„Unterschicht – das müssten per Definition wir sein“
Die Buchautorin Undine Zimmer wuchs bei einer sparsamen, belesenen und arbeitslosen Mutter in einer Hochhauswohnung in Berlin-Spandau auf. Ihr Vater fasste beruflich nie Fuß und war meist nicht zuhause. Undine studierte und schlug sich dann einige Jahre als freie Journalistin durch. Das Leben war mühsam, aber warum genau, das konnte sie lange nicht beantworten. Bis sie einen längeren Artikel schrieb, in dem sie über das Aufwachsen bei ihren Eltern nachdenkt. Daraus wurde das Buch „Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz IV-Familie“. Was Undine außer Geld fehlte und was das Erzählen der eigenen Geschichte bringt, sagte sie jádu-Autorin Nancy Waldmann.
Undine, Du warst in deinem Leben sehr oft im Minus. Wo bist du jetzt?
Momentan bin ich im Plus, was ich vor allem meinem Arbeitsvertrag zu verdanken habe. So kann ich meine Schulden begleichen. Meinen Studienkredit habe ich fast abgezahlt, die Bafög-Rückzahlung steht noch aus.
Stimmt das: wer mehr hat, hat auch mehr Angst, etwas zu verlieren?
Angst? Nein. Ich weiß, wie ich mit wenig auskomme. Aber man gewöhnt sich daran, nicht rechnen zu müssen. Ich weiß, nächsten Monat kommt ja wieder was aufs Konto. Das ist eine große Erleichterung. Anfangs hatte ich einen großen Nachholbedarf und ich habe mir fast alles gekauft, was ich immer schon mal brauchte. Wer mehr Geld hat, gibt auch mehr Geld aus. Wer weniger hat, spart auch mehr. Man priorisiert die Dinge einfach weg.
Was hast du dir gekauft?
Kosmetik, Klamotten, Möbel. Eine vernünftige Matratze, eine Waschmaschine – natürlich auf Raten. Ich gehe ins Café, ohne jedes Mal zu rechnen. Bei Lebensmitteln gebe ich viel mehr aus als früher. Wenn ich früher irgendwohin gefahren bin, habe ich immer die günstigste Variante bevorzugt. Jetzt suche ich den für mich angenehmsten Zeitpunkt.
Unter welchen Umständen würdest du die finanzielle Sicherheit noch aufgeben?
Nur ungern. Auf keinen Fall, bevor ich meine Schulden abbezahlt habe. Eine Wohnung kann ich nur mit festem Einkommen mieten. Ich will nicht in das Improvisationsstadium des Studentenlebens zurück. Nochmal so arbeiten, dass es gerade so für mich reicht, stellt mich nicht mehr zufrieden. Vielleicht brauchen meine Eltern mal etwas. Es ist sehr angenehm, wenn man anstatt um Hilfe fragen zu müssen, auch mal selbst in der Lage ist, ein bißchen zu verteilen.
Was hast Du dafür aufgegeben? Den Traum vom Schreiben?
Den Traum, davon leben zu können. Journalismus kann ich mir nicht leisten. Dieser Druck, ständig Aufträge akquirieren und Texte verkaufen zu müssen, das blockiert mich. Nie wusste ich, wann Geld kommt. Ich bin nicht bis an den Punkt gekommen, an dem ich dachte: In einem halben Jahr läuft es rund. Ich war ausgelaugt. Deshalb habe ich entschieden, mir einen festen Job zu suchen. Ich wollte in Ruhe meine Eltern in Berlin besuchen können, ohne mir Gedanken zu machen, ob ich die Fahrkarte bezahlen kann.
Musstest Du deinen Traum schneller aufgeben als andere, weil deine Eltern dir finanziell nicht unter die Arme greifen konnten?
Wer Eltern hat, die einen im Zweifelsfall auffangen können, hat vielleicht mehr Freiheit. Das fällt für mich weg.
Du schreibst „Seit ich mich erinnern kann, gehörten meine Eltern zur Unterschicht.“ Wie ist dir das klar geworden, dass es so ist?
Als ich meine Magisterarbeit geschrieben habe, fing es an. Ich habe mich mit Identität, Migrationshintergründen und Vorstadtghettos beschäftigt. Dabei dachte ich mir: Eigentlich komme ich auch daher. Ich hatte das nie so wahrgenommen. Als ich den Artikel fürs Zeitmagazin geschrieben habe, dachte ich: ja Unterschicht, das müssten per Definition wir sein. Ich spiele auch mit dem Begriff, weil wir gefühlt niemals dazugehört haben.
Weil deine Familie keine „bildungsferne“ Familie ist?
Genau. Aber auch, weil meine Eltern mir diese sozialen Grenzen nicht vermittelt haben. Es gibt ja auch erwerbslose Eltern, die ihren Kindern sagen: „Aus dir wird nichts.“ Oder: „Wir haben keine Chance.“ Diese Sätze gab es bei uns zuhause nicht. Meine Eltern weigerten sich, diese Position einzunehmen.
Wie bist du dann an diese Grenze gestoßen?
Man spürt das oft erst, wenn man sieht, was anderen alles leichter fällt – ohne dass man genau weiß, warum das so ist. Ich dachte lange, was Viele denken, die einen ähnlichen sozialen Hintergrund haben: Es muss an mir liegen, dass das bei mir nicht klappt. Dass das auch strukturelle Hintergründe hat, reflektiert man nicht. Man wächst da rein und nimmt es hin. Klassenbewusstsein wird einem kaum vermittelt, in der Schule und der Uni nicht. Wir hören immer, dass es uns in Deutschland so gut geht und alles so gerecht ist. Trotzdem muss jemand wie ich härter arbeiten als andere.
Dir haben Vorbilder gefehlt?
Ja, ich hatte immer so ein unbestimmtes Bedürfnis, dass mir jemand zeigt wie es geht. Mir sagt, wie ich mit bestimmten Konflikten umgehe und was ich mir zutrauen kann.
Heißt das, auf die Privilegien, die durch Geld entstehen, kommt es gar nicht so an?
Schon. Wenn ich Geld habe, kann ich viel ausprobieren. Ich kann in Clubs und Museen gehen, reisen, Praktika machen, die schlecht vergütet sind, mir aber Kontakte oder Erfahrungen bringen. In manche Berufe kommt man anders gar nicht rein. Ich kann einfach mitspielen in einer bestimmten Liga, mich unbeschwerter in bestimmten Räumen bewegen. Wenn ich jeden Euro umdrehen muss, überlege ich mir zweimal, ob ich irgendwo reingehe. Wenn ich gute Kontakte habe, kann ich finanzielle Lücken kompensieren. Nichts ist unmöglich ohne Geld, aber meistens hängt beides eng zusammen.
War es ein lang gehegtes Bedürfnis über deine Eltern und dein Aufwachsen zu schreiben?
Nein. Es war die Aussicht, einen Artikel in einer renommierten Zeitschrift unterzubringen. Davor habe ich mich zwar manchmal gefragt, ob ich nicht etwas zu erzählen hätte. Aber ich wusste nie unter welchem Aspekt. Viele meiner Studienkollegen hatten auch wenig Geld, was sollte da bei mir anders sein? Erst als meine Idee in der Redaktion auf Interesse stieß, konnte ich meine Geschichte selbst in die passenden Kategorien einordnen.
Seit dein Buch erschienen ist, wurdest du oft in Fernsehsendungen eingeladen. Bist du da die Repräsentantin der Unterschicht?
Ich versuche diese Rolle zu erfüllen. Ich war bei ein paar Morgenmagazinen und kleineren Talkrunden. Mir macht das Spaß. Aber ich werde oft unter Etiketten vorgestellt, bei denen mir nicht ganz wohl ist: „das Hartz-IV-Kind“ oder „das armutsgebeutelte Kind, das es geschafft hat“. Je prominenter die Sendung, desto mehr ist die Rolle vorgegeben, die ich einnehmen sollte. Ein paar Vorgespräche liefen völlig daneben. Viele denken auch, ich hätte jetzt eine tolle journalistische Karriere hingelegt, ich sei „angekommen“. Das sehe ich anders.
Was ist denn nicht richtig an diesen Etiketten?
Man wacht nicht plötzlich auf und weiß, man gehört zum Prekariat. Man macht Grenzerfahrungen über eine lange Zeit, die man oft nicht als solche wahrnimmt. Deswegen ist es so schwer, arm sein zu benennen. Es ist eine Kombination aus finanziellen und sozialen Umständen und Lebensschicksalen. Ich vertrete eine Gruppe von Leuten, die damit Erfahrungen gemacht hat. Jede Armutsbiografie ist komplex. Aber für fünf Minuten Talkshowauftritt muss es zugespitzt werden. Das fällt mir manchmal schwer.
Diese „Gruppe“, wie du sagst, sind das nicht die Verlierer des Kapitalismus?
Es ist keine homogene Gruppe. Es sind Zeitarbeiter, Mütter, die ihre Karriere aufgeben mussten. Es sind Geringverdiener und Aufstocker. Leute, die gar nichts vom Amt kriegen, Flüchtlinge, Schwarzarbeiter, Leute ohne Aufenthaltsstatus und viele andere. Ich glaube nicht, dass sich so verschiedene Leute als eine soziale Klasse mobilisieren ließen.
Welchen Sinn hat es also für dich, das „Hartz IV-Kind“ zu spielen?
Mir ist es recht, wenn sich Leute damit identifizieren. Ich sitze dort für die, die unter den negativen Stereotypen von Fastfood und Flachbildschirmen leiden müssen und erkläre den anderen: So einfach ist das nicht, ihr müsst genau hingucken!
Was waren Reaktionen auf dein Buch, an die du dich gern erinnerst?
Ein Leser sagte mir, er kenne jemanden, der ärmer ist, dem wollte er einen Schulranzen schenken. Und nun beschriebe ich in meinem Buch in einer Szene, dass Geschenke den Beschenkten auch beschämen können. Er war unsicher, ob er den Ranzen schenken sollte. Und da finde ich, kommt es auf die Haltung des Gebers an. Nicht jedes Geschenk fühlt sich gut an. Das Angebot ist etwas Schönes, wenn es von Herzen kommt.
Oder ein anderer meinte: seinem Kind geht es ganz gut, aber zwei anderen Kindern aus der Klasse nicht, die können die Skifreizeit nicht mitmachen. Und jetzt überlegte er, ob er es den beiden finanzieren soll, weil er es könnte. Oder ob er es nicht tun soll, damit sein eigenes Kind sehen kann, dass es Leute gibt, denen es schlechter geht und es lernt, Empathie zu entwickeln. Das hat mich gerührt. Da gibt es natürlich keine Standardantworten.
Was hat dir das Erzählen deiner Geschichte gegeben?
Ich kann selbstbewusster mit meiner Herkunft umgehen. Auch das Verhältnis zu meinen Eltern ist durch die Arbeit am Buch intensiver geworden. Ich möchte anderen gerne Mut machen, denn dann hat es für mich einen Sinn, dass ich das so ausführlich und nah an mir selbst beschreibe. Und noch mehr freue ich mich, wenn es andere anregt, auch ihre Variante zu erzählen.
Eingeführt wurde das Konzept am 01.01.2005. Das Arbeitslosengeld II wird, anders als das Arbeitslosengeld I, auch an Personen ausgezahlt, welche noch nie in ihrem Leben gearbeitet haben. Die Voraussetzung für den Erhalt von Arbeitslosengeld II ist immer, dass der Hilfebedürftige nicht in der Lage ist, den Lebensunterhalt für seine Familie, Kinder oder den Ehepartner aus eigenen Mitteln (Vermögen und Einkommen) zu bestreiten.
Quelle: juraforum.de