Geheuchelt wird nach wie vor

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Zdeněk Matějka war 1990/91 der letzte Generalsekretär des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes. Foto: © Klára Unzeitigová

Die Revolution von 1989 – für die einen bedeutete sie Erleichterung, war sie ein Symbol der Freiheit oder löste Euphorie über den Sturz des kommunistischen Regimes aus. Für die anderen brach eine Welt zusammen, eine Veränderung, mit der sie sich nie abfinden konnten. Es gibt aber nicht nur schwarz oder weiß. Zdeněk Matějka war im August 1968 III. Sekretär an der tschechoslowakischen Botschaft in Washington, und nach der Wende Stellvertreter von Außenminister Jiří Dienstbier. Wie verlief das Leben eines einfachen Menschen, dem beide Systeme auch Gutes brachten?

1954 begann Zdeněk Matějka sein Studium an der Prager Wirtschaftsuniversität VŠE. Als guter Student und Funktionär wurde er für ein Diplomatie-Studium am Moskauer Staatsinstitut für internationale Beziehungen ausgewählt. „Zunächst wurde ich ausgesucht, Planung zu studieren, also die Planung unserer aller besseren Zukunft, danach entschied die Partei, dass ich Diplomatie studieren sollte mit Spezialisierung auf westliche Sprachen, konkret Englisch, also die Sprache der Imperialisten“, sagt Matějka mit Humor.

Seinen Aufenthalt in Korea betrachtet Matějka als Meilenstein in seinem Leben. Seit 1963 wirkte er dort in der Aufsichtskommission der neutralen Staaten. Seine Aufgabe war es, die Interessen Nordkoreas zu vertreten. Gemeinsam mit weiteren europäischen Kollegen setzte er sich für ein friedliches Miteinander ein, was die Koreaner jedoch grundsätzlich ablehnten – und die Amerikaner als Mörder und Vergewaltiger bezeichneten. Die Chinesen waren damals viel zurückhaltender. Eine besondere Erfahrung war die damalige Freundschaft zu einem amerikanischen Kollegen. Aber die Freundschaft mit einem Imperialisten war seinerzeit angeblich nicht ohne: „Man hat nie gewusst, wann das mal jemand gegen einen verwendet.“ Auch wenn sie unterschiedliche politische Ansichten hatten, respektierten sie sich gegenseitig. Matějka wurde klar, dass die Amerikaner im Unterschied zu den Koreanern bemüht waren, einen Kompromiss zu finden. Im Vergleich zu Nordkorea schienen die Verhältnisse in der Tschechoslowakei die demokratischsten im gesamten Ostblock zu sein. Korea erlebte Matějka als grauenerregenden Polizeistaat voller Fanatiker, die den Sozialismus in Europa als Sozialimperialismus ansahen.

Sekretär im Reich der Imperialisten

Als es im August 1968 zur Besetzung der Tschechoslowakei durch die sowjetische Armee kam, war Matějka III. Sekretär an der tschechoslowakischen Botschaft in Washington. Im Rahmen seiner Agenda fuhr er kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten und trat in Schulen auf Podiumsdiskussionen auf, wo er über die Lage in der Tschechoslowakei berichtete. „Ich habe versucht, die August-Ereignisse als Missverständnis darzustellen. Manchmal saß ich neben einem sowjetischen Diplomaten, der natürlich behauptete, dass wir ein konterrevolutionärer Staat wären und dass die Intervention notwendig gewesen wäre, um diese Transformation zu verhindern. Damit war ich nicht einverstanden – allerdings äußerte ich mich im Einklang mit der Erklärung des Vorsitzes des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) und vertrat den offiziellen Standpunkt der Regierung. Später hat sich das dann gegen mich gekehrt, denn zu den Podiumsdiskussionen mit den Schülern und Studenten wurden auch Mitarbeiter der Staatssicherheit eingeladen. Diese rissen Dinge, die man gesagt hatte, aus dem Zusammenhang und verwendeten sie gegen einen. Das hat man dann auch bei den Verhandlungen der Kontrollkommissionen ausgenutzt“, beschreibt Matějka seine persönlichen Erlebnisse im Jahre 1968.

In Amerika gab er unter anderem seinen Kollegen einschließlich Vorgesetzten Englisch-Nachhilfe. Dem Leiter der Kuba-Abteilung fiel Englisch jedoch sehr schwer; später bezichtigte er Matějka vor der Kontrollkommission, dieser habe ihn gezwungen, eine imperialistische Sprache zu lernen. Paradox war, dass der gleiche Mensch auf der darauf folgenden Parteiversammlung des Außenministeriums allen ins Gewissen redete, Englisch und weitere Fremdsprachen zu lernen. Bis heute bedauert Matějka es, damals geschwiegen und nicht gesagt zu haben, dass gerade er bis vor kurzen Englisch nicht lernen wollte und die Sprache verachtete. Das hätte für ihn mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit den Rauswurf bedeutet, aber wenigstens hätte er sich nicht feige verhalten.

Das Ende des Prager Frühlings im August 1968 beeinflusste die Schicksale vieler Menschen. Mitglieder der KSČ, die in der Partei bleiben wollten, mussten erklären, dass sie die August-Ereignisse falsch verstanden hätten und dass es sich nicht um eine Okkupation durch die Sowjets, sondern um internationale Hilfe gehandelt habe. Die Kommunistische Partei verlor damals viele ihrer Mitglieder. Matějka verlor bereits 1969 seinen Parteiausweis, aber man behielt ihn mit weiteren zehn Kollegen im Ministerium, um neue Kollegen anzulernen. Nicht allen ist es wie ihm gelungen, in einem erträglichen Beruf weiterzuarbeiten.

Der König ist nackt!

1979 wurde er als I. Sekretär in Teheran vorgeschlagen, also für die zweithöchste Position an der Botschaft im Iran. Die dortige politische Situation war äußerst kompliziert, und von den Parteimitgliedern unter den Diplomaten hatte keiner Lust, dort seinen Dienst anzutreten, deshalb kam Matějka ins Spiel. Das ZK der Partei entschied jedoch schließlich, dass die Position eines chargé d'affaires im Iran niemand ohne Parteiausweis ausüben könne. Deshalb wurde ihm stattdessen eine ähnliche Position in Indien angeboten, wo er keine Parteimitglieder befehligen musste. Dort blieb er fünf Jahre.

Es lag laut Matějka bereits vor dem November 1989 in der Luft, dass sich das bestehende politische Regime in Auflösung befindet. Dennoch taten alle so, als ob nichts wäre. Man traf sich weiterhin zu Besprechungen und stimmte über alltägliche Dinge ab. „Ich kann mich an die Atmosphäre erinnern, als wir im Sommer 1989 die Rede des Generalsekretärs Jakeš in Červený Hrádek hörten. Wir mussten darüber alle lachen, auch die Parteimitglieder, es war vollkommen offensichtlich, dass das eine komplette Farce war und dass das das ganze System demnächst zusammenbricht. Der Zynismus gegenüber dem Regime war unglaublich. Der Sozialismus ist nicht zusammengebrochen, weil die Sowjetunion – wie im Westen manchmal gesagt wird – ,niedergerüstet‘ wurde, sondern weil die absolute Mehrheit begriffen hatte, dass man es mit einem Schmierentheater und totaler Heuchelei zu tun hat“, kommentiert Matějka die Atmosphäre im Vorfeld des Novembers 1989. Hier bietet sich die Frage an, wieso keiner der Parteigenossen ausreichend Mut hatte „Der König ist nackt!“ zu rufen? Hatten alle Angst vor dem Regime, obwohl sie überzeugt waren, dass es bald zusammenbricht?

Novemberrevolution – Lebensrevolution

Für Matějka bedeutete die Revolution einen Putsch. Außer des Zusammenbruchs des Regimes, so Matějka, hätte sich wiederum nicht so viel verändert, auch wenn im Lande eine Euphorie geherrscht habe, die von Verwirrung begleitet war. „Bis dahin war ich nur geduldet, weil ich kein Parteimitglied war, aber meine Arbeit habe ich offenbar gut erledigt, wenn man mich so lange behalten hat. Im Dezember rief mich mein Freund Jiří Dienstbier d.Ä. an, der in Washington Korrespondent für den Tschechoslowakischen Rundfunk gewesen war. Am nächsten Tag war ich Leiter seines Kabinetts und später sein Stellvertreter. Auf dem Gipfeltreffen der Warschauer-Pakt-Staaten wurde der Tschechoslowakei der Vorsitz zugeteilt, und als einer der Stellvertreter des Außenministers des vorsitzenden Landes wurde ich zum Generalsekretär des Warschauer Paktes. Innerhalb eines Jahres haben wir den Warschauer Vertrag aufgelöst. Für mich war das eine totale Veränderung. Von einer Null bin ich zu einem großen Herren geworden, der Entscheidungen traf“, beschreibt Matějka die turbulenten Veränderungen seines Lebens in den 90er Jahren.

In den 70er Jahren hatte er wegen seiner Freundschaft zu Dienstbier Probleme in der Partei. „Es ist interessant, dass jemand, wegen dem man Probleme hatte und vor Kommissionen gezerrt wurde, wenn der dann einen zu seinem Stellvertreter macht. Kontakte und Freunde verliert man nie“, sagt Matějka. Dienstbier hatte ihn nicht nur wegen seiner Fähigkeiten und Erfahrungen ausgesucht, sondern auch wegen seiner Kontakte. Er ging davon aus, dass Matějka fähige Mitarbeiter für das Außenministerium rekrutieren kann.

Seit der Samtenen Revolution sind 25 Jahre vergangen, aber laut Matějka ist die Heuchelei aus der Gesellschaft nicht verschwunden. Auch findet er, dass die demokratischen Wahlen zu einer Farce werden. Ohne ein dickes Bankkonto habe man keine Chance, eine hohe Position zu erreichen, so ist er überzeugt. Bereits Havel habe gesagt, dass der Kapitalismus Gangster-Elemente habe, auf die man Acht geben müsse. Dass tschechische Unternehmer jetzt erklären, dass sie bereits genug Geld verdient hätten und nun in der Politik für Ordnung sorgen wollen, betrachtet er als ein Paradox der heutigen Zeit.

Der große Vorteil des Regimewechsels sei die Vielzahl an Möglichkeiten, die sich den Menschen eröffnet haben, so Matějka. Das gelte vor allem für die Reisefreiheit. Die heutige Jugend betrachtet er skeptisch, da sie nicht die Chancen und Möglichkeiten wertschätzt, die sich ihnen bieten – das habe ihm die Praxis gezeigt. Derzeit lehrt er nach wie vor an der Fakultät für internationale Beziehungen an der Wirtschaftsuniversität Prag. Auch wenn Matějka bereits 79 Jahre alt ist, fehlt es ihm nicht an Elan und Lebenslust. „Lernt Fremdsprachen, reist viel, interessiert euch für das, was in der Welt geschieht und pflegt eure Kontakte und Freundschaften!“

Klára Unzeitigová
Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2014


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

    Zdeněk Matějka

    JUDr. Zdeněk Matějka wurde geboren am 19. September 1935. Er studierte an der der Wirtschaftsuniversität Prag und am Moskauer Staatsinstitut für internationale Beziehungen. Ab 1961 war er am Außenministerium tätig. Von 1963 bis 1965 war er Mitglied der tschechoslowakischen Delegation im der Aufsichtskommission neutraler Staaten im koreanischen Panmunjeom, von 1968 bis 1972 Sekretär an der tschechoslowakischen Botschaft in Washington und von 1982 bis 1987 Sekretär an der Botschaft in Neu Delhi. 1989 wurde Zdeněk Matějka Büroleiter des tschechoslowakischen Außenministers, und bald darauf zu dessen Stellvertreter. In dieser Funktion war er von Juni 1990 bis Juli 1991 der letzte Generalsekretär des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Pakts. Ab 1992 war Matějka Bertater des Außenministers der ČSFR (Tschechoslowakische Föderative Republik). Erst im Jahr 2001 schied er aus dem Dienst des Außenministeriums aus. Zdeněk Matějka hält nach wie vor Vorlesungen an der Fakultät für Internationale Beziehung der Prager Wirtschaftsuniversität VŠE.

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