116 Gesichter der Demokratie
jádu-Autorin Klára Bulantová absolvierte ein fünfmonatiges Praktikum im Deutschen Bundestag. In ihrem Fazit erzählt sie von einem Treffen unter vier Augen, das unter zehn Augen stattfand, Fotoshootings mit sanftem Buddhalächeln und dem Versuch den Nahostkonflikt zu lösen.
Ich war Praktikantin im Bundestag. Jeden Morgen stand ich auf, setzte mich aufs Fahrrad (wenn es nicht geklaut wurde) und strampelte auf meiner Stadtrundfahrt entlang der Berliner Sehenswürdigkeiten in die Wilhelmstraße 68, wo das deutsche Parlamentsgebäude steht. Ich saß im Büro einer vom Volk gewählten Abgeordneten und begleitete sie oft auf verschiedene Sitzungen, in denen sie mich als ihre IPS-Praktikantin aus Tschechien vorstellte.
Fünf Monate lang fand ich mich in einer merkwürdigen Rolle wieder. Ich war weder Diplomatin, noch eine typische Praktikantin, keine Politikerin und keine Spionin. Trotzdem kam ich mir manchmal so vor, oder ich war überzeugt davon, dass mich andere so wahrnehmen. Um keinen internationalen Skandal zu verursachen und um ohne Schande wieder nach Tschechien zurückkehren zu können, entwickelte ich unbewusst einige Überlebensstrategien für den Parlamentsdschungel. Denn ein Dschungel ist das tatsächlich.
Grundsatz Nr. 1: Je nach Bedarf Pokerface oder sanftes Buddhalächeln aufsetzen!
Schuhe mit Absätzen trage ich für gewöhnlich nur in Phasen masochistischer Anflüge oder wenn mich Dritte dazu nötigen. Unter dem Wort Etikett(e) stelle ich mir eher den Erdbeeraufkleber auf einem Marmeladenglas vor. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nein, ich bin nicht unerzogen. Ich bin in der Lage abzuschätzen, welche Rock- oder Hosenlänge angemessen ist, aber sehr schnell wurde mir klar, dass ich für den den Aufenthalt im Parlament etwa zehn Zentimeter hinzuzählen muss. (Die Mode im Bundestag wäre im Übrigen ein Kapitel für sich.) In unklaren gesellschaftlichen Situationen setze ich ein sanftes Buddhalächeln auf für den Fall, dass ich keinen Schimmer habe, was mir mein Gegenüber mitteilen möchte und welche Reaktion er erwartet. Diese Situationen erlebte ich in meinem neuen Umfeld beinahe täglich.
Zu den Vorteilen einer Stipendiatin zählt ihre Entbehrlichkeit. Sprich: Sie steht meistens nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn sie nicht selbst (un)gewollt aus dem Praktikantinnenschatten heraustritt. Wir waren aber insgesamt 116 Stipendiaten und die Chance einem interessanten Abgeordneten zugeteilt zu werden war nicht gerade groß. Mich hat bereits beim Vorstellungsgespräch in Prag die SPD-Abgeordnete Petra Ernstberger ausgewählt. Die Sozialdemokratin führt den Vorsitz der deutsch-tschechischen Parlamentariergruppe.
Wie es besonders in linksgerichteten Parteien üblich ist, sollte ich alle – die Abgeordnete selbst eingeschlossen – von Beginn an duzen. Das habe ich geschafft. Darüber hinaus sprechen sich die Parteimitglieder der SPD mit „Genosse/Genossin“ an. Und weil diese Anrede bei uns zu Hause nur selten verwendet wird und wenn, dann als spöttische Bezeichnung für Kommunisten, habe ich zu Beginn noch gedacht, dass das ein historisch gefärbter Insiderhumor ist. Aber nach der etwa zehnten Email, in der mich der Absender „Liebe Genossin“ nannte, musste ich einsehen, dass das Wort unter deutschen Sozialdemokraten keine pejorative Konnotation hat.
Das Vertrauen in die eigenen Leute fehlt ihnen aber ganz offensichtlich nicht.
Dank dieses Vertrauens habe ich praktisch ohne Vorwarnung begonnen, an der Vorbereitung und Einhaltung des täglichen Programms meiner Abgeordneten mitzuwirken. Das sieht im Grunde genommen recht unschuldig aus. Dabei handelt es sich um ein Ping Pong, während dessen man sich nach jedem Ballwechsel zum Trainer umdrehen muss, um ihn zu fragen, ob man überhaupt weiterspielen und wohin der nächste Schlag gehen soll. Auf der anderen Seite – auch wenn einem das manchmal nicht so scheint – befindet sich der „Gegner“ in einer ganz ähnlichen Position. Als der tschechische Premier Bohuslav Sobotka nach Berlin kommen sollte, stellte sich die Verabredung eines Treffen mit meiner Abgeordneten als so kompliziert heraus, dass ich eine Weile gestaunt habe, dass sich manche Politiker überhaupt von Angesicht zu Angesicht treffen.
Schließlich fand ich mich an einem Tisch mit dem tschechischen Premier wieder – bei einem Treffen, das als „unter vier Augen“ firmierte. Im Politbetrieb bedeutet das, dass da zehn Augen sitzen. Das Treffen fand im Salon der tschechischen Botschaft statt, wo man beim bloßen Übertreten der Schwelle eine Zeitreise um 40 Jahre in die Vergangenheit unternimmt. Es waren da der tschechische Premier, eine Übersetzerin, der tschechische Botschafter, die Vorsitzende der tschechisch-deutschen Parlamentariergruppe… und ich auf der deutschen Seite des Tisches. Für ein solches Treffen gibt es im Tschechischen gar keine Bezeichnung. Ich war von der Konstellation so baff, dass ich mich noch nicht mal zu einem sanften Buddhalächeln durchringen konnte. Ungefähr so wie ein Knopf, den jemand versehentlich unter die Achsel näht, und der von dort aus beobachtet, wie die nachbarschaftlichen Beziehungen gepflegt werden.
Grundsatz Nr. 2: Es lohnt sich, flotte Waden zu haben.
Vor dem Termin in der Botschaft besuchte die gesamte Delegation mit „meiner“ Abgeordneten die Berliner Ausstellung Topographie des Terrors. Dabei wurde mir bewusst, wie wichtig es ist sich unbemerkt, und vor allem schnell, bewegen zu können. Ein unentbehrlicher Teil der Abgeordnetenarbeit des 21. Jahrhunderts ist nämlich die Präsentation auf Sozialen Netzwerken. Es reicht nicht, etwas zu tun. Man muss dabei auch gesehen werden. Ich bekam ein Handy in die Hand gedrückt und sollte damit Fotos schießen, auf denen meine Abgeordnete mit dem tschechischen Premier zu sehen ist – in einer Qualität, die ausreichend ist, um die mit der Nation zu teilen. Also wuselte ich herum und versuchte beide vor die Linse zu bekommen, ohne dass sie dabei zu stören, wie sie reflektiert oder kritisch die Fotos des Mannes mit dem komischen Schnauzbart und seinen Untergebenen betrachteten. Mir war, als hätte ich bei einigen Mitgliedern der Delegation ein sanftes Buddhalächeln bemerkt.
Das war aber nur eine der vielen kleinen Situation „im Terrain“, während denen man herumfliegt wie ein in einem Glas gefangener Nachtfalter. Viel häufiger habe ich mich im Dschungel des Bundestages bewegt. Wenn der Befehl erklingt „Bring für 15 Uhr die Sachen ins Plenum“, müssen bis 15 Uhr die Sachen im Plenum sein. Die räumliche Entfernung entspricht ungefähr der von der Prager Burg zur Straka-Akademie. Man läuft dann aus dem sogenannten JKH (Jakob-Kaiser-Haus) über zwei Brücken und drei Gebäude zum Aufzug, danach vorbei an den original Bonner Sesseln Konrad Adenauers bis zum Reichstag, ruft den linken Aufzug (, denn der führt in den Teil des Plenums, wo die linken Parteien sitzen), und hofft, dass man den Knopf schneller gedrückt hat als eine der vielen Besuchergruppen aus den Wahlkreisen, einer der Abgeordneten oder jemand mit einem ähnlichen Befehl wie man selbst.
Wenn man dann vor dem Türen zu Plenarsaal steht und auf die Uhr schauen möchte, ob man denn auch pünktlich ist, kann es passieren, dass man sein Handy vergeblich sucht, vielleicht weil es auf dem Weg von der Brücke im vierten Stock gefallen ist und nun mit zerschmettertem Display auf der Steindekoration im Erdgeschoss des JKH liegt. Aber das weiß man in diesem Moment noch nicht.
Grundsatz Nr. 3: Alles ist relativ.
Ein enormer Vorteil meines Praktikums war der uneingeschränkte Zugang zu den Parlamentsgebäuden. Aber es gab noch etwas anderes, was selbst dieses Privileg übertraf. Gemeinsam mit mir absolvierten ihr Praktikum weitere 115 politisch Begeisterte 35 Ländern der Welt. Offiziell damit sie Erfahrungen direkt „an der Quelle“ gewinnen, um hinterher in ihren Heimatländern an der Vertiefung der Demokratie mitwirken zu können.
Das klingt einfach. Interessant wird es in dem Moment, wenn man nach einigen Problemen und Konversationen feststellt, dass jeder ein anderes Verständnis von Demokratie hat. Wer aus einem Land mit einer langen demokratischen Tradition kommt, denkt über Demokratie diametral anders, als die Bürger eines Staates, in dem die Demokratie noch in den Windeln steckt und das Wort Bürgergesellschaft nur ein abstrakter Begriff ist. Letztere stehen dem gegenwärtigen Zustand der europäischen Demokratie in der Regel weitaus kritischer gegenüber als die, die bereits jahrelange Erfahrung haben. Kurz gesagt: Wir bildeten eine relativ explosive Gruppe, in der es – wie zu erwarten war – manchmal gehörig gebrodelt hat.
In der überwiegenden Mehrheit der Fälle verliefen unsere Diskussionen aber im Rahmen gegenseitigen Respektes und waren dabei ungemein bereichernd. Wir haben einen politischen Klub gegründet und über Themen diskutiert, die irgendjemanden von uns unmittelbar betrafen. Es gab Geschichten vom Arabischen Frühling, Erzählungen über die Schwierigkeiten des Lebens in Ost-Jerusalem und auf der anderen Seite der Barriere, Erinnerungen aus Familien, in denen die Schrecken des Holocaust bis heute spürbar sind. Die einen erzählten, die anderen hörten zu, diskutierten und stritten sich auch manchmal. Es zeigte sich aber, dass sich diejenigen, die bewaffnete Konflikte nie am eigenen Leib erfahren mussten, nur schwer einfühlen können in eine Situation, der die Stipendiaten aus Israel und Palästina für fünf Monate entflohen sind. Denen wiederum, müssen die Meinungen derer, die diesen Konflikt nur aus zweiter Hand kennen, vollkommen unverständlich vorkommen. Niemand kann die absolute Wahrheit für sich in Anspruch nehmen und die offensichtlich fehlende Möglichkeit eines Kompromisses wurde mit jedem „Aber“ frustrierender.
Den generationenlangen Konflikt konnten wir – überraschenderweise! – nicht lösen. Aber wir konnten aus ihm und der Diskussion über ihn aber eines lernen: das Bewusstsein, dass alles relativ ist. Die Probleme des Landes, aus dem wir kommen, unsere eigenen Werte und unsere Fähigkeit zur Toleranz, unsere Geschichte und der Erfahrungsschatz, den wir ihr verdanken und nicht zuletzt auch die deutsche Demokratie.
Übersetzung: Patrick Hamouz