Das Unglück der anderen
Ein Schriftsteller als Doppelagent: Angeheuert, um zu helfen, aber beobachtend in eigener Mission. Kein Günter Wallraff [ein bekannter deutscher Undercover-Journalist, Anmerkung der Redaktion] im Krisengebiet, sondern eher ein Spion, der sich selbst beschattet. So schildert Rainer Merkel seine Rolle, unterwegs in Afrika, dem Kosovo und Afghanistan.
Als Mitarbeiter in Liberias einziger psychiatrischer Klinik trifft Rainer Merkel auf Schizophrenie-Patienten, dann sitzt er auf der Besuchertribüne im Gerichtssaal in Den Haag, sucht im Kosovo nach Traumatisierten oder reist als „embedded journalist“ mit der Bundeswehr nach Afghanistan. Das Buch Das Unglück der anderen sei „gelebtes Nachdenken über das Trauma“ und handele vom Krieg, behauptet der Klappentext. Doch Rainer Merkel interessieren nicht die Schlachten, sondern die humanitäre Karawane, die unweigerlich nach ihnen anrückt. Seine literarischen Reportagen spielen in der „Parallelwelt“ der „Internationalen“. So nennen sie sich selbst: Die Ausländer, die kommen, um zu helfen. Als Mitarbeiter der Hilfsorganisation Cap Anamur gehörte der Autor in Liberia selbst zu ihnen.
Herr Merkel, wieso haben Sie den heimischen Schreibtisch gegen die Arbeit in einer psychiatrischen Klinik in einem der ärmsten Länder Afrikas getauscht?
Das lässt sich nicht einem Satz zusammenfassen. In meinem Buch versuche ich mich auf 480 Seiten diesen Gründen anzunähern. Als ich losfuhr, hatte ich allerdings einen festen Vorsatz: In Afrika würde ich nicht schreiben. Ich wollte eine Auszeit nehmen. Das Unglück der anderen war nicht geplant. Jetzt war ich sogar noch im Kosovo und in Afghanistan und das Buch ist gerade erschienen.
Sie berichten in Ihren literarischen Reportagen nicht nur über sich selbst, sondern auch über viele andere Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sowie Bundeswehrsoldaten oder UN-Angestellte. Alles Europäer oder Amerikaner, die in den Kosovo, nach Liberia oder Afghanistan gekommen sind, um der dortigen Bevölkerung zu helfen. Oder wollen die gelangweilten Wohlstandsbürger am Ende nur etwas erleben?
Ich glaube schon, dass es viele reizt, in eine fremde Kultur einzutauchen. Aber die Gründe für so ein humanitäres Engagement im Ausland sind vielschichtiger. Mich interessierten vor allem die persönlichen Motive und wie einen die Arbeit verändert.
Sie berichten über den „Rhythmus aus Euphorie und Erschöpfung“, vom exzessiven, zwanghaften Feiern, von „Abenden der inneren Sabotage“ sowie vom Suchtpotential dieser Arbeit. Wie war es denn nun? Schaurig oder schön?
Es war toll, so viel in Gang setzen zu können, in so vielen verschiedenen Bereichen arbeiten zu können, sich komplett zu verausgaben. Ich bin Psychologe. In Deutschland hätte ich nie so viele verschiedene berufliche Rollen gleichzeitig ausüben können. Es war schwierig, wieder in mein altes Leben zurückzukehren. Ich habe zwei Jahre und das Schreiben dieses Buchs dafür gebraucht.
Sie betrachten die Entwicklungshilfe auch kritisch. Sie schreiben: Wir „beneiden die Einheimischen, dass sie hier wirklich leben und Ahnung von alldem haben, und die wir andererseits dafür bemitleiden, dass sie dazugehören und es hier aushalten müssen. Sie sind Teil des Dilemmas, Teil des Unglücks, Teil der ganzen Krise, über die [Anmerkung der Verfasserin: der Journalist] Thomas schreibt, die [der Unicef-Mitarbeiter] James verwaltet und von der [der UN-Mitarbeiter] Wayne irgendwie am besten profitiert.“ Macht Entwicklungshilfe Sinn?
Ich glaube, die Selbstheilungskräfte der betroffenen Länder werden chronisch unterschätzt. Das ist das eine. Zum anderen bewegen wir, die „Internationalen“, uns in einer post-kolonialen Welt. Was das bedeutet, wird einem erst vor Ort klar. Eine der bizarren Auswirkungen war, dass viele Liberianer mich wie eine mobile Jobagentur behandelt haben. Sie glaubten, Cap Anamur sei ein großes, wohlhabendes Unternehmen, bei dem ich fest im Sattel säße. Sie erwarteten, dass ich meine geschäftlichen Verbindungen für sie nutze. Dass Cap Anamur eine kleine, gemeinnützige Organisation ist, die kein Geld scheffelt, ist nur schwer vermittelbar.
Unterschied sich denn die Rolle der Bundeswehr in Afghanistan stark von der der Mitarbeiter einer NGO?
Die Situation in dem Land ist eine andere. Die ständige Bedrohung durch teils tödliche Anschläge macht die Abschottung noch extremer. Abgesehen davon teilen die Bundeswehrsoldaten viele der Empfindungen und Rahmenbedingungen von Entwicklungshelfern. Die deutschen Einsatzkräfte engagieren sich in Afghanistan schließlich in ähnlichen Bereichen. Was grundsätzlich anders ist: Die gesellschaftliche Anerkennung für ihre Arbeit fällt deutlich geringer aus. Das zeigt sich schon beim Abflug: Deutsche Soldaten starten von einem abgelegenen, eigens für sie errichteten Flughafen aus. Als müssten sie versteckt werden.
Zur Zeit leben Sie in Beirut. Entstehen dort wieder literarische Reportagen oder ein Roman?
In Beirut recherchiere ich über die Hotels und ihre Rolle während des Bürgerkriegs und befasse mich auch aktuell mit den Auswirkungen des Bombenanschlags, der nach vier Jahre Ruhe das Land im Oktober wieder erschüttert hat.
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Dezember 2012