Liebe ist das A und O
Rostislav Strojvus und seine Kollegen von der Erzbischöflichen Caritas Olomouc fahren seit acht Jahren regelmäßig in die Ukraine. Im Gepäck haben sie Spenden: Kleidung, medizinisches Material und zuletzt auch 300 Weihnachtsgeschenke für Kinder. Der griechisch-katholische Priester stammt selbst aus Kolomyja in der Westukraine. Im Interview berichtet er vom Leben in einem Land im Kriegszustand.
Von ihrer letzten Reise in die Ukraine sind Sie Mitte Januar zurückgekehrt. Wie war es dort?
Auch in der Ukraine wurde Weihnachten gefeiert, aber im Hintergrund war Trauer zu spüren. Denn fortwährend kehren aus den östlichen Landesteilen verletzte oder gefallene Soldaten in ihre Heimatgemeinden zurück.
Was hat der Krieg alles verändert an den Orten, an denen Sie Hilfe leisten?
Momentan versuchen die Ukrainer alles Geld, das sie haben und geben können, der ukrainischen Armee zu spenden, damit diese gegen die Invasion im Osten des Landes vorgehen kann. Es ist wichtig, dass sich der Konflikt nicht über die Grenzgebiete hinaus ausdehnt. Zudem kam es aber zu einem starken Währungsverfall. Früher [im ersten Quartal 2013, Anm. d Red.] waren 1500 ukrainische Hrywnja etwa 100 Euro wert. Heute bekommt man für 1500 Hrywnja nur noch knapp über 50 Euro [Stand 17. Februar 2015]. Die Menschen sind ärmer. Die Preise in den Geschäften haben zwar auf den Währungsverfall reagiert, aber die Gehälter nicht. Auch wenn die Kämpfe nur im Osten der Ukraine stattfinden, betrifft der Krieg jeden Bürger. Die Soldaten kommen nämlich aus der ganzen Ukraine. Die Kriegsversehrten, die Gliedmaßen verloren haben, kehren in ihre Dörfer und Städte zurück. An Beerdigungen von Gefallenen nehmen viele Einwohner ihrer Heimatgemeinden teil. Der Krieg ist so überall im Land präsent.
Die Ukraine sieht sich außerdem mit den Flüchtlingen aus den östlichen Landesteilen konfrontiert, die von den Behörden an die Caritas und psychosoziale Zentren verwiesen werden, mit denen wir zusammenarbeiten. Psychologen helfen den Flüchtlingen, außerdem leisten wir materielle Hilfe, also mit Kleidung, Essen oder Zuschüssen für die Unterbringung.
Die Invasion ist eine offene Wunde, die blutet. Die Kinder auf der Straße spielen Krieg, die Menschen sind nervös. Sie wünschen sich, dass der Krieg aufhört. Aber leider meint da jemand, seine Soldaten in ein anderes Land schicken zu müssen.
Die Menschen in der Ukraine haben es sehr schwer, es geht um ihr Leben. Paradoxerweise hat der Konflikt aber dazu geführt, im ganzen Land die verschiedensten Religionen und Konfessionen zu einigen, Muslime mit Christen, Juden und Christen und so weiter.
Wie genau sieht die Hilfe der Caritas in der Ukraine aus, abgesehen von den Hilfslieferungen?
Um konkrete Beispiele zu nennen: Wir helfen beim Bau einer Anlage zur Obstpresse. Kinder können sich am Obstsammeln beteiligen. Das Obst wird dann dort gepresst und der Saft verkauft. Die Leute können auch mit ihrem eigenen Obst kommen und es gegen einen bestimmten Betrag zu Saft pressen lassen. Die Ukraine ist reich an fruchtbarer Schwarzerde, das heißt, es dreht sich dort alles um die Landwirtschaft. Wir haben auch eine Schaffarm und eine Imkerei aufgebaut. Und wir konnten Finanzmittel auftreiben für ein Kinderheim, das nun ein Feld von 30 Hektar hat, dazu einen Mähdrescher und einen Traktor, um es zu bewirtschaften. Im nächsten Jahr wollen wir einen Fischteich anlegen, in dem man gegen eine Gebühr angeln darf. Für eine Farm haben wir einen Inkubator für Eier gekauft, damit Küken aus ihnen schlüpfen. An einigen dieser Orte helfen uns zudem noch Freiwillige von der Caritas Würzburg.
Welchen Problemen begegnen Sie bei Ihrer karitativen Arbeit in der Ukraine am häufigsten?
Ein großes Problem war die Obdachlosigkeit unter Kindern, die tiefe Wurzeln hat. Zum einen sind das sozial schwache Familien. Familien, die Geld gespart hatten, das sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren haben. Und das bißchen, was sie danach angespart hatten, haben ihnen verschiedene Betrüger wieder weggenommen. Außerdem sind die Banken pleite gegangen. Der Sozialismus wurde von einem harten Kapitalismus abgelöst, dazu breitete sich in den 90er Jahren die Mafia aus. Die Familien kämpften mit Arbeitslosigkeit, Alkoholimus, Unsicherheit. So landeten viele Kinder auf der Straße, wo sie sich zu Banden zusammentaten, um zu überleben. Sie verkauften und nahmen Drogen oder ernährten sich durch Diebstahl und Prostitution, sogar 12-Jährige. Die Polizei hat sie immer wieder aufgegriffen und zurück ins Kinderheim gebracht.
Aber auch von dort hauten die Kinder wieder ab, denn in den Heimen herrschen sehr schlechte Bedingungen. In Zimmern leben zum Beispiel zehn Kinder gemeinsam, es gibt keine Privatsphäre. Sie werden schikaniert und Essen gibt es auch nicht genug. Man behandelt die Kinder wie in einer Anstalt und nicht wie in einer Familie. Sie spüren dort keine Liebe, dabei ist Liebe das A und O. Die Situation verbessert sich aber allmählich. Der Staat hat Kinderheime eröffnet, die einen familiären Ansatz verfolgen. Wir als Caritas unterstützen in der Ukraine nicht-staatliche Kinderheime, die kirchliche Träger gegründet haben.
Ein weiteres Problem sind Altenheime, in denen sich kranke, pflegebedürftige Menschen im Rentenalter die Zimmer mit geistig Behinderten teilen. Das ist ein bislang noch ungelöstes Problem. Wir weisen immer wieder darauf hin und die dortige Caritas hat bereits häusliche Pflegedienste eingerichtet. Die ukrainischen Krankenschwestern unserer Partnerorganisationen versorgen die Kranken dann zu Hause in deren Wohnungen oder sie gehen für sie einkaufen, damit sie nicht in ein Altenheim müssen. Dieses Programm wurde von Deutschland finanziert.
Ist es mal passiert, dass Sie jemandem überhaupt nicht helfen konnten?
Vielen Menschen kann ich nicht helfen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine alte Frau, die aus einem Altenheim geflohen ist, wo das Leben für sie unerträglich war. Sie kam mit einer Ziege und ein paar Tüten voll Kleidung und ließ sich auf einem Bauernhof in Kolomyja nieder, in der Ecke eines Hangars, in dem Pferde untergebracht waren. Sie lebte dort ohne Wasser und ohne Strom mit den Tieren. Es gab da keine Heizung, der Raum wurde nur vom Atem der Tiere erwärmt. Dieses Bild bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf. Wenn Sie einen solchen Beruf haben wie ich, muss Ihnen klar sein, dass Sie nicht allen helfen können. Wenn es aber darum geht eine systematische Lösung zu finden, dann versuche ich zu tun, was ich kann.
Welche Stellung hat die griechisch-katholische Kirche in der Ukraine?
Die dominierende Konfession in der Ukraine ist das orthodoxe Christentum. Zur griechisch-katholischen Kirche bekennen sich etwa acht Prozent der ukrainischen Bevölkerung, die vor allem im westlichen Landesteil leben. Für mich ist das die Kirche meiner Eltern und Großeltern. Nach der Eingliederung der heutigen Westukraine in die Sowjetunion wurde die griechisch-katholische Kirche verboten und ihre Geistlichen verfolgt, eingesperrt oder nach Sibirien verbannt. Das geschah auch in der Slowakei. Wir galten nämlich als Träger der westlichen katholischen Kultur. Unter dem Totalitarismus wurden Messen heimlich in Privatwohnungen gefeiert. Je größer die Repressionen wurden, desto stärker versuchten die Leute ihren Glauben zu festigen. Wieder zugelassen wurde die griechisch-katholische Kirche erst wieder im Jahr 1991. Gegenwärtig kommt immer mehr über die Verfolgung der griechisch-katholischen Kirche ans Tageslicht, und es beginnt auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung.
Wie kam es, dass Sie Priester geworden sind?
Die griechisch-katholische Kirche hatte Antworten auf alle meine Fragen. Als ich mit acht Jahren meinen Vater verlor, hat mich das sehr geprägt. Er wurde von einem Lastwagen überfahren. Ich habe das nicht gut verkraftet. Ich habe mich einer Bande von Rowdys angeschlossen. Mit ihnen bin ich aufgewachsen. Dann habe ich von meiner Oma erfahren, dass mein Vater mal Priester werden wollte. Und als ich 16 war haben wir die ganze Nacht das Leinen bewacht – also das symbolische Leinen, in das der tote Körper Jesus gewickelt war. Wir haben immer zu zweit gewacht und uns alle ein bis zwei Stunden abgelöst. Wenn wir gerade nicht Wachdienst hatten, haben wir in der Sakristei so vor uns hingedämmert. Damals habe ich mich zum ersten Mal zu Hause gefühlt. Das war der erste starke Impuls.
Wie das?
Das fragen Sie am besten ihn da oben (lacht). Eine Rolle gespielt hat sicher der Kontrast der Ruhe der Kirche mit dem hektischen Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin.
Wenn Sie jetzt mit Kindern arbeiten, haben Sie einen Vorteil. Sie selbst hatten auch keine leichte Kindheit.
Die können mich bestimmt nicht für dumm verkaufen.
Fühlen Sie sich sich mehr heimisch in der Ukraine oder in Tschechien, wo Sie jetzt leben?
Als ich in der Ukraine im Priesterseminar war, hat mich der Bischof für das Seminar in Olomouc berufen. Er selbst hatte dort in den schwierigen 1940er Jahren studiert und Olomouc kannte er gut. Jetzt lebe ich schon 22 Jahre hier in Tschechien. Für mich ist die Situation ein bißchen schizophren. Man ist dort zu Hause, wo man Familie hat. Ich bin Teil der hiesigen Gesellschaft und meine Kinder gehen hier in eine tschechische Schule. Trotzdem sorge ich mich, was aus der Ukraine wird. Meine Mutter lebt dort.
Übersetzung: Patrick Hamouz