Über den Archiporno
Wie soll man mit dem sozialistischen Erbe in Form brutalistischer Bauwerke umgehen? Irena Dudová hat geschaut, wie das in Polen gehandhabt wird, und was die Tschechen davon lernen können.
Ela und Marek Chmiel wuseln durch das Gebäude des Bahnhofs in Havířov. Ela läuft im ersten Stock hin und her zwischen den Europaletten des improvisierten Cafés Brüssel, einem Laden für Designermode und Fachleuten, die Vorträge halten. Marek fotografiert alles. Es findet eine von vielen Veranstaltungen im Rahmen der Initiative Nechceme zbourat vlakové nádraží (Wir wollen den Bahnhof nicht abreißen) statt. Ela und Marek finden den Bahnhof schön. Aber was denken die anderen Bürger von Havířov?
Über den Bahnhof der 75.000-Einwohner-Stadt im mährisch-schlesischen Industriegebiet wurde schon viel geschrieben. Und es wurde viel gekämpft, gelobt und geschmäht. Das etwas mehr als 50 Jahre alte architektonische Kleinod kämpft seit einigen Jahren ums Überleben. Es ist ein Zankapfel zwischen der Leitung der Tschechischen Bahn, dem Kulturministerium und der Stadtvertretung auf der einen und einer Gruppe Aktivisten aus allen Generationen, Architekten und Künstlern auf der anderen Seite. „Der Bahnhof lebt!“, schallt es von überall. Zumindest von denen, die den Bahnhof von Havířov für ein Symbol der Schönheit halten. „Hässlich, dreckig, unansehnlich, sofort abreißen“ – diese Meinung hören die Aktivisten jedoch von Passanten immer und immer wieder. Nur wenigen ist der architekturhistorische Wert dieses Gebäudes bewusst.
Der Bahnhof von Havířov entstand in den 1960er Jahren. Die politische Entspannung dieser Zeit schlug sich auch nieder in der Beschwingtheit und der Qualität des Bauwerks. Es wurde vom Architekten Josef Hrejsemnou im Brüsseler Stil errichtet. Bauten dieses Stils erinnern an Libellenflügel. Die großzügige Haupthalle mit einer zwölf Meter hohen Decke, die eleganten Schachbrettfliesen, das bunte Mosaik mit Blumenmotiven und die Treppe aus Stahlbeton – das alles ist in seiner Art schön, bloß für wen? Gegenwärtig haben die Proteste jedenfalls dazu geführt, dass das heruntergekommene Gebäude nicht den Status eines Kulturdenkmals erhält, der Abriss aber droht vorerst nicht. Im Gespräch ist sogar eine Restaurierung.
Wir sprechen nicht über Gebäude, sondern über Bilder
Im benachbarten Polen wird über den Abriss brutalistischer Bauten in den vergangenen Jahren eine wilde Diskussion geführt. Im rund 90 Kilometer entfernten Kattowitz, wie Havířov eine Bergbaustadt, stand man vor sechs Jahren vor einem ähnlichen Dilemma. Der dortige Bahnhof ist ein einzigartiges Werk des Warschauer Architekturtrios „Drei Warschauer Tiger“, eigentümlich nicht nur wegen der mächtigen Konstruktion von 16 Stahlbetonkelchen, die die Decke der oberen Halle trugen, sondern vor allem wegen des gruseligen, rohen Eindrucks, den das Gebäude erweckte. Der Bahnhof hat sich den Spitznamen „Brutal“ verdient, weil er eines der interessantesten Beispiele der polnischen brutalistischen Architektur war. Er war. Denn im Jahr 2011 wurde er abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Die Anhänger des Brutal haben trotz einer leidenschaftlichen Protestkampagne ihren Kampf verloren. (Im Rahmen der Kampagne wurden unter anderem T-Shirts verkauft mit Aufschriften wie „Brutal schön“ oder „Kreuzigt den Brutal nicht“.)
Mit dem Phänomen der polnischen sozialistischen Gebäude und ihrer Schicksale beschäftigt sich der polnische Journalist Filip Springer. In seiner neuesten Publikation Das Buch der Faszinationen (Księga zachwytów) würdigt er mehr als 100 polnische Gebäude und führt die Leser auf sehr persönliche Art an vergessene oder vergangene Orte in Polen. Springer schreibt an gegen den so genannten Archiporno. Der Begriff beschreibt einen relativ neuen Trend, im Rahmen dessen ansprechende aber oft unwahre architektonische Visualisierungen einer Art unseren persönlichen Kontakt mit Architektur ersetzen. „Archiporno weckt unrealitische Erwartungen gegenüber der realen Architektur und deshalb ist die Diskussion, die sich zum großen Teil ins Internet verlagert hat, kein Diskurs über die Gebäude, sondern über Bilder von ihnen. Wir schlittern über die Oberfläche, streiten uns hauptsächlich über Geschmack, lassen den ersten Eindruck wirken und denken nicht darüber nach, wie dieses Gebäude mit der Umgebung korrespondiert oder ob es funktional ist“, bringt es der Architekturkritiker Grzegorz Piątek auf den Punkt.
Filip Springer propagiert den Ansatz des persönlichen Kontaktes mit Architektur – mit den eigenen Sinnen und kritisch. Er stellt in seinen Büchern nicht nur zeitlose und kontroverse Gebäude aus der Zeit der Volksrepublik Polen vor. Empathisch widmet er sich auch den Schicksalen ihrer Erbauer und deren historischen Arbeitsbedingungen. Er stellt sie als Schöpfer vor, deren Motivation und Ansatz er zu verstehen versucht. Die Architekturbloggerin Bernadetta Darska beschreibt dies als Interesse an einer „verschwundenen Geschichte“, denn Springer schreibe über etwas, das „aus dem Gedächtnis gelöscht“ sei, über Bauten, die Symbol für Erfolg und Modernismus waren, aber die sich verwandelt haben in Orte, den niemand braucht, für die sich die Menschen schämen und sie ungerechtfertigt mit dem einst herrschenden System verbinden.
Dreck entfernen, Geschichte erhalten
Genauso erging es dem Brutal. Im Fall des Kattowitzer Bahnhofs war laut Springer das größte Problem das auch aus Havířov bekannte „hässlich, dreckig, unansehnlich“: einfach der Schmutz. Dreckig sei der Kattowitzer Bahnhof tatsächlich gewesen, sogar mehr als andere polnische Bahnhöfe, schreibt auch Springer. Ebensowenig verheimlicht er die Tatsache, dass Reisende aus ganz Polen den Bahnhof verabscheuten. „Ja, das Gebäude wurde wegen des Drecks abgerissen“, zitiert Springer in seinem Buch den Kattowitzer Architekten Tomasz Malkowski, der dem „Brutal“ ein Facebookprofil angelegt hatte und – ähnlich wie jetzt die Aktivisten in Havířov – zwei Jahre lang mit weiteren Sympathisanten für seinen Erhalt gekämpft hatte.
Malkowskis Vision, den nicht gerade repräsentativen Zustand des Gebäudes zu beheben, sagte ein Investor zu, der für das Konzept eines modernen Bahnhofs verbunden mit einem Einkaufszentrum eintrat. Der Investor versprach die Erhaltung des aus architektonischer Sicht Wertvollsten: der Konstruktion der Betonkelche. Diese so genannten Regenschirme waren nach dem Muster des spanischen Architekten Félix Candela gestaltet. Sie trugen das Dach und verliehen dem Gebäude einen so brutalen Charakter. Es wurde ein Vertrag unterschrieben, der Investor ließ eine Expertise anfertigen, in deren Folge er den Zustand der Kelche nach eigenem Gutdünken und zu seinem eigenen Vorteil als fatal bezeichnete. Das widersprach allerdings der offiziellen These von Experten, die lediglich auf leichte Korrosion an bestimmten Elementen hinwiesen. Dennoch genehmigte der Investor schließlich auch den Abriss der Kelche. Heute kann man sich in Kattowitz an einem ultramodernen Bahnhofsgebäude weiden und sich im Warmen einen Kaffee von Weltqualität genehmigen. Vom „Brutal“ keine Spur mehr. Es verschwand der Dreck, aber auch ein wenig Geschichte. Dabei hätte der Bahnhof vielleicht nur etwas „gereinigt“ werden müssen.
Dariusz Bochenko schreibt über Springers neuestes Buch als „ein Bild dessen, wie wir mit dem architektonischen Erbe der Volksrepublik Polen umzugehen verstehen“. Damit die Gebäude wenigstens wieder ein bisschen von ihrem früheren Zauber zurückgewinnen, reiche es einfach sie ordentlich zu säubern und aufzuräumen, behauptet Bochenko. Über den Modernismus in Polen schreibt er: „Manchmal fällt es schwer ihn zu bewundern und noch schwerer fällt es, fähig zu sein, ihn zu nutzen. Aber es lohnt sich, ihn zu verstehen.“ Verstehen kann man nun auch, warum die Ela und Marek in Havířov mit Wasserkübeln durch den Bahnhof schwirren und scheuern, wo es nur geht. Wer würde schon anstelle von Oden an die Schönheit von Stein und Beton weitere Nekrologe schreiben wollen?
Quelle: wikipedia
Übersetzung: Patrick Hamouz