Unsere Zukunft in der Vergangenheit
Seine Kindheit auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik, die sein Vater leitete, ist für den deutschen Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Joachim Meyerhoff (*1967) eine große Inspirationsquelle, aus der er sowohl für seine Theaterarbeit als auch beim Schreiben zweier Romane schöpfte. Zwei Jahre nach seinem Debüt „Amerika“ (2011) schrieb Meyerhoff den Roman „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“, der bei Kiepenheuer & Witsch erschien. Der Verlag Plus gab das Werk nun in einer Übersetzung von Michaela Škultéta auch auf Tschechisch heraus.
Die nichtalltäglichen Erfahrungen seiner Kindheit hat Joachim Meyerhoff bereits für das erfolgreiche mehrteilige Theaterprojekt Alle Toten fliegen hoch bearbeitet. In Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war beschreibt er sie nun zum zweiten Mal in literarischer Form. Es ist eine autobiographische Erzählung über das Heranwachsen Joachims (oder Jocki, wie er sich nennen lässt) auf dem Gelände einer psychiatrischen Klinik in Schleswig-Holstein, deren Direktor sein Vater war. Obwohl wir den Protagonisten und Ich-Erzähler über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren begleitet, schildert der Roman zu zwei Dritteln vor allem Joachims Kindheit. Es verwundert nicht, dass in Meyerhoffs Prosa gerade der kindliche Blick auf die Klinik, ihre Bewohner und die mit ihnen verbundenen Erlebnisse am meisten fesselt.
Der kleine Jocki wächst mit seiner Mutter, seinem Vater, zwei älteren Brüdern und dem geliebten Hund auf dem weitläufigen Klinikgelände auf. Er ist nicht gerade das, was man ein normales Kind nennt. Seine häufigen Wutanfälle brachten ihm den Spitznamen Blonde Bombe ein, die Eltern sorgen sich um ihn, seine Geschwister necken ihn. Und tatsächlich scheint es manchmal, als sei Jocki eher einer der Patienten, zu denen er im Übrigen ein überaus herzliches Verhältnis hat.
Der Autor beweist in der Beschreibung von Orten und Personen seine umfangreichen persönlichen Erfahrungen. So lässt er eine Reihe unvergesslicher Nebenfiguren auftreten. Einige von ihnen tauchen nur kurz auf, wie etwa der Jugendliche, der seine Zigarette in einem einzigen Zug raucht, oder der Junge, der keine Augen hat, und sie sich deshalb zumindest mit Filzstiften aufmalen lässt. Anderen Nebenfiguren sind wiederum ganze Passagen oder sogar Kapitel gewidmet – beispielsweise Margaret, die die meisten ihrer Sätze mit „ichglaubichwerdnichtmehr“ beendet, Dietmar, der davon besessen ist zu erfahren, wann, wer, was erfunden hat, oder der unter einer Vielzahl von Zwängen leidende Ferdinand.
Glaubwürdiger Führer durch die Welt einer psychiatrischen Einrichtung
Meyerhoffs Schilderung der Atmosphäre und der Gewohnheiten in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie (in der allerdings auch einige erwachsene Patienten wohnen) kommt ohne falsche Sentimentalität und Schönfärberei aus. Gleichzeitig aber zeigt der Autor Empathie und auch eine gewisse Nostalgie. Durch die Worte seines Helden bringt er dem Leser glaubwürdig und facettenreich die Atmosphäre des Ortes nahe, die der junge Joachim trotz ihres Schreckens mit unverhohlener Begeisterung auskostet: „Ich liebte dieses Gebrüll, diese Partitur nächtlicher Stimmen. Mühte mich, wach zu bleiben, nicht wegzudämmern. Wie sich das türmte und bäumte! Anschwoll und verhallte!“ (s.96)
Nicht weniger realistisch wirken die Vorstellungen einzelner Patienten und ihres Verhaltens, zum Beispiel eine Szene mit vier Zöglingen, die jedes Jahr zur Geburtstagsfeier des Direktors, also des Vaters des Protagonisten, eingeladen werden:
Ludwig unterbrach sein Mahl. Ich hatte schon vorher gesehen, wie sich etwas in seine, Ausdruck verändert hatte und die uns alle bekannte Wunschvorstellung von ihm Besitz ergriff. Er sprach mit fest aufeinandergepressten Zähnen, wodurch man ihn nur schwer verstand: „Heute streichelt Ludwig den Hund. Streicheln, streicheln, streicheln!“ Mein Vater antwortete: „Lieber nicht, Ludwig. Dieses Jahr lassen wir das mal. Der Hund ist heute sehr müde, der schläft!“ „Wach machen. Streicheln.“ Er bohrte sich seinen Spinnenfinger ins Auge, kratzte sich und schob so brutal seinen Augapfel hin und her, dass ihm seine Mutter die Hand hinunterbog. „Jetzt nimm dir doch noch so ein Stückchen Kuchen.“ Ludwig grimassierte, zog seinen blassen, mit Haaren nur büschelweise bewachsenen Kopf ein und verkrampfte. Er fing an zu weinen. Dietmar sprang auf und umarmte ihn, und Margret lachte: „Neejetztflenntderschonwiederichtiglaubichwerdnichtmehr.“ Kimberly aß unverdrossen ihren Bienenstich, kaute, wischte sich die Augen und glotzte wie eine todmüde Kuh vor sich hin. Nirgendwo fanden ihre Augen halt.
Mit der Reife kommt die Desillusion
Joachims Kindheit und Jugend verläuft trotz der ungewöhnlichen Kulisse nach üblichen Mustern und hinterlässt sowohl beim Helden selbst als auch beim Leser einen fast idyllischen Eindruck. Mit Beginn des letzten Drittels der Erzählung gibt es jedoch in Verbindung mit einem Zeitsprung eine Zäsur, die auf den merkwürdigen Titel Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war verweist. Das Bild von der glücklichen Kindheit beginnt zu bröckeln, die Illusionen über den vergötterten Vater lösen sich auf und die auseinanderbrechende Familie wird zu allem Überfluss gleich von mehreren tragischen Ereignissen erschüttert.
Schließlich verlieren auch die eigenartige Welt der psychiatrischen Klinik und deren Bewohner für Joachim ihren Zauber: „Auf meinem Schulweg fühlte ich mich zunehmend unwohl. Das von mir einst so geliebte Spektakel der Patienten stieß mich mehr und mehr ab. Der Grund dafür ist mir bis heute rätselhaft.“ (s.303) Es zeigt sich, dass man die die Uhr weder zurückdrehen kann, noch dass man es überhaupt versuchen sollte. Dem Menschen entgehen nämlich im Laufe der Zeit eine Reihe wesentlicher Dinge und andere vergisst er– unsere Vorstellung von der Vergangenheit entspricht also keinesfalls der Wirklichkeit.
Der zweite Teil des Romans besteht aus einigen voneinander unabhängigen Episoden aus dem Leben des Protagonisten, der nach seinem Wegzug aus dem Elternhaus mehrfach an die Orte der immer entfernteren Welt seiner Kindheit zurückkehrt. Der Blick auf das Geschehen auf dem Klinikgelände verliert so etwas an Schärfe und Tiefe, dem Autor ermöglicht der Tempowechsel jedoch, die allmählichen Veränderungen in der Klinik und im Haushalt ihres Direktors einzufangen. Der neu gewonnene Abstand führt den Protagonisten, dessen Interesse für die Schauspielerei den autobiographischen Charakter des Buches unterstreicht, zu einer Reihe überraschender Feststellungen und unbeantworteter Fragen. Und auch zur Erkenntnis, dass die Vergangenheit längst nicht so sicher und authentisch ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sondern, dass es an uns selbst ist, sie zu erschaffen, sie zu beleben und sie zu verstehen, damit sich vor uns der Weg in die Zukunft öffnen kann...
Übersetzung: Patrick Hamouz