Kulturgeschichte in 100 Sekunden

© CUT | cut.com, Screenshot „100 Years of Beauty - Episode 10: Germany (Brooke)“ Vor zwei Jahren startete die amerikanische Werbeagentur Cut Video ihre Serie „100 Years of Beauty“ und landete damit sofort einen viralen Hit. Die Videos zeigen nicht nur internationale Beauty Trends des letzten Jahrhunderts, sondern geben gleichzeitig eine kleine Einführung in Kulturgeschichte.

„100 Years of Beauty“-Playlist der Werbeagentur Cut Video.

Eine Frau vor einem neutralen Hintergrund, um sie herum wuseln mehrere Stylisten. In Zeitraffer kann man sehen, wie sie ihr einen Look nach dem anderen verpassen. Sie präsentiert ihn der Kamera für ein paar Sekunden im Normaltempo, mal mit einem strahlenden Lächeln, mal mit einer eleganten Geste ihrer Hände. Je einen typischen Look für jedes der letzten zehn Jahrzehnte sieht der Zuschauer in etwa hundert Sekunden. Die Serie zeigt die Entwicklungen in den USA, Ägypten, Äthiopien, Japan und vielen weiteren Ländern.

Die Videos sind kurzweilig. Es macht Spaß, die Entwicklungen zu verfolgen und sich durch die verschiedenen Varianten zu klicken. Schon das erste Video der Serie mit dem weißen Model Nina ging im November 2014 sofort viral. Die passende Portion Unterhaltung für zwischendurch. Und doch zeigen diese hundert Sekunden nicht nur Makeup- oder Frisuren-Trends, für die sich nur Modejunkies interessieren. Die direkte Abfolge der Jahrzehnte macht deutlich, dass Trends und Schönheitsideale immer auch politische Entwicklungen in einer Gesellschaft widerspiegeln. Ein Look pro Jahrzehnt: Da bleibt der Rückgriff auf Stereotype nicht aus.

Politische Bedeutung von Schönheitsidealen

Ein blondes Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen salutiert dem Zuschauer in den 40er Jahren der deutschen Variante. Der Look ist inspiriert von einer Fotografie von Leni Riefenstahl. 100 Years of Beauty: USA Men 2 zeigt in den 1970er Jahren einen schwarzen Mann mit einem Afro. Mit dem politischen Widerstand der schwarzen Bevölkerung in den USA änderte sich auch der Umgang mit dem natürlichen Haar. Inspiriert von kommunistischen Propagandaplakaten trägt die russische Frau in den 30ern ein rotes Bauernkopftuch.

„Es gibt Dinge in der Geschichte, die wir nicht exakt mit Worten ausdrücken können, aber wir können sie mit Bildern zeigen“, sagt Chris Chan dazu. „Politik besteht nicht nur aus Strategien und Wirtschaft, sondern auch aus den Bildern, die verbreitet werden.“ Er war Hauptverantwortlicher für die Recherchen zu vielen Videos und als visueller Anthropologe akademischer Berater des Produktionsteams. In den zusätzlichen Videoclips Research behind the Scenes erklären er und andere Recherchemitarbeiter ihre Inspirationen für die einzelnen Looks.

Die Making-Of Clips enthüllen außerdem, wie viel Aufwand hinter den 100 Sekunden steckt. Nicht nur, dass mindestens drei oder vier Leute mit dem Styling und Makeup der Models beschäftigt sind und eine ganze Filmcrew mit den Aufnahmen. Beeindruckend ist zum Beispiel auch, dass das männliche Model Samuel in 100 Years of Beauty: USA Men komplett ohne künstliche Haare auskommt. Die Looks wurden also aufgenommen in der Reihenfolge vom längsten zum kürzesten Haar- und Bartstyle. Auch die Vorbereitung der Looks nahm viele Arbeitsstunden in Anspruch.

Klischees und Authentizität

Da es sich um eine US-amerikanische Produktionsfirma handelt, liegt der Fokus natürlich auf der amerikanischen Gesellschaft. Die Beautystandards der weißen und schwarzen Bevölkerung werden in verschiedenen Clips thematisiert und man findet hier die einzigen Varianten mit männlichen Models. Angespornt vom viralen Potential produzierte Cut Videos immer mehr Clips auch zu anderen Nationen.

Obwohl an der einen oder anderen Stelle Klischees bedient werden, ist es den Machern gelungen, einen kleinen Einblick in die verschiedenen Kulturen zu geben und auch die politische Bedeutung von Schönheitsidealen zu hinterfragen. „Jedes Bild und jedes Gesicht trägt eine politische Bedeutung in sich“, glaubt Chris Chan und formuliert die Ambition: „100 Years of Beauty lädt ein, über diese Bedeutungen nachzudenken.“

Die Auswahl des einen Looks, den möglichst viele Zuschauer als kennzeichnend für das entsprechende Jahrzehnt empfinden, machte das größte zum gleichzeitig schwierigsten Ziel: die Authentizität. In der deutschen Variante dienten zum Beispiel Hildegard Knef, Nena oder Claudia Schiffer als Vorbilder.

Da natürlich nicht alle Nationen der Welt mit den Videos abgedeckt werden konnten, hat die Produktionsfirma auch viele Nachahmer inspiriert, ihre eigenen Versionen zu kreieren, wie 100 Years of Beauty in Moldavia oder Hungary. Für die Tschechische Republik gibt es leider noch keine Variation. Dafür aber eine für die Zukunft: 100 Years of Future Beauty, die ausgefallene Looks für das kommende Jahrhundert zeigt. Ob wir wirklich mal so herumlaufen werden?

Anne Weißbach

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Oktober 2016

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