Wenn Gleichbehandlung zu Ausgrenzung führt
Ein Arbeiterkind ist jemand, der als Erstes in seiner Familie studiert – so definiert es das Netzwerk „Arbeiterkind.de“. Seit 2008 bietet das Netzwerk Studierenden aus nichtakademischem Hause ein Forum des Austauschs über Fragen und Probleme, die im Zusammenhang mit dem Studium auftreten. Denn, so die Philosophie des Netzwerks: Studierende, deren Eltern nicht an der Uni waren, haben gegenüber Akademikerkindern ein Informationsdefizit. Das Netzwerk will ein Stück Bildungsungerechtigkeit ausgleichen, indem es Arbeiterkindern Zugang zu Wissen ermöglicht, das Akademikerkinder quasi in die Wiege gelegt bekommen.
Arne Bachmann hat sich entschieden, offensiv mit Herkunftsfragen umzugehen – und das liegt an den Erfahrungen, die er in der Vergangenheit gemacht hat: im Kontakt mit Kommilitonen ebenso wie in der Kommunikation mit Dozenten. Arne promoviert in Theologie an der Universität Heidelberg. Dabei war der akademische Weg, den der 30-Jährige eingeschlagen hat, so keineswegs vorgezeichnet. Arne ist Sohn eines Schlossers und einer Kindergärtnerin – ein sogenanntes Arbeiterkind. Bis vor kurzem habe er nicht damit gerechnet, dass er einmal seinen Doktor machen würde. „Nach meinem Abi habe ich nicht mal daran gedacht, ein Studium zu beginnen.“ Doch in Arnes Leben gab es immer Menschen, die ihm Mut machten: Zuerst die Kollegen in seinem Freiwilligen Sozialen Jahr, die ihn ermutigten, an die Uni zu gehen, dann seine Examensprüferin, die ihm eine Promotion vorschlug. „Als Arbeiterkind ist man auf Menschen angewiesen, die Potentiale erkennen“, sagt Arne. „Ich hatte Glück. Doch davon sollte eine Karriere nicht abhängen.“
„Du bleibst, was du bist“
77 Prozent aller Akademikerkinder in Deutschland nehmen nach dem Abitur ein Hochschulstudium auf. Von den Arbeiterkindern sind es nur 23 Prozent. Zu ihnen gehört auch Marco Maurer. Der Journalist schrieb 2014 einen großen Artikel mit dem Titel Ich Arbeiterkind für das Dossier der ZEIT. Die Resonanz war so enorm, dass Maurer seine persönliche Lebensgeschichte in einem Buch verarbeitete, das die schwierigen Aufstiegschancen so genannter Arbeiterkinder aufgreift. Du bleibst, was du bist ist eine kühle Abrechnung mit dem deutschen Bildungssystem, das sich Gerechtigkeit auf die Fahnen schreibt und sich doch der statistischen Wirklichkeit stellen muss, in der Kinder aus Nichtakademikerfamilien – bewusst oder unbewusst – auf dem Weg nach oben ausgebremst werden.
Maurer beschreibt den hindernisreichen Weg, den er zurücklegen musste, um Journalist zu werden, als beispielhaft für viele deutsche Arbeiterkinder, die schließlich doch Karriere machten. Vielen werden die Chancen auf eine erfolgreiche Laufbahn schon im Grundschulalter verbaut – oder zumindest erschwert, wie in Maurers Fall. „Marco sollte auf der Hauptschule bleiben, Frau Maurer. Die Realschule ist nichts für ihn!“ So zitiert er im Buch seinen Grundschullehrer, und gibt ihm eine Liedzeile aus einem Robbie-Williams-Song auf den Weg: „Sir is God, he’s been given the right / To structure lives overnight“ – sinngemäß: Der Lehrer ist ein Gott, der befugt ist, über Nacht über einen Lebensweg zu entscheiden.
„Wenn alle gleich behandelt werden, fällt man raus“
Arne sagt, er habe offene Diskriminierung nie erlebt. Trotzdem kommt scheint es ihm gelegentlich ein Nachteil zu sein, dass seine Eltern nicht studiert haben. Als er sich bei den kirchlichen Förderwerken um ein Stipendium beworben hat zum Beispiel. „Ich glaube nicht, dass es dort strukturelle oder bewusste Ausgrenzung gibt. Aber es wird eben ein bestimmtes Vorwissen vorausgesetzt, eine gewisse Art von Habitus und vor allem: eine Sprache, über die viele nichtakademisch erzogenen Studierenden einfach nicht verfügen.“ Bei den Förderwerken und an der Uni fehle es oft an der Sensibilität, dass nicht jeder dieselben Startbedingungen mitbringt, bemängelt Arne. „Wenn alle gleich behandelt werden, fällt man ganz schnell raus.“
Die „Man möchte unter sich bleiben“-Attitüde, die Marco Maurer in seinem Buch beschreibt, ist auch Arne schon häufiger begegnet. Oft manifestiert sie sich im berüchtigten Wiedererkennungseffekt. „Gerade in meinem Fach gibt es ein paar große Dynastien, die seit Generationen Theologen hervorbringen. Da gehört man entweder automatisch dazu – oder eben nicht.“ Das bedeute auf keinen Fall, dass man chancenlos sei, wenn man nicht „dazugehört“, betont Arne. Es fehle aber der klare Vorteil. Zudem hört Arne in den Diskussionen über das deutsche Bildungswesen das Bestreben der akademischen Klasse heraus, sich zu isolieren: „Die Lobpreisung des Humboldt-Bildungsideals und die Abneigung gegenüber dem siebenjährigen Gymnasium und der Bologna-Reform vor allem in den Geisteswissenschaften geht ja auch mit einer Abwehrversicherung einher gegenüber dem ‚dummen Pöbel‘. Dieses Kopfschütteln über die ‚Zustände heutzutage‘ ist ja auch ein Stück Pflege des Images und damit der Identität des bildungsbürgerlichen Lagers. Das ist bestimmt nicht bewusst, aber de facto gegen ein Milieu gerichtet,das nicht schon seit jeher akademisch ist.“
An dieser Stelle sagt Arne einen Satz, der von den bildungspolitischen Verantwortlichen gern verdrängt wird: „Vielleicht hat Bildungsgerechtigkeit nun mal den Preis, dass sich das Niveau nicht halten lässt.“
Es geht immer ums Geld
Menschen, die mit den Problemen von Arbeiterkindern vertraut sind, stellen vor allem eines fest: Es geht ums Geld. Das sagt Carolin Mieckley, Online-Redakteurin bei Arbeiterkind.de. Das Netzwerk wertet Fragen aus, die im Forum von den rund 9.000 Usern oder bei Veranstaltungen in den 75 lokalen Initiativen gestellt werden. Die Frage nach der Studienfinanzierung sei die mit Abstand am häufigsten gestellte, sagt Mieckley, gefolgt von der Unsicherheit gegenüber den Berufsaussichten. „Ich möchte Germanistik studieren – was kann ich damit machen?“, war zum Zeitpunkt des Gesprächs die letztgestellte Frage im Forum.
Finanzierung ist auch ein roter Faden, der sich durch Marco Maurers Buch zieht. Ein ganzes Kapitel widmet er der „Sache mit dem Geld“. Darin stellt er exemplarisch den Germanistikstudenten Stefan Brunke vor. Brunke, 31, studiert an der Ludwig-Maximilians-Universität München über den zweiten Bildungsweg. Der Sohn eines berufsunfähigen Kraftfahrers und einer Putzfrau habe zwar schon immer gewusst, dass er eines Tages studieren wolle. Als erstes jedoch wollte er „sich eine Lebensgrundlage erarbeiten“, machte eine Ausbildung zum Krankenpfleger, holte sein Abitur nach und trat dann erst sein Studium an. Brunke erhält den BaFöG-Höchstsatz von 641 Euro. Doch die monatlichen Kosten, die der Student, der eine kleine Souterrainwohnung in einem Vorort des Münchener Vororts Dachau bewohnt – ein „Loch“, wie Maurer schreibt – belaufen sich auf 1004 Euro – ohne, dass Brunke dabei in irgendeiner Weise dem Luxus gefrönt hätte. Es sind nicht nur die monatlichen Unikosten und die horrende Miete, die auch weit außerhalb der Münchener Stadtgrenzen noch kassiert wird. In Brunkes Fall kommt das Alter dazu: Weil er schon 31 ist, muss er den Regeltarif bei seiner Krankenkasse bezahlen – der Studierendentarif gilt in Deutschland nur bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres. Für Maurer ist Brunke der Prototyp des diskriminierten Arbeiterkindes – jemand, der selbstverständlich trotz BaFöG in einem 400-Euro-Job arbeiten muss, um sich seinen Traum vom Studium zu erfüllen.
Arbeiterkinder trauen sich seltener um Hilfe zu fragen
Auch Arne hat sein Studium weitgehend durch studentische Jobs finanziert. „Man hat aber auch andere Selbstverständlichkeiten als Studierende, die aus einem akademischen Haushalt kommen.“ Die Selbstverständlichkeit zum Beispiel, Fragen zu stellen. Oder sich um ein Stipendium zu bewerben. „Während meines Studiums wäre ich gar nicht auf diese Idee gekommen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich das einfach so tun kann.“
Die Reserviertheit gegenüber einer Bewerbung um ein Stipendium könne man im Kontakt mit den Studierenden immer wieder beobachten, sagt auch Carolin Mieckley. „Viele Arbeiterkinder, zumal solche, die an FHs studieren, glauben, dass Stipendien für sie nicht infrage kommen und haben ganz überhöhte Vorstellungen von den Ansprüchen der Förderwerke. Vielen ist nicht bewusst, dass es nicht allein um die Noten geht, sondern auch um andere Aspekte, etwa ehrenamtliches Engagement.“
Überhaupt das Thema Hilfe: Aus Arnes Erfahrung trauen sich Arbeiterkinder seltener, sich an studentische Beratungsstellen zu wenden als Studierende aus akademischem Hause. „Dabei hätte ich zu Beginn meines Studiums eine Sozialberatung gut gebrauchen können“, sagt er im Rückblick.
„Gezielter hinsehen“
Arne würde sich deshalb eine proaktive Förderung von Kindern aus nichtakademischem Elternhaus wünschen. Weil viele Arbeiterkinder in Uniseminaren aus Unsicherheit oft schweigen, entgeht aus Arnes Sicht auch vielen Hochschullehrern, welche Potentiale in diesen Studierenden stecken. Sein Lösungsvorschlag: „Problembewusstsein lässt sich ja auch antrainieren. Unidozenten aber auch schon Lehrer in den Schulen müssten gezielter hinsehen: Wo sind ruhigere Leute, die sich vielleicht nicht so eloquent äußern wie andere, die es aber lohnen würde, zu fördern?“
Seit einiger Zeit trägt Arne seinen eigenen Teil dazu bei, ein solches Problembewusstsein zu schaffen. Eine Kommilitonin, die auch aus einem nichtakademischen Elternhaus stammt, hat ihm mal gesagt, dass sie beide stolz sein könnten: „Darauf, dass wir es trotzdem geschafft haben.“ Arne versteckt seine Herkunft nicht mehr, vielmehr will er anderen einen Spiegel vorhalten. „Ich gehe damit nicht hausieren. Aber ich gehe offen damit um. Zum einen, weil ich erklären will, warum mein Studium etwas länger gedauert hat: Ich musste es mir eben zum großen Teil selbst finanzieren. Zum anderen begegnet man an der Uni ja auch immer wieder Menschen, die überhaupt kein Bewusstsein dafür haben, dass es hier auch Menschen aus Milieus gibt, die weniger optimale Startbedingungen haben. Diese Leute will ich gern darauf aufmerksam machen, dass es verschiedene Arten von Biographien gibt.“