Die nackte Stafette
Berliner, die sich nicht kennen, fotografieren sich – nackt. Das Projekt „Daily Portrait“ des tschechischen Fotografen Martin Gabriel Pavel zeigt Menschen, „wie sie sind“.
Eines Nachmittags im Mai klingelte es an Claudias Tür. Die Berliner Tänzerin und Perfomerin (50) wurde nervös. Hinter der Tür stand Stor, den sie in ihrem Leben noch nie gesehen hatte. Jetzt war er hier, um sie nackt zu fotografieren für das Projekt Daily Portrait des tschechischen Fotografen Martin Gabriel Pavel. Dabei geben Berliner einen Fotoapparat, mit dem ein Fremder sie in ihrer Wohnung fotografiert hatte, am kommenden Tag an die Person weiter, die sie in deren vier Wänden nackt abgelichtet haben. Das Projekt hatte Claudia sofort begeistert, als eine Freundin ihr davon erzählte.
Claudia und „ihr“ Fotograf haben aber eine Regel des Projekts nicht eingehalten, nämlich, dass sich Fotograf und Fotomodell vor dem gemeinsamen Shooting an einem öffentlichen Ort treffen sollen. Es war keine Zeit. Bei Claudia war der Moment der Nervosität trotzdem schnell verflogen. „Wir haben uns nur angeschaut und alles war in Ordnung“, beschreibt Claudia den Moment des ersten Kontaktes mit ihrem Fotografen. Einem unbekannten Menschen mit offenen Augen zu begegnen, sei für Claudia eines der wichtigsten Motive zur Teilnahme an dem Projekt gewesen: „Wer steht da auf der anderen Seite der Tür? Entspricht er meinen Schönheitsstandards? Meinen Intelligenzstandards?“
Für Initiator Martin ist die allgegenwärtige Gleichheit langweilig. Und auch die Teilnehmer sind sich einig, dass einer der Vorzüge des Projektes die ästhetischen Fotografien „echter“ Menschen sind, die eben nicht den aus Zeitschriften bekannten Prototypen entsprechen müssen.
Fotoshooting als Sozialisation
Die ersten beiden Serien der Daily Portraits hatte Martin noch selbst fotografiert. Es waren Bilder halbnackter oder nur mit Unterwäsche bekleideter Prager, zunächst vor einer weißen Wand, später Polaroidaufnahmen an öffentlichen Orten in Prag. Martin sieht im Aufeinandertreffen eines Fotografen und eines völlig fremden Fotomodells das entscheidende Prinzip des Projektes. Gerade in einer Zeit, in der die sozialen Netzwerke von Selfies überschwemmt sind. „Die Leute fotografieren sich, stellen das ins Internet, und glauben, dass sie sich damit sozialisieren, weil sie ja zu sehen sind. Aber das ist schrecklich flach, denn wenn es alle machen, verliert es seine Wirkung. Wenn jemand anders sie fotografiert, unterhalten sie sich dabei mit dem Fotografen, und bekommen so das Verständnis, das sie sonst in den sozialen Netzwerken suchen, direkt von diesem Menschen“, erklärt Martin.
Martin hat die Fotografien im Internet veröffentlich, nach und nach, so wie sie entstanden sind. Claudia, die vor Jahren eine gut bezahlte Anstellung für eine unsichere Existenz als Künstlerin aufgegeben hatte, gab die Veröffentlichung ihres Abbildes ein Gefühl von Freiheit. „Alle sagten: ‚Du kannst doch kein Nacktfoto von dir ins Internet stellen. Jeder kann das benutzen und missbrauchen.‘ Ich habe nicht verstanden, was daran so schlimm sein soll. Vielleicht lädt sich das jemand runter und benutzt es zu seinem Vergnügen, was weiß denn ich? Warum muss ich das Bild besitzen? Ich habe kein Problem damit, wenn wer auch immer meinen Körper sieht“, sagt Claudia.
Die Reaktionen des Umfeldes
So sorglos gegenüber den möglichen Reaktionen war der 35-jährige Christian nicht. Von ihrem Fotoshooting schickten er und seine Fotografin zwei Bilder an Martin, eins auf dem er eine Kamera vor sich hält und ein weiteres auf dem er vollständig nackt ist. Martin hat das zweite ausgewählt. Christian widmet sich auch in seiner Freizeit der Fotografie. Auf Flickr stellt er Aktaufnahmen von sich selbst aus. Das Projekt Daily Portrait hat aber eine wesentlich größere Reichweite. Deshalb fürchtete er auch die Reaktionen, nicht von seiner Familie oder von Freunden, sondern von Arbeitskollegen – das könne zu peinlichen Situationen führen, vermutet er. Bisher habe aber noch niemand das Foto entdeckt: „Vielleicht irgendwann in der Zukunft. Aber das kann ich nicht mehr ändern.“ Würde er es denn ändern wollen, wenn er könnte? „Nein“, sagt Christian bestimmt und ohne zu zögern. „Ich fühle mich wohl in meiner Haut und schäme mich nicht dafür.“ Das Leben sei kurz, und jeder solle einmal etwas Verrücktes tun und aus seiner comfort zone treten, findet er.
Claudia hat nach eigenen Angaben nie den allgemeinen Schönheitsidealen entsprochen. In der Schule war sie mit ihren 180 Zentimetern immer die größte in der Klasse. „Ich war zu groß, zu muskulös.“ Ihr ganzes Leben hätte sie außerdem verschiedenste Diäten gehalten. „Als ich auf Martins Projekt stieß, hatte ich die Hoffnung, dass die Teilnehmer sich so zeigen, wie sie sind, ohne zu viel Make-up und zu viel Pose. Mir gefielen die Fotos von Menschen, die nicht ins gängige Schönheitskonzept passen... die, die vielleicht auch etwas mehr Körper haben, etwas mehr Fett um die Rippen.“ Vor den Aufnahmen hat sie überlegt, wie sie sich selbst herrichten könnte. „Die Frage, was ich anziehen sollte, fiel schonmal weg“, lacht sie. Schließlich ließ sie sich ohne Make-up und ungekämmt ablichten.
Zeig dein Wohnzimmer!
Daily Portrait zeigt aber nicht nur, wie verschieden Körper sind. Christian gefällt es auch zu sehen, wie verschieden die Berliner leben. „Es ist großartig, wie unterschiedlich Zimmer aussehen können. Für viele war es vielleicht auch intim, ihr Wohnzimmer zu zeigen, nicht nur ihre Nacktheit. Da geht es also um eine doppelte Entblößung.“
Sein eigenes Bildnis und seine Teilnahme an Daily Portait fasst Christian zusammen mit: „Hey Leute, das hier bin ich. Nimmt mich so, wie ich bin!“ Als Teenager habe er unter mangelndem Selbstbewusstsein gelitten. Aber das habe sich mit dem Umzug nach Berlin gebessert, wo laut Christian Menschen so akzeptiert werden, wie sie sind. Auch Martin sah gerade deshalb in der deutschen Hauptstadt die ideale Bühne für sein Projekt: „Zunächst habe ich selbst die Fotos geschossen, aber das hat irgendwie nicht funktioniert. Dann habe ich meinen Fotoapparat verloren und mir kam die Idee, dass ich eigentlich gar keinen brauche, und dass es die Atmosphäre Berlins viel besser wiedergibt, wenn sich die Teilnehmer untereinander selbst fotografieren. In Berlin gibt es nicht so eine Klassengesellschaft. Die Leute dort sind entspannt und die Porträts fangen auch die Beziehungen zwischen ihnen ein.“
Martin Gabriel Pavel plant mittlerweile schon andere künstlerischen Projekte. Von der Berliner Serie der Daily Portraits soll es aber noch eine Ausstellung und ein Buch geben. Dann will Martin anderen seinen Segen geben, das Projekt weiterzuführen. Im Verlauf des Projektes haben ihn bereits Anfragen von Menschen erreicht, die es auch in ihren Städten umsetzen möchten. Die nackte Stafette wird also weitergereicht.
Übersetzung: Patrick Hamouz