Der Bart ist tot, lang lebe der Bart!
Die Trendprognosen zur Gesichtsbehaarung spalteten die großen Stilredaktionen in den letzten Jahren. Die einen erklärten den Barttrend schon für vorbei, während den anderen erst auffiel, dass Großstädte von vollbärtigen Hipstern besiedelt waren. Aber wie konnte der Bart wieder so beliebt werden? Und wer legt eigentlich fest, was trendy ist?
Es war kein berühmter Starfriseur und auch kein exklusiver Designer, der auf einmal wieder Lust auf Bart hatte und damit den neuen Trend bestimmt hat. Modetrends, so banal sie uns manchmal auch erscheinen, spiegeln gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wieder. Und damit beeinflussen sie uns alle in unserer täglichen Entscheidung, wie wir uns anziehen und stylen wollen, egal ob wir Modejunkies sind oder schnelllebige Trends uns eigentlich gar nicht wirklich interessieren.
Sicherlich haben manche Männer schon immer einen Bart getragen und werden es auch weiterhin tun, selbst wenn der Trend (nun wirklich) passé ist. Um aber den Ursprung des auch schon gar nicht mehr so aktuellen Barthypes zu ergründen, müssen wir in die 2000er Jahre zurückgehen: Von Bärten war hier keine Spur, ganz im Gegenteil, Frauen und Männer zupften sich die Augenbrauen, hatten blondierte Strähnchen und Bling Bling in den Ohren. Der geschniegelte David Beckham wurde für viele Männer zur Stilikone. Seine Nachahmer wurden auch als metrosexuell bezeichnet.
Von glattrasierten Schönlingen zu vollbärtigen Holzfällern
Designer, Modeinstitute und Trendagenturen wollen immer den nächsten großen Trend finden. Trendscouts sind für sie auf der Suche nach Stilen, die aus den Massentrends herausragen und die aktuellen Entwicklungen der Streetstyles zeigen. Experimentierfreudige Individualisten, wie die Männer, die sich zwischen all den glattrasierten einen Bart wachsen ließen, sind also eigentlich die wahren Trendsetter. Die Trendscouts fassen ihre Beobachtungen in sogenannten Styleguides zusammen, die das aktuelle Lebensgefühl einfangen sollen und den Modedesignern so als Inspiration für ihre neuen Kollektionen dienen. Auf den großen Laufstegen der Fashionshows werden Modezeitschriften und Fashionblogs darauf aufmerksam. Ab dann dauert es höchstens ein Vierteljahr bis auch die letzte H&M-Filiale das neue It-Piece im Sortiment hat. Einen Bart konnte man da zwar nicht kaufen, dafür waren sie auf sämtlichen Werbeplakaten zu sehen.
Trends, die sich wie der Bart hartnäckig über mehrere Saisons halten, werden in der Modebranche auch als Makrotrends bezeichnet, dazu gehören beispielsweise auch Tattoos, Ballerinas oder Nerdbrillen. An ihnen lässt sich besonders gut ablesen, welche Entwicklungen in der Gesellschaft vor sich gehen. Die ausgeprägte Tattoowelle der letzten Jahre steht für den Wunsch nach Individualisierung, Ballerinas passen nun mal viel besser in den sportlichen, bequemen Alltag als High Heels, Nerdbrillen sind Teil der Retrobewegung. Und der Bart? Der kann als Zeichen für eine neue Männlichkeit verstanden werden.
Megatrends – „Lawinen in Zeitplupe“
Auch diese gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen werden als Trends bezeichnet. Diese werden allerdings nicht von Trendscouts aus der Modebranche untersucht, sondern von Wissenschaftlern, den Trendforschern. Das Zukunftsinstitut, das von dem Publizisten und Unternehmensberater Matthias Horx gegründet wurde, ist die bekannteste Institution für Trend- und Zukunftsforschung in Deutschland. Seine Mitarbeiter unterstützen Unternehmen dabei, neue Produkte und Strategien zu entwickeln, um weiterhin marktfähig zu bleiben. Als einflussreichste Trenderscheinungen bezeichnen sie die Megatrends, „jene Veränderungsprozesse, die langfristig, nachhaltig und komplex die gesamte Welt verändern. Sie durchdringen alle gesellschaftlichen Bereiche, verändern Politik, Lebenswelten und Wertesysteme.“ Einer dieser epochalen Megatrends ist der Female Shift, der stetige Wandel der Position der Frau in den letzten Jahrzehnten. Frauen sind nicht mehr von einem Mann an ihrer Seite abhängig, sondern eigenständige Konsumentinnen, Arbeitnehmerinnen und Freizeitgestalterinnen.
Megatrend + Gegentrend = Metatrend
„Nach den Gesetzen der Trend-Dynamik erzeugt jedoch jeder Trend einen Gegentrend. Die Gesellschaft funktioniert hier wie ein Drucksystem, das sich ausgleichen will. Der Megatrend Gender Shift führt zu einem Widerstand der Männer, die ihre Privilegien nicht aufgeben wollen“, erklärt das Zukunftsinstitut die komplexen gesellschaftlichen Veränderungen. Natürlich heißt das jetzt nicht, dass alle Bartträger Anti-Feministen sind. Der Bart kann als ein Symptom dafür verstanden werden, dass durch die Veränderung der klassischen Geschlechterrollen auch der Mann auf der Suche nach einer neuen Männlichkeit ist. Gleichzeitig kann man den Bart als eine Hommage an vergangene Zeiten sehen, die vielleicht beständiger und weniger von Wandel bedroht schienen. Also schwappt auch die Retrowelle in diesen Trend mit hinein, genauso wie die Tendenz zu einer neuen Natürlichkeit.
Megatrends sind also nicht eindimensional, sondern verlaufen immer komplex und erfassen unsere Gesellschaft in verschiedenen Wellen, die beeinflusst werden von den jeweiligen Gegentrends. Die daraus entstehenden „Synthetisierungen oder Symbiosen von Paradoxien“, wie das Zukunftsinstitut es so schön formuliert, werden Metatrends genannt. „Die Zukunft entsteht nie linear. Sie ist das Ergebnis der gelungenen Synthetisierung dynamischer Ungleichgewichte. Megatrends erzeugen eine evolutionäre Schleifen- Bewegung. Und Metatrends sind die Ergebnisse dieser Rekursion.“ Aha…?
Konkret bedeutet das, der „Widerstand der Männer“ führe nicht zu einer Re-Machoisierung, denn der geradlinige Rückweg sei in kulturellen Veränderungsprozessen nie möglich. „In der westlichen Welt entwickelt sich heute eher ein kulturelles Multi-Gender-System: Mit einer Vielzahl von geschlechtlichen Rollenangeboten, Lebens- und Kulturvarianten. Innerhalb dieses Spektrums ist auch Macho-Verhalten möglich, aber eben nur als eine Spielart unter vielen.“
Das Ende des Bartes
Genau das ist auch aktuell wieder in der Mode zu erkennen. Der Bart ist zwar noch nicht komplett von der Bildfläche verschwunden, aber der neueste Fashiontrend geht in Richtung „Genderbending“. Die typischen Geschlechterstereotype verschwimmen ineinander, Männer tragen lange Haare und wieder glattrasierte Gesichter, während bei Frauen reduziertes Makeup und Oversize-Styles gefragter werden. Das Männermagazin GQ rief im Juli blondierte Haare zum Nachfolger des Barttrends aus, wie sie aktuell auch beim Popstar Justin Biber zu sehen sind. Der Trend entfernt sich also wieder von Natürlichkeit und traditioneller Männlichkeit und erinnert sogar an die Metrosexuellen der 2000er. Denn wir wissen ja, Modetrends kommen sowieso alle paar Jahrzehnte wieder. Also liebe Männer mit Bart, wenn ihr durchhaltet, reitet ihr in 15 bis 20 Jahren wieder ganz oben auf der Modewelle. Oder wie wär’s für zwischendurch mit einem Friseurtermin? Haupthaar blondieren lassen!
shift (englisch): Verlagerung, Wechsel
Quelle: Zukunftsinstitut | zukunftsinstitut.de