Olympia auf den Gräbern der Ahnen
Die Olympischen Winterspiele in Sotschi sind das Prestigeprojekt Putin-Russlands. Die Vergangenheit der Stadt am Schwarzen Meer passt da nicht ins Bild. Sotschi gilt als letzte Hauptstadt der Tscherkessen. Vor 150 Jahren wurde das Volk von zaristischen Truppen aus dem Kaukasus vertrieben und lebt heute in aller Welt verstreut. Eine besonders große tscherkessische Minderheit lebt in der Türkei. Zu ihr zählen sich auch Emre (23) und Merve (25).
An einem sonnigen Sonntagmittag kommt auf der Istiklal-Straße mitten in Istanbul der stete Strom an Fußgängern und Schaufenster-Bummlern plötzlich ins Stocken. An der Odakule-Passage, wo die Einkaufsmeile sich zu einem kleinen Platz weitet, steht eine Gruppe von Menschen mit Fahnen, einige von ihnen in historischen Trachten. Es sind Mitglieder der tscherkessischen Diaspora in der Türkei, die unter dem Motto „kNOw Sochi 2014“ hier gleich eine Protestaktion gegen die olympischen Spiele in Sotschi veranstalten werden.
Irgendwo mittendrin sind Merve Tram (25) und Emre Tletseruk (23). Sie gehören zu dem Team Freiwilliger, die die Aktion koordinieren und Ansprechpartner für Teilnehmer und Passanten sind, man erkennt sie an ihren roten Armbinden. Gerade haben sie alle Hände voll zu tun, verteilen mehrsprachige Flugblätter, begrüßen Neuankömmlinge und geben kurze Interviews für Vertreter der türkischen Presse.
Kaukasisch denken
Merve ist Jurastudentin in Ankara und seit 2008 in verschiedenen Projektgruppen des Kaukasus-Forums aktiv. Die Jugend- und Studentenorganisation engagiert sich seit 2003 für die Rechte tschetschenischer Flüchtlinge und Aussiedler in der Türkei und hat ihre Arbeit im Laufe der Jahre auch auf andere Volksgruppen und Minderheiten aus der Kaukasus-Region ausgeweitet. Als Tochter einer Schapsug-Tscherkessin und eines Karatschaier bezeichnet sie sich zwar als Tscherkessin, betont aber gleichzeitig, dass sie „kaukasisch“ denke: „Das gemeinsame Schicksal der einzelnen kaukasischen Völker sollte uns eigentlich vereinen im Kampf um Anerkennung und Wiedergutmachung,“ sagt Merve. Deswegen setzt sie sich nicht nur für die Belange von Tscherkessen ein, sondern ist auch in einer Projektgruppe gegen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien aktiv.
Emres Eltern sind ebenfalls Schapsug-Tscherkessen, er arbeitet seit 2011 im Kaukasus-Forum mit. Er weiß um die Probleme, die Belange verschiedener Völker auf einen Nenner zu bringen, um gemeinsame Forderungen formulieren zu können. Darum sind beide sich einig, dass die Proteste gegen die Olympischen Spiele in Sotschi der kaukasischen Diaspora eine Art neue gemeinsame Identität gegeben haben.
„Wir wollen Russland daran erinnern, dass es Menschen gibt, die gegen Sotschi 2014 sind“, erklärt Merve. Emre ergänzt: „Wir werden eine Fackel am russischen Konsulat niederlegen. Die sieht fast genauso aus wie die offizielle Fackel der Olympischen Spiele, aber sie ist schwarz und steht für das andere Sotschi, das die russische Regierung lieber vergessen will.“
Wenn die Olympischen Spiele schon buchstäblich auf den Gräbern ihrer Vorfahren ausgetragen würden, dann sollten die Athleten und Zuschauer wenigstens Bescheid wissen: Über die Massaker, die vor 150 Jahren dort stattfanden wo heute Sport-Arenen und Luxushotels stehen und über das beharrliche Schweigen der russischen Regierung zu dem Thema.
Und nach Olympia?
Merve und Emre sind sich sicher, dass die kaukasischen Völker auch in Zukunft weiter für ihre Rechte kämpfen müssen. „Der Völkermord ist Teil unserer Geschichte, der geht nicht einfach so weg. Die Vertreibung aus dem Kaukasus jährt sich im Mai zum 150. Mal und wir arbeiten immer noch daran, wirklich alle betroffenen Völkergruppen in unseren Bemühungen einzubeziehen. Das wird weiterhin ein großer Teil unserer Arbeit sein: Aufklärung und Mobilisierung.” sagt Emre. Merve sieht die Verantwortung für Kompromisse und Aussöhnung bei der russischen Regierung, glaubt aber, dass es bis dahin noch ein weiter Weg ist. Sie fühlt sich gleichermaßen solidarisch mit den Minderheiten in der Türkei wie zum Beispiel Armeniern und Kurden, weil sie viele Parallelen sieht im Umgang Russlands und der Türkei mit der Vergangenheit.
Knapp 15 Minuten nachdem er sich in Bewegung gesetzt hat, ist der ungewöhnliche leise Protestmarsch schon fast am russischen Konsulat angekommen. Wenige Meter vor dem Ziel stoppt eine Reihe von Polizisten mit Schutzschilden und Helmen die Demonstranten. Die Teilnehmer halten symbolische Grabsteine aus Karton vor sich und bilden eine lange Gasse, durch die der Fackelträger schreitet. Er und seine Begleitung dürfen als einzige die Polizeisperre passieren, sie legen, umringt von Fotografen und Kameramännern, schweigend die Fackel an der Außenmauer des Konsulats nieder. Nach dem Verkünden einer Pressemitteilung löst sich die Demonstration langsam auf. Zurück bleibt nur die schwarze, mit Stacheldraht umwickelte Fackel.