Von Opfern zu Tätern
Die Ausstellung Die Kunst zu Töten thematisiert eine dunkle Seite der tschechischen Geschichte
Eine nackte Barbiepuppen steht mit ihrer kleinen Tochter an einer Wand und sieht zu, wie männliche Plastikpuppen ihre Freundin vergewaltigen. Weitere erschlagene oder erschossene Puppen liegen auf einer Wiese hinter der Stadt. Der junge Fotograf Lukáš Houdek (28) schuf eine Serie von 25 Bildern, die die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg aufgreifen. Sie zeigen konkrete Verbrechen, die von Tschechen verübt wurden. Das Projekt Die Kunst zu Töten hat nicht nur ein gewaltiges Echo ausgelöst, sondern auch ein sensibles Thema berührt, das vor allem die Frage nach der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf den Tisch bringt. Warum hat Lukáš Houdek sich gerade mit diesem Teil unserer Geschichte auseinandergesetzt? Und welche Botschaft vermittelt seine Ausstellung überhaupt?
Das Erste, was dem Besucher auffällt, ist der Einsatz von Puppen, eigentlich Kinderspielzeuge. „Puppen sehen uns sehr ähnlich, so dass die Fotografien dokumentarisch aussehen. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass da etwas nicht passt. Denn diese Puppen haben einen positiven Gesichtsausdruck, egal ob es die Mörder oder die Opfer sind“, erklärt Lukáš Houdek. Damit ziele er auf die Haltung eines großen Teils der tschechischen Öffentlichkeit, der seiner Meinung eine sehr heuchlerische Haltung zu diesen Ereignissen der Nachkriegszeit habe.
„Ursprünglich hatte ich ein solches Aufsehen nicht geplant“
Das Thema der Vertreibung der Deutschen begann Houdek vor einigen Jahren zu interessieren, als er in seiner westböhmischen Heimat deutsche Gräber fotografierte. „Als ich herausfinden wollte, was auf einem Friedhof geschah, der völlig zerstört war, stieß ich im Internet auf weitere Tragödien, die sich im ganzen Land ereignet hatten und die ich dann später visualisiert habe. Ich hatte zuvor nie davon gehört. Das hat mich schockiert.“ [siehe die Bildunterschriften] Während der so genannten „wilden Vertreibung“ kam es zur Deportation fast der gesamten deutschen Bevölkerung der Tschechoslowakei. Oft ging die Vertreibung mit Brutalität, mit Morden und Folterungen von Zivilisten einher. Schnell stellte Lukáš Houdek fest, dass von diesen Vorfällen auch viele Menschen in seinem Umfeld keine Ahnung hatten. Also beschloss er das Thema zu verarbeiten, um es auch denjenigen nahezubringen, die fast nichts darüber wissen.
Sieben überlebensgroße Fotografien Houdeks sind an der so genannten Artwall am Prager Moldauufer angebracht, also im öffentlichen Raum, wo jeder sie sehen kann. „Ursprünglich hatte ich ein solches Aufsehen nicht geplant. Meine Vorstellung war es, die Bilder in einem kleineren, stillen Rahmen zu präsentieren. Als jedoch das Angebot kam, nahm ich es als wichtige Herausforderung an, denn so erreicht die Botschaft viel mehr Adressaten. Trotzdem war ich mir des Risikos einer solchen Präsentation bewusst und mit diesem Gefühl habe ich mich an die Umsetzung gemacht“, sagt Lukáš. Das Problem lag ihm zufolge bereits darin, dass mit der Ausstellung ohne Vorwarnung auch Kindern konfrontiert werden, deren Eltern ihnen dann die Bedeutung der Fotos erläutern müssen. „Allerdings glaube ich, dass die Bilder nichts zeigen, was Kinder nicht ohnehin schon täglich im Fernsehen oder in Computerspielen zu sehen bekommen. Und gleichzeitig ergibt sich die Gelegenheit auch mit der jüngsten Generation über diese Dinge zu reden“, so der Fotograf.
Die Fotos werden auch in der Nationalen Technischen Bibliothek in Prag gezeigt. In einem Einführungstext zur Ausstellung erklärt Lukáš Houdek, dass er über die einzelnen Taten weder werten noch urteilen, sondern vielmehr häufig totgeschwiegene Fälle hervorheben wolle. Damit solle der Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des tschechischen Volkes unterstützt werden. „Ich bemühe mich zu zeigen, dass diese Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Es stört mich, wie wir heute über die Vertreibung sprechen, und dass wir nicht in der Lage sind sie einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Die Vertreibung als solche kann ich nicht beurteilen, die Art und Weise ihrer heutigen Interpretation und Bewertung schon.“
Sich auf ein solch ernstes Thema einzulassen ist nicht leicht und auch die Familie von Lukáš Houdek war über sein Engagement zunächst nicht besonders glücklich. „Anfangs waren sie etwas erschrocken. Sie konnten nicht nachvollziehen, warum ich mich der Thematik widmen wollte. Sie dachten, die Zeit damals sei halt so gewesen – die Deutschen haben den Krieg verursacht, also kam danach die Vergeltung. Sie machten da keinen Unterschied und haben offenbar nie darüber nachgedacht.“ Später jedoch verstanden sie die Absicht, machten sich vertraut mit den Ereignissen und begannen Lukáš zu unterstützen. „Meine Freunde haben mich von Beginn an unterstützt, auch solche, von denen ich das gar nicht erwartet hatte – darunter Juden, Roma, Homosexuelle und Angehöriger weiterer Gruppen, die während des Krieges verfolgt wurden.“
Vertreibung vs. Präsidentschaftswahl
Die Ausstellung fiel zufällig in die Zeit der ersten direkten Präsidentschaftswahl in der Tschechischen Republik im Januar 2013. Und relativ unerwartet wurde die Vertreibung der Deutschen nach dem Krieg zu einem beherrschenden Thema in der Endphase des Wahlkampfes. Der Kandidat Karel Schwarzenberg erklärte, einige der damaligen tschechoslowakischen Politiker müssten sich nach heute geltendem internationalen Recht für die Vertreibung vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten. Sein Kontrahent Miloš Zeman reagierte mit den Worten, „wer einen der tschechoslowakischen Präsidenten als Kriegsverbrecher bezeichnet, redet wie ein Sudetendeutscher“. („Ten, kdo označí jednoho z prezidentů Československa za válečného zločince, mluví jako Sudeťák.“)
„Ein großer Teil der tschechischen Öffentlichkeit springt auf solche nationalistischen Töne sehr gut an. Das war ein sehr populistischer, allerdings auch ziemlich gefährlicher Schachzug“, findet Lukáš. Auch einige Experten glauben, dass die Äußerung das Wahlergebnis zu Zemans Gunsten beeinflusst habe.
Lukáš Houdek ist überzeugt, dass der ungelöste Blick auf die Vertreibung nach dem Krieg auch Auswirkungen auf die Zukunft haben kann. „Ich spüre nach wie vor eine Spannung, die aber im heutigen Europa keinen Platz mehr hat. Es ist wichtig, dass wir fähig sind, uns mit diesem Unrecht auseinanderzusetzen und damit Dampf aus dem Kessel zu lassen.“
„Wenn wir weiterhin einer Diskussion über die Ereignisse der Nachkriegszeit aus dem Weg gehen, wird dieser Block bestehen bleiben“, vermutet Lukáš. „Wir haben einiges auf dem Kerbholz und das hier ist offenbar die empfindlichste Kerbe. Sobald man sie erwähnt, wird sofort losgeschrien, gedroht und um sich geschlagen. Das kommt nicht von ungefähr.“
Erinnern oder vergessen?
Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Erinnern nicht kontraproduktiv ist, weil es erneut ein Kapitel der Vergangenheit öffnet, das wir ohnehin nicht mehr ungeschehen machen können? Ob es vielleicht besser ist, den inneren Ärger zu überwinden und nach vorne zu schauen? Denn es gilt immer noch, dass Menschen vergeben können aber nicht vergessen. Lukáš Houdek glaubt, es sei notwendig darüber zu sprechen, wie es zu solchen Dingen kommen konnte, und wie man verhindern kann, dass sich so etwas wiederholt. „Wenn wir das Thema in den Keller sperren und glauben, dass es dort bleibt, lösen wir gar nichts. Das Ungeheuer wird wachsen, die Kellertür durchbrechen und kommen, um uns zu fressen. Gerade, damit wir überhaupt vorwärts sehen können, müssen wir über die düsteren Seiten unserer Vergangenheit sprechen.“
Die Ausstellung weist auf die traurige Tatsache hin, dass Menschen unter bestimmten Bedingungen fähig sind, sich von Opfern in Täter zu verwandeln und auf brutale Weise Rache zu üben. „Das sollten wir nicht vergessen, sondern im Gegenteil immer im Gedächtnis tragen“, meint Lukáš Houdek.