Keine Ausnahmen!
Tymoschenko ist nicht das einzige Opfer
Längst hat die Berichterstattung über die Fußball-Europameisterschaft die Meldungen über einen Boykott des Großereignisses durch europäische Spitzenpolitiker verdrängt. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel darf in gewisser Weise als Vorreiterin des Boykotts gelten, mit dem Regierungschefs und Außenminister gegen die Haftbedingungen der früheren ukrainischen Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko protestieren wollen.
Zwar hat Merkel bisher lediglich mit einem Fernbleiben von dem Turnier gedroht - anders als etwa die Kommissare der Europäischen Union oder der französische Präsident Francois Hollande, die einen EM-Besuch in den ukrainischen Austragungsorten definitiv ausschließen.Die Kanzlerin war aber eine der ersten, die öffentlich Tymoschenkos Nachfolger im Amt des Premiers, Viktor Janukowytsch, kritisiert und eine Hafterleichterung für Tymoschenko gefordert hat.
Es ist natürlich lobenswert, wenn Politiker für die Menschenrechte eintreten – umso mehr dann, wenn ihre Sorge bis hin zu Einzelschicksalen reicht.
Politische Neutralität gibt es nicht
Die Forderung einiger Sportfunktionäre jedenfalls, ein sportliches Turnier sei keine politische Veranstaltung und sollte daher auch nicht zur Bühne für diplomatische Konflikte werden, ist geradezu lächerlich. Wo es normal ist, dass Regierungen „ihre“ Mannschaften anfeuern, kann von politischer Neutralität nicht die Rede sein. Wer Sport und Politik getrennt betrachten will, ist entweder Idealist oder ignorant. Denn es gibt wohl kaum ein gesellschaftliches Phänomen, das die innere Sicherheit – für die die Politik zuständig ist – mehr beeinflusst als der Fußball.
Schließlich rühmen sich auch Sportler gern damit, dass sie dabei helfen, soziale und kulturelle Brücken zu schaffen. Wer so argumentiert, muss auch zulassen, dass die Politik sportliche Ereignisse nutzt, um diplomatische Beziehungen einzugehen oder eben einzufrieren. Die vorübergehende Sensibilität der eigenen Bevölkerung für ein bestimmtes Land nicht zu nutzen, um auf dort vorhandene Missstände aufmerksam zu machen, wäre eine verpasste Chance, die sich eine Demokratie nicht leisten darf.
Nachhaltige Kritik üben
Eine Einmischung von Politikern in die Politik der Länder, die sportliche Turniere austragen, ist daher grundsätzlich wünschenswert. Ein Kritiker, der glaubwürdig bleiben will, muss jedoch zwei Dinge beachten:
Erstens darf es keine Ausnahmen geben – schon gar nicht, wenn es um Menschenrechte geht. Sprich: Schweigen bei Olympischen Spielen, die in einem diktatorisch regierten Land wie China ausgetragen werden, bei gleichzeitigem Tadeln der ökonomisch unbedeutenden Ukraine wirkt wie Heuchelei.
Zweitens sollten Politiker sich um die Nachhaltigkeit ihrer Kritik bemühen. Die Situation der EM zu nutzen, um einen Autokraten zum Einlenken zu bringen, ist löblich. Aber auch nur dann, wenn sich die Situation für politisch Verfolgte im Land langfristig ändert. Das Medieninteresse an der Ukraine wird binnen weniger Wochen nach der EM abflauen – im Fall Aserbaidschan, das im Mai den Eurovision Song Contest ausgetragen hatte, lässt sich das schon jetzt eindrucksvoll beobachten.
Der „Fall Tymoschenko“ ist ein Fall vieler unbekannter Opfer
Das Tragischste, das im Fall Ukraine geschehen könnte, wäre ein Einlenken Janukowytschs in der Angelegenheit Timoschenko, das die Wortführer des Boykotts als ihren Erfolg verkaufen können. Denn den zahlreichen unbekannten politischen Häftlingen, die ungerechte Strafen in ukrainischen Gefängnissen verbüßen, wäre damit alles andere als geholfen.
In einem Nebensatz hat Guido Westerwelle zu Recht darauf hingewiesen, dass Julija Tymoschenko beileibe nicht das einzige Opfer von Janukowytschs Willkür ist. Genau diesen Eindruck vermittelt aber das Verhalten westlicher Politiker im „Fall Tymoschenko“. Die Betonung von deren Tochter Jewgenija, politischer Protest brauche Symbole – in diesem Fall also ihre Mutter – mag zwar stimmen. Ob Julija Tymoschenko, auf deren zweifelhafte Rolle in der postsowjetischen Ukraine immer häufiger verwiesen wird, dafür die richtige Kandidatin ist, sei dahingestellt. Was auch immer wahr ist an den Anschuldigungen, derentwegen sie im Gefängnis sitzt – die Ex-Regierungschefin verdient, wie jeder Mensch, ein faires Verfahren und menschliche Haftbedingungen. Solange Janukowytsch beides nicht für alle ukrainischen Bürger garantiert, sollten weder Angela Merkel noch andere demokratische Politiker zur EM in die Ukraine fahren.