Geschichte hat keinen Sinn
„Hinterher ist man immer klüger.“ Mit dieser vermeintlichen Binsenweisheit nimmt man so manchem Historiker den Wind aus den Segeln. Genau das machte Reinhart Koselleck – dabei war er selbst vom Fach. Koselleck gilt als einer der bedeutendsten deutschen Historiker der Nachkriegszeit, und einer der originellsten noch dazu.
Gerade die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts provoziert den Versuch, Zusammenhänge zwischen historischen Ereignissen herzustellen und damit der Geschichte einen Sinn zu verpassen. Etwa: War die Weimarer Republik von Anfang an zum Scheitern verurteilt und ihr Ende die logische Folge des Friedensvertrags von Versailles? Das Thema füllt ganze Sammelbände.
Laut Reinhart Koselleck ist schon die Frage falsch. Wer historischen Generationen mit dem Wissen der Nachwelt ihre Fehler vorhält, macht es sich zu leicht. Handlungsspielräume und -alternativen ergeben sich eben meist erst aus der Rückschau. Einen Zusammenhang zwischen zwei oder mehr historischen Ereignissen herstellen kann jeder.
Deutsch-französischer Handschlag
Ähnlich kritisch sieht Koselleck die Annahme eines so genannten historischen Determinismus. Damit ist die Auffassung gemeint, dass alle Ereignisse durch ihre Vorbedingungen festgelegt sind. Entsprechend vertritt zum Beispiel die marxistische Schule die These, die Existenz von Klassen münde zwangsläufig in den Klassenkampf.
Bei einem solchen Vorgehen kommt es also nur darauf an, wem oder was man das Wort reden möchte. Und hier wird Geschichtswissenschaft tendenziös. Ein Historiker, der die Abfolge geschichtlicher Ereignisse als logische Folge begreift, neigt dazu, einen roten Faden durch die Geschichte zu ziehen und ihrem Verlauf einen Sinn zuzuschreiben, den es vermutlich nie gegeben hat.
Als Beispiel nennt Koselleck die deutsch-französische Aussöhnung. Dass sich Helmut Kohl und Francois Mitterand Jahrzehnte nach der blutrünstigen Schlacht von Verdun auf dem ehemaligen Schlachtfeld die Hände reichten, verleiht dem Sterben Hunderttausender Soldaten keinen Sinn – auch wenn es das zweite Ereignis ohne das erste nicht gegeben hätte.
Koselleck plädiert deshalb dafür, die Sinnsuche in der Geschichte den Theologen zu überlassen, deren Erklärungsmuster er als „außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses“ sieht. Denn in historischen Vorgängen ein göttliches Zeichen zu sehen, entziehe sich wissenschaftlichen Beweisen oder Widerlegungen ohnehin.
Die „eigentliche“ Geschichte gibt es nicht
Was sollte aber die Aufgabe der Historiker sein? Das Ziel Kosellecks war nicht, mit der Geschichte selbst auch dem geschichtswissenschaftlichen Apparat den Sinn abzusprechen. Denn der Geschichtswissenschaft geht es durchaus auch um das reine Herausfinden von Fakten: Wer hat was verantwortet,wann und warum. Und natürlich auch um die Frage, ob vergleichbare Prozesse in der Geschichte zu vergleichbaren Konsequenzen führen. Das ist etwas anderes als die Sinnfrage.
Beliebt war Koselleck im eigenen Fach trotzdem nicht bei allen: Die „eigentliche Geschichte“, nach der Historiker suchen, gäbe es nicht, ließ er seine Kollegen wissen. Geschichte sei immer das Produkt der Geschichtsschreibung, weil „jede Geschichte in ihrem Vollzug selbst sinnlos ist. Die wirkliche Geschichte zeigt sich in ihrer Wahrheit erst, wenn sie vorbei ist.“ Einfacher gesagt: Geschichte ist das, was die Historiker aus ihr machen. Manch einer durfte das als Affront auffassen.
Gleichzeitig eröffnete Koselleck seinem Fach mit dem erstmals 1998 erschienenen Essay Vom Sinn und Unsinn der Geschichte eine neue Perspektive: die der subjektiven Bedeutung von Geschichte.