Albtraum vom passiven Bürger
Der französische Autor Michel Houellebecq provozierte schon immer gerne. Auch sein neuester Roman „Unterwerfung“ löste heftige Kontroversen aus. Er erschien unmittelbar nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris. Houellebecq entwirft in „Unterwerfung“ die Dystopie eines muslimischen Gottesstaates im Frankreich der 2020er Jahre und musste sich den Vorwurf gefallen lassen, ein Islamfeind zu sein. Zu Unrecht, findet jádu-Autorin Janika Rehak.
Frankreich im Jahr 2022: Für Literaturprofessor François verläuft das Leben in gleichförmigen Bahnen. Die Vorlesungen, die er hält, sind Semester für Semester dieselben, die Frauen an seiner Seite wechseln beständig. Seine Quote: Pro Jahr etwa eine Studentin. Er selbst wird älter, sein bevorzugtes Beuteschema bilden jedoch nach wie vor Damen in den frühen Zwanzigern. Meist geht es ein paar Monate gut, doch dann eröffnet ihm die jeweilige Semesterabschnittsgefährtin, sie habe „jemanden kennen gelernt“. Mit anderen Worten: Jemand, der jünger ist, der ihre Bedürfnisse besser versteht, der sich überhaupt in irgendeiner Weise für sie interessiert.
Denn genau das ist der Eindruck, den Houellebecqs Hauptfigur erweckt: Er interessiert sich für nichts und niemanden. Die einzige Ausnahme ist Joris-Karl Huysmans, der Schriftsteller aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, über den François seinerzeit promoviert hat und dessen Werke zumindest gewisse emotionale Regungen in ihm erzeugen. Das Ende seiner Beziehungen berührt den vergeistigten Professor in etwa so sehr wie das politische Geschehen in seinem Land, nämlich gar nicht.
Dabei ist dort so einiges im Gange: Die Stichwahl um das Präsidentenamt gewinnt der charismatische Ben Abbès. Und gemeinsam mit seiner Partei, der Bruderschaft der Muslime, nimmt er einige Veränderungen in der Gesellschaft vor. Zuerst verschwinden die kurzen Röcke vom gewohnten Bild der Straße und schließlich die Frauen aus dem Arbeitsleben. Die Mehrfachehe wird möglich und der Ratgeber Zehn Fragen zum Islam klettert auf der Bestsellerliste weit nach oben.
Islamophob, rassistisch, frauenfeindlich?
François verfolgt das Ganze weiterhin unaufgeregt, harrt bestenfalls mit einer Art neutraler Neugier der Dinge, die da noch kommen mögen. Doch die persönliche Krise bleibt nicht aus. Seine aktuelle jüdische Freundin wandert mit ihrer Familie nach Israel aus und „lernt dort jemanden kennen“, er selbst verliert als Nicht-Muslim seine Stelle an der nunmehr ebenfalls muslimisch ausgerichteten Uni. Schließlich hält auch die Lektüre von Huysmans keine Antworten mehr bereit. Und während François zwischen professionellen Sexworkerinnen und Selbstmordgedanken hin- und her pendelt, ahnt er, dass die neue Gesellschaftsordnung auch ihn dazu zwingt, sich neu zu positionieren.
Ähnlich wie die Islamratgeber in dem fiktiven Szenario kletterte Houellebecqs Roman die Bestellerlisten rasant hinauf. Die zeitliche Überschneidung des Erscheinungsdatums mit den islamistisch motivierten Terroranschlägen in Paris steigerte nicht nur die Verkaufszahlen, sondern bereicherte auch die leidenschaftliche Debatte um den Islam um eine weitere Facette. Dabei waren viele Reaktionen auf Unterwerfung nicht besonders positiv. Islamophob, rassistisch, frauenfeindlich, diese Worte wurden nicht nur als Beschreibungen für das Buch verwendet, sie muteten teilweise an wie ein direkter Vorwurf an den Autor.
Zugegeben: Die Darstellung der Frauen in der Geschichte ist arg gewöhnungsbedürftig. Sie sind Geliebte, Bettgefährtinnen, bezahlte Sexworkerinnen – und als solche ab einem gewissen Alter eher unattraktiv, aber dann können sie sich immerhin noch in der Küche nützlich machen. Wirklich ernst zu nehmende Frauenfiguren spielen in der Geschichte keine besondere Rolle. Doch ist es wirklich der Koran, ist es wirklich die neue Gesellschaftsordnung, die Frauen aus dem Berufsleben entfernen will, sie zum Objekt degradiert und sie wahlweise ins Bett oder in die Küche verbannt? Oder ist es vielmehr die Sicht des Protagonisten, der Frauen nicht als gleichberechtigte Partnerinnen wahrnehmen kann oder will? Und ist es wirklich nur seinem Alter geschuldet, dass er mit traumwandlerischer Sicherheit von seinen jungen Freundinnen verlassen wird?
Pegida ist deutlich aggressiver, radikaler und… weniger informiert
Hauptfigur François gelingt es bis zum Schluss nicht, Leserherzen zu erobern. Er ist zu weich, zu apolitisch, zu desinteressiert an allem und jedem (außer Rotwein, Essen, Sex und Huysmans), irgendwie gar nicht wirklich greifbar: der berüchtigte Mann ohne Eigenschaften. Er diffundiert wie ein passives Molekül durch die Geschichte, reagiert mehr als dass er agiert und scheint nie so richtig zu wissen, was er eigentlich will.
Hat Houellebecq damit also eine „schlechte“ Hauptfigur geschaffen? Ganz im Gegenteil. Denn François mag zwar kein sympathischer Zeitgenosse sein, aber sein Handeln ist durch und durch stimmig. Wer genau also ist François? Er ist ein unbeschriebenes Blatt. Der passive Bürger, dem egal ist, was um ihn herum passiert. Der nichts unternimmt, um die Geschehnisse in die eine oder andere Richtung zu steuern, der das Heft aus der Hand gibt und der schließlich keine andere Wahl hat, als die Umwelt und das, was sich in ihr entwickelt, so hinzunehmen wie es ist.
Und: François ist derjenige, der immer bestrebt sich, es sich so leicht wie möglich zu machen und für sich selbst das Beste herauszuholen. Sein Leben lang war er nicht religiös, nicht einmal in irgendeiner Weise spirituell. Doch als es ihm persönliche Vorteile bringen kann, wird der Islam für ihn plötzlich ungemein interessant. Und genau das macht diese Figur so erschreckend, vielleicht aber auch erschreckend realistisch. François fügt sich den Umständen und erweist sich in seinen Idealen als überaus flexibel. Vermutlich würde er auch den Papst feiern, den Dalai Lama oder das Fliegende Spaghettimonster der Pastafari, solange er selbst irgendetwas davon hat.
Houellebecqs Roman ist vom Vorwurf islamfeindlich zu sein absolut freizusprechen. Houellebecq nähert sich dem Thema provozierend, aber nie herablassend oder wertend. Manche Ansammlung von Pegida-Mitgliedern wirkt dagegen deutlich aggressiver, radikaler und… weniger informiert, was die Thematik angeht. „Kein Autor hält der offenen Gesellschaft ihre Albträume so schonungslos vor wie er“, so Sandra Kegel von der F.A.Z. über den Autor. Doch woran genau liegt es, dass der Leser das Buch nach der letzten Seite mit einem solchen Gefühl der Beklemmung zuklappt?
Der Albtraum, den Houellebecq entwirft, besteht nicht etwa darin, dass mitten in Europa ein Gottesstaat entsteht. Der Albtraum besteht vor allen in der Vorstellung, dass die Welt voll sein könnte von solchen Menschen wie François. Und dass einige davon vielleicht sogar in der Nachbarschaft wohnen.