Europa
Das Dorf am Ende der Welt, aus dem ich komme
5873 Kilometer Autofahrt, der Geruch von Energy-Drinks, Prostituierte und Gangster – die Autofahrt ins kasachische Heimatdorf meiner Familie ist eine Zumutung. Und doch denke ich voller Schmerz und Sehnsucht daran.
Von Artur Weigandt
Es ist 2010, Sommer in einem kleinen Dorf im Emsland. Deutschland versagt bei der WM gegen Spanien, Millionen Deutsche verbringen ihren Urlaub dicht an dicht auf Mallorca. Vor unserem weißen Backsteinhaus schluckt unser grünes Auto derweil Taschen, Essen, Geschenke, Instant-Nudeln und eine ganze Palette Energy-Drinks. Nicht nur der Kofferraum wird gefüllt, sondern auch die Rückbänke und der Fußraum – darüber eine Decke.
Wie jedes Jahr wollen wir meine Großeltern in Kasachstan besuchen. Durch Polen, die Ukraine, Russland bis nach Kasachstan: 5873 Kilometer, fünf Tage Autofahrt. Für uns ist das die günstige Alternative; Flugtickets und Visum haben schon früher ein halbes Vermögen verschlungen.
Am Abend vor der Fahrt kommt mein Vater auf mich zu: „Da deine Mutter bei deinem Bruder sitzen wird und sich um ihn kümmert, wirst du neben mir sitzen und mich navigieren. Du bist mit 16 fast ein Mann.“ Er legt einen Weltatlas auf den Tisch, blättert darin, flucht und misst die Entfernungen zwischen den Orten aus. „Das musst du auch während der Fahrt machen. Im Osten gibt es nicht die Beschilderung, die wir aus Deutschland kennen“, sagt er und hält ein Lineal zwischen die Städte Cottbus, Krakau, Lviv, Kiew, Charkiw, Woronesch, Samara, Ufa, Omsk, Pawlodar – eine halbe Weltreise.
Einsamer als ein Fernfahrer
Mein Vater fährt über die Autobahn, als würde er uns in den Schlaf wiegen wollen. Manchmal überschreitet er die Geschwindigkeitsbegrenzung. Keiner von uns ist angeschnallt. „Von Pawlodar sind es nur noch 70 km bis zu unserem Heimatort. Von dort aus brauchen wir die Karte nicht. Den Weg kenne ich im Schlaf“, sagt mein Vater zu mir und nippt an seinem Energy-Drink. Ein Navi haben wir nicht.Im Auto riecht es so, als hätte jemand Energy-Drinks ausgeschüttet. Von dem Geruch wird mir übel. Um mich abzulenken, schaue ich auf die Autobahn. Breslau heißt hier Wroclaw, Krakau nennt sich Krakow. Wir jubeln, als das Auto über die Grenze fährt. Mein Vater fährt an eine Tankstelle, wo meine Mutter aussteigt, hineinstürmt und wenig später freudestrahlend mit Tee und Brötchen zurückkommt: „Sie verstehen mich! Polnisch ist so sehr mit dem Russischen verwandt.“ Für einen kurzen Moment fühlen wir uns zu Hause.
In Deutschland schämt sich meine Mutter für ihren Akzent. Für sie ist dieses Land, in dem mein Bruder und ich aufgewachsen sind, ein Ort, an dem es ihren Kindern gut geht. Es ist kein Land, in dem sie je das Gefühl hat, ungezwungen sprechen zu können. In Polen kann sie sprechen wie sie will, obwohl die Sprache so weit vom Russischen entfernt ist wie das Niederländische vom Deutschen. Ich mache das Radio an. Und verstehe nichts. Für diese Reise habe ich mein gemütliches Bett gegen einen Beifahrersitz getauscht. Ich stelle mir vor, dass sich so ein Fernfahrer fühlen muss – nur einsamer.
Die Sprache als Politikum
An der Grenze zur Ukraine stehen wir mit vielen anderen Menschen sechs Stunden im Stau. Die Luft ist stickig, Menschen fluchen in unterschiedlichen Sprachen, Abgase verschließen die Nasen. Überall weisen kyrillische Buchstaben den Weg. Ein Grenzbeamter klopft an die Fensterscheibe unseres Autos: „Stellen Sie sich hinten an. Sie sind im falschen Korridor.“ Nochmal sechs Stunden: Meine Mutter kann das nicht ertragen. Sie bricht in Tränen aus: „Das kann nicht wahr sein. Wie stellen Sie sich das vor? Wir sind schon seit Tagen unterwegs! Mein Sohn hat Asthma. Wenn er durch die Abgase einen Anfall bekommen soll, sind Sie Schuld!“Der Grenzbeamte lenkt ein und lässt uns weiter in unserer Spur fahren. Ich habe kein Asthma.
Wenn man durch die Ukraine fährt, scheint Sprache kein Politikum zu sein. Die Fischer an den Seen sprechen Ukrainisch, in Gasthöfen und kleinen Dörfern reden alte Menschen Russisch mit uns. Manch einer spricht die Mischform „Surschischk“. Sprachen kennen hier keine Staatsgrenzen. Damals war es für mich nur schwer vorstellbar, dass die Sprache irgendwann zum Politikum wird.
Bargeld und deutsches Bier
Deutliche Worte sprechen Polizisten auf den Straßen. Je tiefer wir ins Land hineinfahren, desto häufiger werden wir angehalten. Ich sehe ständig, wie Bargeld oder ein deutsches Bier die Hände wechselt. Bestechungen scheinen hier tief im Alltag verwurzelt zu sein. Bis zur Studentenstadt Charkiw sind es bestimmt schon 400 Euro, die meine Eltern den Beamten geben. In den Cafés ist die Stimmung ausgelassen. Kein Mensch scheint auch nur einen Gedanken an Russland oder die Europäische Union zu verschwenden. Heute frage ich mich, ob es dieses Cafes dort noch gibt, heute, nach Jahren des Krieges.50 Kilometer weiter nördlich sehen die Gebäude der Grenzanlage aus wie Dixiklos. Dort verrichten Grenzbeamte ihr Geschäft. Einer von ihnen wirft einen Blick auf unsere Pässe: „Deutsche aus Uspenka. Das klingt gar nicht Deutsch – wo liegt das?“ Meine Mutter antwortet: „Das liegt in Kasachstan. Aber eigentlich sind wir keine Deutschen. Ich bin Ukrainerin und mein Mann ist Russlanddeutscher.“ Mein Vater wirft ein: „Ich dachte, du bist Weißrussin.“ Der Grenzbeamte lacht: „Man ist immer die Nationalität, die einem die meisten Vorteile verspricht.“
Meine Identität bestimme ich
Es ist das erste Mal, dass ich die verschiedenen Nationalitäten meiner Eltern positiv sehe. Bei früheren Reisen waren wir immer die Deutschen, und in Deutschland sind wir bis heute die Russen. In dem Moment habe ich verstanden, dass ich zwischen verschiedenen Identitäten wählen kann – bis heute tue ich das. Meine Identität bestimme ich.Den Atlas balanciere ich seit Breslau auf meinen Knien. Mit Bleistift und Lineal hake ich die Orte, an denen wir vorbeifahren, ab. An den russischen Straßenrändern verstauben Bauern und Angler an kleinen Plastiktischen. Sie verkaufen Obst, Gemüse und getrockneten Fisch aus der Wolga. Wir sind in der ehemaligen Republik der Wolgadeutschen, zwischen Saratow und Samara. Nicht weit von hier soll das Dorf Schöntal sein.
Dort haben meine russlanddeutschen Großeltern bis zu ihrer Deportation 1941 gelebt. Mein Vater schaut mich an: „Ein großer Teil unserer Verwandtschaft wurde von hier vertrieben und nach Kasachstan oder Sibirien deportiert. Auch Onkel und Tanten von mir wurden in Arbeitslager gebracht. Wir sahen sie nie wieder.“ Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Wolga, Wassermelonen und Ruinen. „Hier kommen wir her?“, frage ich mich. Es fühlt sich fremd an. Ich nehme das Lineal und messe die Entfernung zum Uralgebirge ab. Noch 480 Kilometer bis zu den Bergen, die Europa und Asien trennen.
Die russische Version von „Shrek“
Mein Vater schaltet in den dritten Gang. Die Serpentinen haben keine Abgrenzungen, und die Wege sind schmal. Ein Kamaz, ein alter sowjetischer LKW, kommt uns entgegen, der Abstand zwischen den Fahrzeugen beträgt nur wenige Zentimeter, der Abstand zum Abgrund nur einen halben Meter. Mein Bruder merkt von alldem nichts. Zu sehr fasziniert ihn die russische Version von „Shrek“, die meine Eltern für seinen tragbaren DVD-Player auf einem Flohmarkt gekauft haben. An den Straßenrändern sind Flohmärkte, die Souvenirs und Gewehre verkaufen. Zwischen Tourismus und Gewalt: Der Vorhof von Sibirien.Wie jeden anderen Tag schlafen wir im Auto. Zu gefährlich ist es, ein Auto mit deutschen Kennzeichen stehen zu lassen. Bis nach Sibirien fühlte sich Russland noch wie ein Abenteuerurlaub an, doch als wir das Uralgebirge verlassen, verändert sich etwas: Wir werden verfolgt. Ich blicke in den Rückspiegel und sehe einen Lada, der auffährt und überholt. Einer der Insassen gibt zu verstehen: Wir sollen rechts ranfahren. Mein Vater drückt aufs Gaspedal. „Das sind Bandenmitglieder, die wollen unser Geld. Das bekommen sie nicht!“ Mein kleiner Bruder schläft. Meine Mutter wird panisch. Aus einer Seitenstraße taucht ein weiteres Auto auf und bremst uns aus. Ich suche den Blick meines Vaters und sehe, dass sich seine Pupillen weiten. Für meine Eltern muss es wie ein Déjà-vu sein: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren in den entlegenen Gebieten Banden das Gesetz.
Tscheljabinsk, Hauptstadt des Verbrechens
Aus dem hinteren Auto steigt ein Mann in schwarzer Lederjacke aus. Mit jedem Schritt, den er auf das Auto zugeht, steigt mein Puls. Er blickt in das Auto, sieht unsere Familie und schreit meinen Vater an: „Wie kann man nur so dämlich sein, seine Familie in Gefahr zu bringen? Für die weitere Durchfahrt macht es 300 Euro.“ Mein Vater versucht zu verhandeln. Den Mann lässt das kalt: „Sehe ich so aus, als würde man mit mir verhandeln können? Geld her oder ich muss meine Kollegen aus dem Auto holen.“Mein Vater übergibt dem Mann einen Teil unseres Ersparten. Er bedankt sich mit einem Zettel, auf dem unleserliche Worte und rätselhafte Zahlenkombinationen stehen: „Damit habt ihr freies Geleit durch Russland – wir werden euch nicht mehr belästigen.“ An der nächsten Polizeistation versucht mein Vater eine Anzeige aufzugeben – vergebens. „Sowas haben wir hier seit 20 Jahren nicht mehr.“ Die nächsten Stunden schweigen wir.
Wir ziehen an der Stadt Tscheljabinsk, der sogenannten Hauptstadt des russischen Verbrechens, vorbei. Plötzlich rattert das Auto, der Pfeil auf der Geschwindigkeitsanzeige fällt langsam ab. Mein Vater dreht das Auto von der Fahrbahn. Wir bleiben liegen – mitten in der dunklen sibirischen Tundra. Nur das Standlicht des Autos lässt erahnen, welche wilden Tiere sich in der Dunkelheit verstecken. Bis nach Tscheljabinsk sind es 150 Kilometer. Bis zur nächsten Werkstatt sind es vielleicht 5, vielleicht 400 Kilometer. In mir wächst die Angst, zwischen Banden und Bestien stecken zu bleiben: Zu sehr erinnert mich die Situation an Horrorfilme, in denen Serienkiller Gestrandete ermorden.
Prostituierte und LKWs
Und doch gibt es gute Menschen auf den weiten Straßen. In der Ferne sehe ich einen hellen Kegel: Ein Lada, der langsamer wird und anhält. Aus dem Auto steigt ein Mann aus und lächelt: „Na, liegengeblieben? Ich gebe euch Starthilfe.“ Eine halbe Stunde vergeht, bis das Auto anspringt, eine halbe Stunde dauert es bis zur nächsten Werkstatt — die noch geschlossen ist, als wir sie erreichen. Auf dem Rasthof sind sonst nur Prostituierte, die in und aus LKWs steigen. Eine klopft an die Scheibe und fragt meinen Vater, ob er mit ihr ein Zimmer mieten will. Er lehnt ab. Die Frau zuckt mit den Schultern und verschwindet in einem der vielen LKWs. Wir schlafen ein, völlig schweißgebadet.Am nächsten Morgen lässt mein Vater eine neue Batterie in unser Auto bauen. 24 Stunden Autofahrt bleiben uns noch. Ich bilde mir ein, mein Vater findet den Weg nur meinetwegen, ich navigiere meine Familie nur mit Lineal und Atlas durch Sibirien: Kurgan, Ischim, Omsk und dann die kasachische Grenze. Von Sibirien ist nur noch wenig zu sehen. Trockene grenzenlose Steppe ersetzt langsam die tiefen, dunklen Wälder. Am Horizont erstreckt sich die kasachische Grenze. „Ich wette, dass dein Opa schon im Garten sitzt, eine Zigarette raucht und auf uns wartet.“
Minarette und sozialistische Wandbilder
An uns ziehen Ruinen vorbei, in denen oft noch Möbel der Vorbesitzer stehen. In der Ferne sehe ich Kühe, die von einem Hirten über die Steppe getrieben werden. Wir fahren an der Stadt Pawlodar vorbei. Früher war es der Außenposten des russischen Imperiums. Heute steht dort eine Mülldeponie, an deren schwefligen Geruch ich mich heute noch erinnern kann. Es ist nicht mehr weit.An einer Kreuzung beginnt die Sandstraße, die in das Dorf führt, in dem ich geboren wurde. Es fühlt sich so an, als würde ein Puzzleteil hinzugefügt werden, das mir für meine Geschichte gefehlt hat. Die Straße, die kleinen Farmen, die Minarette, die Kirchen und die zerbrochenen sozialistischen Mosaikbilder an den Wänden von Schulen und Büros sprechen von einer Zeit, die ich nie erlebt habe.
Wir fahren an dem Krankenhaus vorbei, in dem ich geboren wurde. Heute ist es vollständig verlassen. Der Hof meiner Großeltern ist komplett mit Pflanzen überwuchert. Die türkise Farbe auf dem Holz ist verblichen. Mein Großvater sitzt im Garten und raucht. Er wartet auf uns. So wie er jeden Tag gewartet hat. Ich reiße die Autotür auf, laufe auf ihn zu und umarme ihn. Es fühlt sich an, als wäre ich immer bei ihm gewesen. Gerade jetzt, wo die Distanz am weitesten ist, sehne ich mich nach diesem Gefühl. Doch die Grenzen in meine Heimat bleiben vorerst geschlossen.
Dieser Artikel erschien am 17|08|2020 in der Zeitung Welt.