Im Gespräch mit
Alexander Nesanel Fried
„Ich habe das gleiche Gefühl wie in den 30er Jahren. Wir stehen vor einer großen Bedrohung. Und wenn ich die Erfolge der Nationalisten sehe, habe ich Angst“, sagt ein Mann, der den Holocaust überlebt hat.
Wie nimmt jemand, der eigentlich schon alles erlebt hat, die Ereignisse der letzten Jahre war?
Es ist eine Tragödie. Es ist noch gar nicht solange her, dass der Zweite Weltkrieg endete, bei dem 68 Millionen Menschen zu Tode kamen. Und nun breitet sich Russland erneut aus und Europa fällt auseinander. Wir müssen nun die Position Brüssels und Strasbourgs stärken. Die Union aber muss sich verändern, sie sollte die einzelnen Länder respektieren und deren Initiativen erhören, damit sich die Staaten, die rebellieren und so die Geschlossenheit Europas zerstören wollen, wieder beruhigen. Ich fühle mich betroffen, dass zu diesen rebellischen Stimmen auch der ehemalige tschechische Präsident gehört.
Sie denken wohl an Václav Klaus ...?
Ja, ich hatte gedacht, dass er ein Mensch ist, der demokratisch denkt, aber ich verstehe nicht, wie ein demokratisch denkender Mensch Vladimir Putin unterstützen und gegen die Einheit Europas sein kann. Russland erneuert doch gerade den Chauvinismus, der im 19. Jahrhundert entstanden war. Wenn ich auf den Aufnahmen von Militärparaden zehntausende Soldaten marschieren sehe, überkommt mich die Angst. Ich habe erneut Stalin vor Augen und alles, was er verbrochen hat. Putin spielt ein Spiel, das ihm leider viele Menschen glauben. Ich hoffe aber, dass ihm Tschechien und die Welt nicht auf den Leim gehen. Russland ist zwar ein Land, das die Menschheit vor dem Faschismus gerettet hat, im Krieg kamen 27 Millionen Russen um, was ein enormes Opfer war, aber es ist auch ein Land, das aus diesem Krieg keine Lehren gezogen hat.
Sie haben die größten Schrecken des Krieges erlebt und überlebt. Sie haben eine Erfahrung, die nichts ersetzen kann ...
Immer, wenn ich über den Zweiten Weltkrieg und über das, was damals passiert ist, erzähle, zerstört mich das. Immer noch höre ich die pfeifende Lokomotive in Žilina, die meine Freunde in den Tod fuhr. Immer, wenn ich über mir nahestehende Menschen spreche, die ich verloren habe, über meine geliebte Mutter, den Engel, der in Auschwitz ermordet wurde, habe ich bedrohliche Gefühle. Ich verstehe nicht, warum gerade ich überlebt habe und so viele meiner Freunde nicht. Sie wurden mit dem Zug nach Treblinka gebracht und dort erschossen.
... erinnert Sie nicht die gegenwärtige Situation an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg?
Ja, man kann Elemente erkennen, die in diese Richtung weisen. Ich glaube nicht, dass die Russen wirklich einen Dritten Weltkrieg wollen, aber wenn man sich anschaut, was auf der Krim und in der Ukraine geschehen ist, können wir niemals wissen, wohin das führt. Auch deshalb ist es wichtig, dass Europa kleine Staaten schützt, die in der Nähe von Russland liegen. Die kleinen Staaten, die unter Hitler furchtbare Grausamkeiten an Juden begangen haben und sich heute so sehr fürchten: Lettland, Litauen und Estland. Wenn sich Europa nicht aufrafft und zusammentut, kann es in der Zukunft zum Konflikt kommen. Die Welt spricht jetzt über unsere Probleme. Wirtschaftliche und politische. Der Schlüssel ist meiner Meinung nach aber, dass die europäischen Staaten zusammenhalten. Und dass Europa bei problematischen Staaten stärker eingreift, wie bei Polen oder Ungarn. Und das passiert nicht. Die europäischen Repräsentanten verschließen die Augen. Sie haben Angst.
Sie haben über Russland wie über eine große Bedrohung gesprochen. Sind wir nicht die viel größere Gefahr, unsere Nachbarn, der Nationalismus, dass wir erneut bereit sind einer bestimmten Gruppe von Menschen die Schuld für alles zu geben?
Wenn man über Nationalismus spricht, sprechen wir immer nur über Hitler. Wir sprechen nicht über die Menschen, was ein Fehler ist. Und dabei denke ich nicht nur an den deutschen Nationalismus. Schauen Sie nach Estland, Lettland, Litauen, Polen, diese Leute haben den Verbrechern geholfen. Und ganz Europa hat zugeschaut und schaut auch jetzt zu. Es war doch vor einigen Tagen der siebzigste Jahrestag des Pogroms in der polnischen Stadt Kielce, wo ein Jahr nach dem Krieg ein Mob grundlos etwa vierzig Juden gelyncht hat. Und heute tut Polen so, als wäre das nie geschehen. Aber wir brauchen gar nicht nur in der Vergangenheit zu bleiben. In der Welt geschehen ständig Grausamkeiten, und niemand tut etwas. Deshalb sage ich, dass Europa, das seine eigenen Kinder getötet hat, endlich mit der Wahrheit herausrücken und sich entschuldigen muss. Zwar haben wir politische Erklärungen gehört, dass sich dies niemals wiederholen darf, aber das ist zu wenig. Wir sehen Europa heute in einer großen Krise, ein Europa voller Chauvinismus und Nationalismus.
Wie meinen Sie das?
Wenn ich nach Polen blicke, nach Ungarn, auch in die Slowakei, auf die Erfolge der Nationalisten und Faschisten, muss ich zugeben, dass ich Angst habe. Denn damals, als ich vom Todesmarsch befreit wurde und gerade noch 35 Kilogramm wog, damals habe ich geglaubt, dass es anders sein wird, dass es sich ändern wird. Dass Europa lernt. Aber heute habe ich das gleiche Gefühl wie damals in den 30er Jahren. Dass wir vor einer großen Bedrohung stehen. Wenn wir auf den Brexit schauen und darauf, wie viele Faschisten es heute wieder in Deutschland gibt, es werden 10-20 Prozent angegeben, bekommt man Angst. Denn wenn jetzt der Feind Nummer eins die Muslime sind, können es später die Juden sein und weitere gesellschaftliche Gruppen. Bei Hitler waren es erst die Juden, dann die Slawen, Sinti und Roma.
Sie leben zum Teil in Tschechien und in Deutschland. Sehen Sie einen Unterschied darin, wie Tschechen und Deutsche die Flüchtlingskrise wahrnehmen?
Tschechen und Slowaken sind sehr gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, aber ich denke, dass das ein wenig ungerecht ist. Selbstverständlich haben die Deutschen einen großen Fehler begangen, als Kanzlerin Merkel sagte, dass wir alle aufnehmen können. Sie beging den Fehler, dass sie nicht kontrollierte, wer wer ist. Die Mehrheit der Ankommenden möchte nur in Ruhe mit Familie und Kindern leben, aber auch eine kleine Anzahl von Fanatikern, wie beim Islamischen Staat, kann einen nicht absehbaren Schaden anrichten. Wir können nicht alle aufnehmen, die kommen, aber wir müssen denjenigen helfen, die leiden.
Sie berichten von Ihrem Schicksal in Tschechien und Deutschland. Wo werden Sie besser empfangen?
Allein in den letzten beiden Monaten hatte ich sieben Vorlesungen. Das größere Interesse besteht in Deutschland. In Tschechien bin ich zuhause, aber dieser Staat hat nicht die Kraft, sich so intensiv mit der Vergangenheit zu beschäftigen wie Deutschland. Deutschland war der Initiator dieses schrecklichen Unrechts und hat eine Lehre aus der Geschichte gezogen. Tschechische Schulen empfangen mich oft, aber in Deutschland schlagen sie sich um mich.
Haben Sie das Gefühl, dass die Leute verstehen, was Sie ihnen sagen möchten?
Sie freuen sich unglaublich, die Mehrheit von ihnen hat noch nie einen Juden gesehen. Im Alter um die 14 interessieren sie sich für andere Dinge, aber die Älteren, um die 16 und 18, bekommen schon mehr mit. Mit Erwachsenen ist das vollkommen anders. Ich erzähle ihnen eine kleine Anekdote: Gerade kam hier in Prag im Goethe-Institut nach dem Vortrag ein Mann zu mir und sagte: „Wollen Sie nicht unser Präsident werden?“ Und ich darauf: Vielleicht sogar ja!