Der Wert von Essen und Wasser

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Kristýna Lungová mit einem haitianischen Schüler, Foto: © Privatarchiv

Ein Zimmer mit einem Bett und einem Eimer Wasser, drumherum nur Hunger, Wassermangel, und jeden Moment könnte eine Choleraepidemie oder ein Aufstand ausbrechen. Oder es könnte ein Hurrican kommen. Schon zweimal verbrachte Kristýna Lungová längere Zeit in Haiti. Diesen September kehrt sie dorthin zurück. Wie während ihrer vorherigen Aufenthalte wird sie als Mitarbeiterin der Erzbischöflichen Caritas Olomouc helfen das 2010 von einem Erdbeben zerstörte Land in der Karibik aufzubauen.

Haiti ist das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Die Sicherheitslage ist angespannt. Zum ersten Mal waren Sie im Jahr 2013 dort, als Sie ihre Diplomarbeit über humanitäre Hilfe in Haiti schrieben. Das ist nicht gerade ein klassisches Forschungsthema für einen durchschnittlichen Studenten.

In meinen Studien konzentriere ich mich auf humanitäre und Entwicklungshilfe, für mich ist das also wesentlich. Auf Haiti als Forschungsfeld kam ich, während ich als Freiwillige für die Erzbischöfliche Caritas Olomouc arbeitete. Das Land befand sich damals in einem fürchterlichen Zustand nach dem Erdbeben, bei dem Anfang 2010 etwa 220.000 Menschen starben. Ich habe meine Bachelorarbeit über die gemeinnützigen Organisationen geschrieben, die in Haiti Hilfe leisten, habe mich mich Vertretern der verschiedensten Organisationen getroffen. Und eine von diesen Organisationen, mit der ich auch nach Haiti reisen konnte, bohrte dort Brunnen.

Wie gewinnt eine zierliche Studentin den Respekt tschechischer Brunnenbohrer und das Vertrauen der Haitianer?

Ich bin mit einer Gruppe von drei Jungs dorthin gereist, das war also nicht so einfach. Aber ich war die einzige, die Französisch konnte. Wenn wir uns gestritten haben, weigerte ich mich, für die anderen zu übersetzen (lacht). Wir waren voneinander abhängig. Und die Haitianer? Viele haben eine schlechte Meinung von Weißen, schon wegen der historischen Erfahrungen aus dem Kolonialismus. Aber wenn sie einen kennenlernen und wissen, dass man sich bemüht, ihnen zu helfen, schätzen sie einen. Ich sehe vielleicht ziemlich friedlich und nett aus, aber auf Haiti muss man hart sein, damit alles funktioniert. Ich kann zum Beispiel nicht mein ganzes Essen herschenken, obwohl um mich herum viele Menschen hungern. Ich muss fit sein, um anderen helfen zu können.

Ist es Ihnen peinlich, in der Öffentlichkeit zu essen? Geht das überhaupt in Haiti?

Nein, das ist nicht möglich. Man muss sich dafür immer irgendwohin verkriechen. Es ist mir zum Beispiel peinlich, in eine Schulklasse zu gehen und dabei auch nur einen Keks zu essen. Die Kinder würden mich anstarren... Wenn man im Auto sitzt und isst, kommt draußen eine Schar zusammen, und alle sagen „gangu, gangu“, das bedeutet „Ich habe Hunder“. Und ich muss dann sagen, dass sie nicht böse sein sollen, aber ich kann ihnen nichts geben. „Nein“ sagen ist sehr schwer. Während der ganzen Zeit, die ich in Baie de Henne verbracht habe, liefen mir Menschen hinterher und bettelten, dass ich ihr Kind in das Projekt der Fernadoptionen aufnehmen soll. Sie fragen, warum dieser oder jener Junge in dem Projekt ist und nicht ihrer. Manche testen einfach nur, ob ich ihnen nicht etwas gebe. Sie kommen und sagen mir direkt ins Gesicht: „Gib mir Geld!“.

Was antworten Sie?

Ich sage: „Ich kann nicht dir allein etwas geben. Ich bin hier für alle, nicht nur für dich.“ Haiti war für mich wirklich ein großer Schock. Erst dort wurde mir der Wert von Wasser, Nahrung und Gesundheit bewusst. Die Menschen dort sterben an banalen Krankheiten, etwa an einer gewöhnlichen Grippe, und an Unterernährung. Und das alles geschieht um einen herum. Ich habe aber auch gesehen, dass schon eine sehr kleine Hilfe Leben retten kann.

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Eine Schule in Gonaïves, Foto: © Privatarchiv

Worum geht es in dem Projekt der Fernadoptionen?

Man kann per Fernadoption ein haitianisches Kind in seiner Ausbildung unterstützen. 6500 Kronen (etwa 240 Euro) jährlich beinhalten das Schulgeld, die Schuluniform, Schulbücher und eine warme Mahlzeit pro Tag. Das Kind schickt seinem Unterstützer einmal im Jahr einen Brief und ein Zeugnis. Dank dieses Projektes kann der Betrieb der Schule in der Stadt Baie de Henne gewährleistet werden, die derzeit über 350 Schüler besuchen. Mit Spenden aus Tschechien konnte außerdem eine Schule in der Stadt Gonaïves gebaut werden, in die mehr als 650 Kinder aus den ärmsten Slumvierteln gehen. Es ist wichtig, dass Schulen überhaupt funktionieren. Das ist in Haiti nicht selbstverständlich, denn es fehlt das Geld für die Lehrergehälter. Gegenwärtig kann die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen und schreiben. Analphabeten haben praktisch keine Chance, ihr Leben zu verbessern. In den Schulen, die wir betreiben, ist das Gehalt für die Lehrer gesichert. Wir können uns außerdem einer Erfolgsquote von 100 Prozent bei den staatlichen Prüfungen rühmen, das macht also alles Sinn.

Wie sieht der normale Tag eines haitianischen Schülers aus?

In Baie de Henne, wo eine unserer Schulen steht, leben 3000 Menschen, aber die Kinder kommen auch aus entlegeneren Dörfern. Es gibt dort keine Elektrizität, sie stehen mit dem Sonnenaufgang um fünf Uhr morgens auf und gehen dann zu Fuß etwa eineinhalb Stunden zur Schule. In manche Dörfer führt noch nicht einmal ein Weg, so dass die Kinder jeden Morgen mehrere Stunden Fußmarsch absolvieren. Es ist heiß und oft frühstücken sie nicht, denn zu Hause gibt es weder genug zu Essen noch genug Wasser. Kleinere Kinder bewältigen das oft nicht und schlafen während des Unterrichts ein. Auch deshalb ist eine warme Mahlzeit in der Schule wichtig. Manche Schüler bekommen nämlich zu Hause gar nichts zu Essen, sie essen höchstens eine Banane, die sie sich auf dem Schulweg pflücken. Jüngere Kinder haben vormittags bis 13 Uhr Unterricht, die älteren oft erst nachmittags, denn in der Schule gibt es weder genug Platz noch genug Lehrer. Einige Lehrer wechseln sich zwar ab, aber manche unterrichten von morgens bis abends.

Haben die Kinder dann überhaupt noch genug Kraft, um sich auf die Schule vorzubereiten?

Es hängt davon ab, ob sie es nah zu einem Brunnen haben. Wenn ja, kommen sie innerhalb von 20 Minuten an Wasser, die Sonne scheint noch, und sie haben Zeit zum Lernen oder um zu Hause zu helfen. Problematisch ist es aber, wenn der Brunnen drei Fußstunden entfernt liegt, was in Haiti üblich ist. Ich habe eine Studie durchgeführt, was ein naher Brunnen für einen durchschnittlichen Haitianer bedeutet: Er ermöglicht eine grundlegende Verbesserung der Lebensqualität. Die Frauen haben Zeit zu kochen – wenn sie denn überhaupt etwas haben, woraus sie Essen zubereiten können. Ein Brunnen bringt ein besseres Trinkverhalten mit sich, eine bessere Hygiene und begünstigt auch das Enstehen neuer Gewerbe, zum Beispiel einer Bäckerei. Die Menschen könnten sich sogar ein Haus bauen, wenn sie plötzlich Wasser haben, um den Mörtel anzurühren. Mit der Nähe eines Brunnens hängt indirekt auch die Erwachsenenbildung zusammen. Die Zeit, die sie sonst damit zugebracht hätten, Wasser aufzutreiben, können sie nun in einer unserer praktischen Schulungen verbringen. Diese sollen bald in der Schule in Baie de Henne beginnen, im zweiten Stock, den wir anbauen wollen. Die Haitianer werden dort moderne Methoden des Fischfangs, der Landwirtschaft und der Mechanik lernen, außerdem Grundlagen des Wirtschaftens und Nähen.


Womit haben Sie am meisten gekämpft?

Manchmal konnte ich die Entscheidung von Familien nicht verstehen, in die Hauptstadt in einen Slum zu ziehen. Ich frage dann, warum sie das tun, wenn ihr Kind doch hier neun Jahre in die Schule gehen kann. Allmählich habe ich gelernt, die Situation mit ihren Augen zu sehen, Menschen sind keine Roboter. Aber wenn ihr Kind wenigstens Lesen und Schreiben könnte, kann ihm das niemand mehr nehmen.

Ein großes Problem in Haiti ist auch die Korruption und die überbordende Bürokratie. Um am Hafen einen Container mit Hilfsmaterial in Empfang zu nehmen, brauche ich sechs Stempel von sechs verschiedenen Behörden, und in jeder erwartet der Beamte, dass dabei auch etwas für ihn abfällt. Ich werde die Korruption nicht unterstützen, also ist der Beamte nicht besonders motiviert, und es kann sein, dass der Container ein Jahr lang ungenutzt im Hafen steht. Das hängt zum Teil auch damit zusammen, dass die Menschen in Haiti einen Minderwertigkeitskomplex haben, was wiederum historische Gründe hat. Die Haitianer sind in ihrem eigenen Land versklavt worden. Weiße sind für sie deshalb ein Symbol der Macht, und auf dem Amt dreht sich der Spieß dann um. Plötzlich sind sie es, die Macht über den Weißen ausüben können, und deshalb diktieren sie die Bedingungen.

Haben Sie keine Angst, dass während Ihres Aufenthalts in Haiti etwas passieren könnte?

Mit diesem Risiko muss man rechnen. In Gonaïves zum Beispiel, das in einer Bucht liegt, wüten regelmäßig Hurricans und überfluten die Stadt. Wenn ich zur Hurrican-Saison in Haiti bin, und ein Gewitter aufkommt, schlottere ich vor Angst. Ich muss auch aufpassen, was ich esse und trinke. In Haiti herrscht heißes Klima und Kühlschränke gibt es nicht. Die Haitianer sind an drei Tage altes Fleisch gewöhnt, aber wir bekommen davon Durchfall oder schlimmere Vergiftungserscheinungen. Genauso ist es mit dem natürlichen Wasser. Wir sind an gechlortes Wasser gewöhnt, also kaufen wir unser Wasser in Plastikflaschen und putzen uns damit auch die Zähne. Ein weiteres Risiko ist die Ansteckung mit Cholera über verunreinigtes Trinkwasser. Und schließlich ist da noch die extrem hohe Anzahl von Mücken, die einen mit Malaria infizieren können. Außerdem besteht in Haiti die Gefahr, überfallen zu werden oder in eine gewaltsame Demonstration zu geraten. Einmal mussten wir in der Hauptstadt Port-au-Prince ausharren, weil auf der einzigen Straße zurück ins Dorf einige aggressive Demonstranten mit Steinen schmissen und vorbeifahrende Autos anhielten und anzündeten. In Haiti wird es nicht langweilig.

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Hauseinrichtung in Baie de Henne, Foto: © Privatarchiv

Haiti ist am Boden, spüren Sie nicht manchmal einen Burn-out?

Manchmal frage ich mich, ob das alles Sinn macht. Es hängt davon ab, welches Ziel ich mir setze. Wenn man da hin geht, weil man das ganze Land verändern will, dann kann man gleich zu Hause bleiben, denn das geht nicht. Ich fahre dort hin, um das Leben eines Menschen oder eines Dorfes zu verbessern. Dank meiner Arbeit können Kinder in die Schule gehen, danach Arbeit finden, und so ihrer Familie ein besseres Leben ermöglichen. Andere haben jetzt ein Dach über dem Kopf oder einen Brunnen.

Das Interview führte Karolína Opatřilová.
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Juni 2015

    Kristýna Lungová

    Kristýna Lungová (*1990) stammt aus dem Dorf Milotice in Südmähren. Sie studierte Internationale Entwicklungshilfe an der Palacký-Universität in Olomouc (Olmütz) und arbeitet derzeit an ihrer Doktorarbeit. Ende 2013 reiste sie zum ersten Mal nach Haiti und half dort in den Bereichen Kommunikation, Kartographie und Wasserqualität unter der Federführung der Organisation Fidcon, deren externe Mitarbeiterin sie heute ist. Seit 2014 ist Kristýna Lungová als Koordinatorin humanitärer Projekte in Haiti bei der Erzbischöflichen Caritas Olomouc tätig.

    Überall auf der Welt leben Menschen für eine bessere Zukunft. Wir sammeln ihre Geschichten und zeigen, was heute schon möglich ist. jadumagazin.eu/zukunft

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