Der Wald in der Gegenwartskunst
Verlorene Unschuld: Zwischen Stadtverwaldung und Disco-Forst
Die in der Romantik besungene Idylle mag dahin sein, doch auch heute noch setzen sich Kulturschaffende in Deutschland mit dem Wald auseinander – kritisch, ironisch, geschichtsbewusst.
Von Christa Sigg
Fett, Filz und Hasen verbindet man sofort mit Joseph Beuys – Stoffe und Motive, die in vielen seiner bekanntesten Werke auftauchen. Bekannter dürfte nur seine Baumpflanzaktion während der Ausstellung für zeitgenössische Kunst documenta 7 in Kassel sein: Durch 7.000 Eichen sollte sich 1982 der gesamte Stadtraum in eine künstlerische Bühne verwandeln. Man könnte auch von einer besonders nachhaltigen sozialen Plastik sprechen. Denn jeder, der damals 500 DM (umgerechnet gut 250 Euro) spendete, durfte ein Pflänzchen setzen, und nach vier Jahrzehnten sind daraus ansehnliche Laubbäume gereift. Damit hatte der Aktionskünstler, dessen 100. Geburtstag im Mai 2021 gefeiert wird, einen ökologischen Langzeit-Coup gelandet. Bis heute zählt diese „Stadtverwaldung“ zu den aufwendigsten deutschen Kunstaktionen mit weltweiter Beachtung.
Die „Stadtverwaldung“ hat das Erscheinungsbild der Stadt Kassel verändert: Blick auf eine Allee aus Eichen, die der Künstler Joseph Beuys vor fast 40 Jahren zur „documenta“-Ausstellung pflanzte.
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Das Brechen eines Tabus
Dass sich Künstler*innen in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts überhaupt wieder auf Bäume und Wälder einlassen konnten, ist keineswegs selbstverständlich. Nach der perfiden Instrumentalisierung durch die Nationalsozialist*innen waren sie für die Vertreter*innen der Avantgarde zum Tabu geworden. Im sozialistischen Realismus der DDR tauchten zwar vereinzelt Waldarbeiter*innen auf, doch die Natur bildete den bloßen Hintergrund. Das Beschwören einer Idylle hatte man im Osten wie im Westen der trivialen oder lokalen Kunst überlassen. Zumal über dem Kanapee röhrende Hirsche und von Bächlein durchzogene Bergwälder lediglich bei einem sehr übersichtlichen Publikum Anklang fanden. Die verkitschte Darstellung folgte den bei diesem eher älteren Klientel bevorzugten Heile-Welt-Idyll, das sich filmisch beispielsweise in Werken wie dem Der Förster vom Silberwald oder der Jäger von Fall im Heimatkino wiederfand.
Wer sich künstlerisch bewusst mit dem Wald auseinandersetzte, hatte anderes im Sinn. Wie etwa Anselm Kiefer, der in den 1970er-Jahren den damit verbundenen Mythos kritisch hinterfragte: Dass er sich ausgerechnet die für die Germanen so siegreiche und von den Nazis missbrauchte „Hermannsschlacht“ im Teutoburger Wald vornahm (Bilderzyklus Wege der Weltweisheit: Die Hermannsschlacht) und seine Darstellung von marodem Gehölz mit Größen der deutschen Geistesgeschichte kombinierte, kam nicht von Ungefähr. Bei Ralf Kerbach, der 1982 aus der DDR ausgewiesen wurde, waren es die abgeschlagenen Köpfe deutscher Dichter*innen, die auf Baumstümpfen „thronten“. Und dass das erste Sujet, das Georg Baselitz 1969 auf den Kopf stellte, ein Wald war – auf das Gemälde Der Wald auf dem Kopf sollten viele weitere umgekehrte Motive folgen und ihn berühmt machen – mag Zufall gewesen sein. Man kann diese Umkehrung aber durchaus als Kippen der alten Vorstellungen vom Sehnsuchts- und Kraftort begreifen. Zumal der Wald bald auch ganz real kränkeln sollte: In den 1980er-Jahren fraß sich der saure Regen nicht nur durch Baumrinden, sondern genauso ins Bewusstsein der Nation.
In der Lyrik dahinsiechend
Wenn heute vom Wald die Rede ist – und das gilt gleichermaßen für die Literatur oder den Film –, dann in gebrochener Weise: ironisch oder im Zusammenhang mit der Umweltzerstörung. Mit nationaler Aufladung hat das nichts mehr zu tun. Und wenn sich der zwischen Berlin und Tel Aviv pendelnde Künstler Eldar Farber auf scheinbar romantisch konnotierte Waldlandschaften konzentriert, dann muss man dazu wissen, dass seine Familie den Holocaust überlebte und seine Vorstellungen von deren Erzählungen geprägt sind. Bei der Münchner Malerin Ilana Lewitan ist es das Schicksal des Vaters, das sie verarbeitet. Auf der Flucht vor den Nazis konnte er sich im Dickicht verbergen. Doch Lewitans kahle Baumriesen wirken bedrohlich wie breitbeinig auftrumpfende Mörderbanden. Schutz und Grauen treffen im Wald wie in einem Thriller aufeinander: Diese Ambivalenz, die beim Verbrechen zum Extrem tendiert, lässt den Wald zum schauerlich mysteriösesten Schauplatz überhaupt werden, verbunden mit dem Topos der Wildnis, des Ungeheuren, aber auch des Ursprünglichen, wohin der Mensch zurückkehren und eins werden kann mit der Natur.
Vom Leben als Wolf: Im Film „Wild“ der Regisseurin Nicolette Krebitz folgt die Protagonistin einem Wolf und lässt sich auf ein Leben in der Wildnis ein.
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In der letzten Konsequenz geht das mit einer bewussten Zivilisationsflucht einher, wie sie in zahlreichen Dokumentationen über moderne Einsiedler und Aussteiger festgehalten ist. Auf eine verstörende Spitze hat das die Regisseurin Nicolette Krebitz getrieben. In ihrem Film Wild (2016) lässt sie die junge IT-Spezialistin Ania einen Wolf einfangen, um dem Raubtier schließlich, nach Tagen einer instinktgesteuerten, völlig irrationalen Zweisamkeit in der eigenen Wohnung, in den Wald zu folgen. „Wo ihre Seele Frieden fand“, hätte es in den Gedichten der Romantik geheißen. Aber längst siecht dieser Wald auch in der Lyrik dahin.
Vom Sehnsuchtsort und Disko-Wald
Beim 2019 verstorbenen Lyriker Günter Kunert gab er bereits in den 1980er-Jahren seine „letzte Vorstellung“ (Der deutsche Wald gibt seine letzte Vorstellung, erschienen im Bildband Der Wald). Bloße Naturpoesie stand zuvor schon unter dem Verdacht der Harmlosigkeit und war von Vertretern wie Hans Magnus Enzensberger oder Günter Eich politisch wie moralisch aufgeladen worden. Bei Ingeborg Bachmann manifestiert sich außerdem die Entfremdung in Versen wie „In den Bäumen kann ich keine Bäume mehr sehen“. Zugleich bleibt der Wald eine Art Spiegel der seelischen Befindlichkeiten, nirgendwo sonst wird so emotional über Bäume diskutiert wie in Deutschland.
Nur hier konnte Alexandras Klagelied vom „toten Baum“ (Mein Freund der Baum, 1968) zum großen Hit werden, deutlich vor der Ökobewegung. Und nur hier konnte der Wald sogar in der Disco landen. Wolfgang Voigt, einer der wichtigsten Protagonist*innen der Techno-Szene, wollte mit einem Album wie Königsforst (1998) deutsche Popmusik schaffen. Neben klanglichen Bezügen zu Richard Wagner durfte der Wald darin auch wieder zum mehr oder weniger ironisch aufgefassten Sehnsuchtsort werden.
Für ihr Lied „Mein Freund der Baum“ ist die deutsche Schlagersängerin Alexandra bis heute berühmt.
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Es kann aber auch ganz „klassisch“ in den Tann gehen: Die russisch-deutsche Komponistin Sofia Gubaidulina fing in den späten 1970er-Jahren die Klänge des Waldes ein, verspielt und virtuos. Dagegen verstand ihn Klaus Lang in seinem musiktheatralen Stück fichten von 2006 vor allem als Idee. Die Bühnenbildnerin Claudia Doderer schuf dazu einen abstrakten Wald, in dem das Publikum umherwandeln oder einfach nur lauschen durfte – der Spaziergang wurde zum gedanklichen Abenteuer.
Der Wald ist eine Projektionsfläche geblieben und mittlerweile verknüpft mit Zukunftsängsten, Klimawandel und der Zerstörung der Lebensgrundlagen. Auf der anderen Seite steht er für Ruhe und Einfachheit. Der Niederländer Herman de Vries lebt seit 50 Jahren im fränkischen Steigerwald. Seine Kunst aus Wurzeln und Blättern fällt ihm quasi vor die Füße, und er muss nichts in sie hineininterpretieren: „Natur ist sich selber genug und soll dem Menschen auch genug sein“, lautet das Credo des fast 90-Jährigen. Für den Wald wäre das immer noch am besten.
Dem Niederländer Herman de Vries fällt seine Kunst aus Wurzeln und Blättern quasi vor die Füße: Ausschnitt aus dem Werk „40 Gräser der Vegetation von 2007“ in der Ausstellung „herman de vries - all all all werke 1957 -...“.
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