive Überwachung durch Unternehmen, Regierungen und Spammer unterstützt.
Die Künstlerin Jennifer Lyn Morone dreht den Spieß um, indem sie das Eigentumsrecht an den Daten ihres eigenen Ichs geltend macht. Sie verwandelt als Gründerin der Firma ihres Selbst ihre Fähigkeiten, ihr Kapital, ihren Besitz und ihr geistiges Eigentum in das Vermögen des Unternehmens. Ihr Name, ihr Erscheinungsbild und ihre IP-Adressen sind Marken und Warenzeichen. Ihre mentalen Fähigkeiten – ihr Wissen – sind also unternehmerische Prozesse und Strategien. Ihre körperlichen Fähigkeiten sind ihre Werkbänke, ihre biologischen Funktionen sind Produkte, ihre Daten sind Eigentum des Unternehmens. Und seine Anteile sind ihr Potenzial. „Alles, was sie biologisch und intellektuell ist, was sie tut, lernt oder erschafft, kann gewinnbringend vermarktet werden“, schreibt die britische Autorin, Kritikerin und Kuratorin Régine Debatty über Morones Arbeit. „Ihr Projekt ist zwar nur eine Abschlussarbeit, doch ist es keineswegs spekulativ.“ Sie zeigt das Wissen der Konzerne über unser Verborgenes.
Derzeit entwickelt Morone eine App namens „Database of ME“ (DOME). Damit erfasst sie permanent ihren Standort, ihren Herzschlag, ihre Aktivitäten im Internet, ja sogar ihre Stimmungsschwankungen. Ihr Unternehmen kann diese Daten dann auf vielfältige Art und Weise vermarkten. Dabei treibt sie es so weit, dass sie aus ihren eigenen Pheromonen zwei Parfümlinien, „Lure“ und „Repel“, herstellen ließ. Wer den Duft aufträgt, hat die Wahl, ob Männer angezogen oder abgestoßen werden sollen. Der westliche Mensch müsste sich erst dann in seiner Haut wohlfühlen, wenn er seine Identität vollumfänglich selbst bestimmt, als gehöre sie zu seinem Besitz – so lautet eine Idee der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin und Frauenforscherin Donna Haraway. Auch in diesem Sinne ist Morones Arbeit bemerkenswert.
Vielleicht wird bald wieder das passieren, was einst die Punks anstießen, als sie zu ihren Instrumenten griffen: der Beginn einer neuen Ära des sozialen Wandels. Als Außenstehende, Amateur*innen und „einfache Menschen“ plötzlich Raum für ihre künstlerische Form der freien Meinungsäußerung fanden, als für eine kurze Zeit eine „Do-it-Yourself“-Kultur entstand, als Musik und Politik subkultureller Ghettos die Mainstream-Kultur und die Medien beeinflussten. Es wäre intelligent und fortschrittlich, wenn wir die von Konzernen und Mächten kontrollierten Teile unseres Lebens zurückgewännen.
Jennifer Lyn Morone hat uns den Weg in diese explorative Zone gewiesen. So wie sie müssen wir diese verborgene, algorithmisch kontrollierte Welt dekonstruieren, die uns alle als Geiseln hält. Wir müssen versuchen, die Kontrolle über unser digitales Selbst zurückzuerobern. Dieser Versuch ist es wert – und sei es nur, um zu erkennen, welchen Mächten wir uns da unterwerfen.