Wege suchen – Geschichten sehen
Deutsche und tschechische Jugendliche erforschen regionale Geschichte
Innerhalb der EU regelt das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit den Aufenthalt von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen. Jeder darf sich in seinem Heimatland frei bewegen, von dort ausreisen und sich in einem anderen EU-Staat neu ansiedeln. Jugendliche aus Bremerhaven und Plzeň folgten nun den Spuren von Menschen, denen dieses elementare Recht verwehrt wurde, Menschen die aufgrund ihrer ethnischen Herkunft ihrer Heimat entrissen und zwangsumgesiedelt wurden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf (tschechischen) Zwangsarbeitern während der NS-Zeit sowie der Vertreibung der Sudentendeutschen nach 1945.
Schöne Frauen und Herren in Lederhosen
Die 29 Schüler begaben sich eine Woche lang auf historische Spurensuche. Beteiligt sind auf deutscher Seite das Schulzentrum Geschwister Scholl in Bremerhaven, aus Tschechien reisten Schüler des Masaryk-Gymnasiums Plzeň an. Betreut wird das Projekt Wege suchen – Geschichten sehen von der Organisation Antikomplex in Zusammenarbeit mit der Lagergedenkstätte Sandbostel.
Bevor sich die 15 bis 19-jährigen Teilnehmer mit dem eigentlichen Thema ihrer Zusammenkunft beschäftigten, musste jedoch erstmal mit einigen falschen Vorstellungen über das jeweilige Nachbarland aufgeräumt werden. „Tschechische Frauen sind wunderschön und deutsche Männer tragen alle Lederhosen“, glaubten die Jugendlichen. Hier mischten sich mit einem Augenzwinkern vorgetragene Klischees, Halbwissen, persönliche Eindrücke und vielleicht auch ein bisschen Wunschdenken. „Insgesamt gingen die jungen Leute aber sehr aufgeschlossen und angenehm vorurteilsfrei aneinander heran“, freut sich Projektleiterin Wiebke Wittenberg von Antikomplex.
Lageralltag in Sandbostel
Ein großer Schwerpunkt beim Besuch in Deutschland lag auf der Besichtigung der Lagergedenkstätte Sandbostel. Zu NS-Zeiten als Stalag X B bekannt, diente der Ort als Arbeitslager für Kriegsgefangene (darunter auch Tschechen). Stalag X B war zwar kein Vernichtungslager wie Auschwitz, wo gezielt Menschen in den Gaskammern getötet wurden, dennoch waren die Umstände, unter denen die Häftlinge zu leben hatten, kaum besser: Zehntausende Gefangene überlebten den Zwangsaufenthalt nicht. Sie starben an Seuchen, Hunger oder wurden ermordet, auch von Menschenversuchen ist die Rede.
Besonders schlimm wurden die Verhältnisse kurz vor Kriegsende. 1945 wurde das KZ Neuengamme (Hamburg) aufgelöst und die Häftlinge wurden in regelrechten Todesmärschen in andere Lager getrieben, darunter auch Stalag X B. Als britische Soldaten das Lager befreiten, waren sie über die Zustände derart entsetzt, dass sie vorhatten, einige Dörfer in der Umgebung zu zerstören. Das wurde damals nur durch den Einsatz eines Pastors aus dem Nachbarort verhindert.
Wenn man schon bei der ersten Begegnung ausschließlich nette Menschen kennenlernt, die ganze Woche eine sehr schöne Zeit mit den Gastschülern verbringt, dann erkennt man spätestens, wenn diese wieder abreisen, wie sinnvoll und vor allem schön solch ein Projekt sein kann. Deswegen freue ich mich, so wie alle anderen auch, auf das nächste Jahr, wenn wir aus Deutschland nach Tschechien fahren dürfen. |
Doch wie genau sahen die Lebensumstände der Gefangenen aus? Und wie war das Verhältnis zwischen den Zwangsarbeitern und der ortsansässigen Bevölkerung? Diesen Fragen sollten die Schüler beim Workshop in Sandbostel aktiv nachgehen.
Schwierige Erinnerung: Einzelschicksale und Zeitzeugenberichte
Das gestaltet sich aber nicht immer so einfach: An die Kriegsgefangenen von damals erinnert heute so gut wie nichts mehr, und auch die Bereitschaft der Bevölkerung, sich mit der Geschichte ihrer Region auseinanderzusetzen, ist nicht unbedingt stark ausgeprägt. Die Gedenkstätte bietet zwar Bildungsprogramme für Schulen an, doch diese werden nur wenig genutzt. „Viele junge Leute, die in der näheren Umgebung wohnen, kennen das Lager gar nicht“, so Wittenberg. Ein Grund mehr, den Nachwuchs gezielt an die Erinnerungen von damals heranzuführen.
Und damit das Ganze nicht in dröge Quellenarbeit ausartet, die nur aus einer Aneinanderreihung von Zahlen und Fakten besteht, wird die Methode der sogenannten Oral History angewendet: Neben dem Nachvollziehen von Einzelschicksalen gehört dazu auch die Befragung von Zeitzeugen.
Die Leute waren mir großer Leidenschaft für die Sache dabei und das hat sich positiv auf den Verlauf des Treffens ausgewirkt. Während der ganzen Zeit habe ich weder Nörgeln noch Unlust mitzuarbeiten bemerkt. Für mich war das größte Erlebnis das Gespräch mit der Zeitzeugin Edit Johnson. Ihre Erzählung war so fesselnd, dass es mir vorkam, als stünde ich selbst vor dem Haus und sehe die KZ-Häftlinge auf der Straße vorbeigehen. |
Edith Johnson ist so eine Zeitzeugin. Sie stammt aus einem Dorf in der Nähe der Gedenkstätte und erlebte als Neunjährige den Häftlingsmarsch vom KZ Neuengamme nach Sandbostel mit. Ihre Eindrücke kann sie auch heute noch sehr plastisch schildern. Sie berichtete von der bedrückenden Atmosphäre und dem schrecklichen Zustand, in dem sich die meisten Häftlinge befanden. Dies ging auch an der Bevölkerung nicht spurlos vorüber: Viele Ortsansässige stellten den Gefangenen Wasser an die Straße, wobei man sich aber nicht erwischen lassen durfte, denn das war – natürlich – verboten. Auch von der Befreiung des Lagers wusste Johnson zu berichten, sowie von den Britischen Soldaten, deren Entsetzen über die üblen Verhältnisse im Lager als erstes in Wut auf die Bevölkerung umschlug. „Das war einer der Höhepunkte des Workshops“, so Wittenberg. „Die Schüler hingen förmlich an ihren Lippen.“
Ab 1952 wurde das Lager Sandbostel als Notauffanglager für junge männliche DDR-Flüchtlinge genutzt. In Kleingruppen konnten die Schüler auch hier etwas über Einzelschicksale erfahren. Außerdem wurde auch ein konkreter Gegenwartsbezug hergestellt, indem sich die Jugendlichen Gedanken darüber machten, wie es heute bei Asylbewerbern und Zuwanderern im Allgemeinen in Deutschland aussieht. Wie geht es zum Beispiel dem ausländischen Mitbürger, der im Moment nur geduldet wird? Und wie sieht das tschechische Äquivalent dazu aus?
Forschungsarbeit, Polka und tschechisches Liedgut
Im März 2013 wird es einen Gegenbesuch in Plzeň geben. Dann wird der Schwerpunkt auf der Zwangsvertreibung der Sudentendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei liegen. Ziel des Projektes ist es, eine Broschüre als historischen Führer durch die Regionen zu erstellen. Die Arbeit dafür werden die Schüler auch zwischen den Besuchen weiterführen. Fünf gemischte Gruppen werden, die bis zum Wiedersehen selbstständig weiterforschen und sich über die Ergebnisse austauschen.
Ich habe neue Freunde gefunden, habe die Kultur Norddeutschlands kennengelernt und mein Englisch und mein Deutsch verbessert. Am Ende der Woche wollten alle am liebsten die Zeit anhalten und nicht wieder nach Hause fahren. Leider kam die Verabschiedung, ein letztes gemeinsames Mittagessen und dann eine komische Heimfahrt. An das Treffen werde ich mich noch sehr lange erinnern und ich freue mich schon auf März, wenn die deutschen Teilnehmer zu uns nach Tschechien kommen. |
In der gemeinsamen Woche haben die Schüler schnell einen guten Draht zueinander gefunden. Es wurde nicht nur gemeinsam geforscht, sondern auch gemeinsam gefeiert. Die jungen Tschechen brachten den Deutschen bei, wie man Polka tanzt, und besonders die tschechische Gesangskultur hat die Deutschen begeistert. „Wenn sich viele Tschechen auf einem Haufen versammeln, dann finden sich mindestens zehn Lieder, die gemeinsam geschmettert werden können“, sagt Wittenberg. „Unsere deutschen Teilnehmer stellten dagegen etwas deprimiert fest, dass sie nicht mal ein einziges Lied kennen, bei dem alle mitsingen können.“
Komplett fertiggestellt werden soll die geplante Broschüre im Juni 2013, sie wird dann in deutscher und tschechischer Sprache erhältlich sein. Als voller Erfolg wird das Projekt Wege – Cesty dann gewertet, wenn nicht nur die beteiligten Schüler ihren Wissensstand erweitert haben, sondern auch die lokale Bevölkerung vor Ort erreicht und mehr für ihre eigene Geschichte sensibilisiert wird. „Im Idealfall“, so Wittenberg, „soll dies auch ein Anstoß für neue Projekte dieser Art sein.“