Als Geister noch Gegenstand der Wissenschaft waren
Die Münchener Schriftstellerin Christine Wunnicke verwebt in ihrem neuen Roman „Katie“ historische Fakten mit Fiktion und verwischt dabei die Grenzen zwischen Erklärbarem und Übernatürlichem.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte eine ganze Reihe bahnbrechender naturwissenschaftlicher Entdeckungen und Erfindungen. 1851 demonstriert Léon Foucault zum ersten Mal die Erdrotation mit dem nach ihm benannten Foucaultschen Pendel, 1865 stellt James Clerk Maxwell die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik auf, und ein Jahr später erfindet Werner Siemens die erste selbsterregende Dynamomaschine. Im viktorianischen England entwickeln sich aber nicht nur die Naturwissenschaften weiter, auch der Spiritismus erlebt eine Blüte. Allerortens interessiert man sich fürs Übernatürliche, das Paranormale. Auch in gut situierten Bürgerhaushalten sind spiritistische Sitzungen mit oder ohne sogenannte Medien, die Kontakt zur Welt der Verstorbenen herstellen, eine modische Freizeitbeschäftigung.
Ein It-Girl der Spiritisten-Branche
Die sechzehnjährige Florence Cook ist ein solches Medium. Entdeckt hat sie dies eher durch Zufall, und nun lässt sie sich während öffentlicher Darbietungen in ihrem Elternhaus fesseln und in einen Schrank sperren, um den Geist der 1673 verstorbenen Katie, Tochter des berühmten Freibeuters Henry Morgan, zu materialisieren. Der Naturwissenschaftler William Crookes wird mit dem Fall betraut und soll ein wissenschaftliches Gutachten erstellen. Tatsächlich gelingt es Florence auch unter Laborbedingungen, den Geist der Piratentochter zu beschwören. Ihre Fähigkeiten erregen großes Aufsehen und Florence wird zu einer Art Popstar oder, wie es im Klappentext des Buches heißt, zum „It-Girl der Branche“.
Eine fremde junge Frau kam barfuß aus dem hinteren Teil des Labors. Sie trug ein weißes Kleid oder Hemd und über dem Kopf, über anscheinend offenem blondem Haar, ein weißes Tuch, das auf ihre Schultern herabfiel. […] Ihre Lippen waren schwarz im niedrigen Gaslicht, die Augen blass. Keine Farben waren in dieser Frau. Sie sah aus wie ein Lichtbild.
Der Verlag schreibt über Katie, dass alles wahr sei, was in diesem Roman steht. Und tatsächlich gab es den Wissenschaftler William Crookes (1832-1919), der die Kathodenstrahlen sichtbar gemacht, die Grundlagen der Lumineszenz und der Isotope entdeckt und Methoden zum Nachweis radioaktiver Strahlung entwickelt hat. Ebenso real ist der Fall um Florence Cook und die Materialisierung einer gewissen Katie King, der Mitte der 1870er Jahre die Gemüter in London erregte.
Historische Fakten verwoben mit dem Fantastischen
Christine Wunnicke versteht es wieder einmal glänzend, mit historischen, in diesem Fall naturwissenschaftlichen Themen zu spielen und diese in kluger, humorvoller Weise in anspruchsvolle, fesselnde Literatur zu verwandeln. Sie verwebt dabei gekonnt Fakten mit Fantasie. Mit einem Augenzwinkern beschreibt sie, dass die Grenze zwischen Wissenschaften und Pseudowissenschaften, zwischen Erklärbarem und Übernatürlichem Ende des 19. Jahrhunderts noch alles andere als klar gezogen waren. Vielmehr waren zahlreiche naturwissenschaftliche Entdeckungen damals genauso unglaublich und unerklärlich wie etwa die vermeintliche Kontaktaufnahme mit Verstorbenen. Eine Anekdote beispielsweise besagt, dass Bell zunächst ein Telefon erfinden wollte, um besser mit seinem an der Schwindsucht verstorbenen Bruder sprechen zu können.
Mit Katie ist Wunnicke nach Der Fuchs und Dr. Shimamura ein weiterer großartiger Roman gelungen, in dem aus heutiger Sicht deutlich wird, dass es den sogenannten objektiven Wissenschaften mitunter an Objektivität fehlen kann und dass Dinge, die heute vielleicht als unmöglich gelten, in Zukunft Realität sein könnten.