Helga und Günther

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„Die Grenze ist einfach absurd und für einen normal denkenden Menschen unbegreiflich“, schrieb Günther im Jahr 1962 an Helga. Weder er noch Helga ahnten, wie viele Briefe sie sich noch schicken und wie viele Jahre noch vergehen müssen, bis ihre Liebe endlich ein Happy End finden wird. Foto: © privat

27 Jahre lang sehen sie sich nicht, aber eine anhaltende Brieffreundschaft lässt sie nicht vergessen. Wie eine junge Liebe der jahrzehntelangen Trennung durch den Eisernen Vorhang trotzte und ihr spätes Happy End erlebte.

„Die Grenze ist einfach absurd und für einen normal denkenden Menschen unbegreiflich“, liest Helga vor. Und weiter: „Ich werde dich nie vergessen und dich lieben, solange ich lebe.“ Als ihr Günther diese Zeilen im Jahr 1962 auf seiner Schreibmaschine schrieb, konnten weder er noch Helga ahnen, wie viele Briefe sie sich noch schicken und wie viele Jahre noch vergehen müssen, bis ihre Liebe endlich ein Happy End finden wird. Helga legt das vergilbte Papier zu den anderen Briefen. Sie hat sie alle aufbewahrt. „Immer wenn ich traurig bin, hole ich unsere alten Briefe hervor, wie ich es immer getan habe, als Günther noch lebte und er mir nicht mehr sagen konnte, wie lieb er mich hat,“ erzählt Helga.

„Wir konnten uns wunderbar unterhalten“

Nach der Trennung von seiner ersten Frau, eine Artistin und Tänzerin, hatte Günther mit seinen beiden damals neun- und sechsjährigen Kindern Gunnar und Iris eine Artistiknummer einstudiert. Damit bereisten sie die Theater Deutschlands. Im November 1960 traten sie auch in Zwickau im Varieté Lindenhof auf – seinerzeit das bedeutendste Varieté Sachsens. Helga war damals Studentin an der Bibliothekarschule in Leipzig. An den Wochenenden pendelte sie nach Zwickau zu ihrer Mutter. Die arbeitete in der Gaststätte des Lindenhofs, wo Günther mit seinen Kindern vor und nach den Auftritten verkehrte.

Die Studentin und der Artist finden schnell zueinander. Helga verarbeitete damals zwei Schicksalsschläge. Im Sommer 1960 hatte sich ihr Vater das Leben genommen. Im selben Jahr war auch ihre Oma gestorben. Günther riss die damals 20-Jährige aus ihrer Trauer. „Wir konnten uns wunderbar unterhalten“, erinnert sie sich. „An den zwei Wochenenden, an denen Günther und ich beide in Zwickau weilten, waren wir trotzdem sehr traurig darüber, dass wir nur so wenig Zeit füreinander zur Verfügung haben.“ Schon im Dezember begann deshalb ein Briefwechsel, der 21 Jahre dauern sollte.

Helga sieht Günther erst 1990 wieder: „Es waren die gleichen liebevollen braunen Augen, die mir schon 1960 so gut gefielen.“ Foto: © privat Zum vorerst letzten Treffen kam es 1964. „Damals war ich schon mit meinem ersten Mann zusammen, der aber nie auf meine Freundschaft zu Günther eifersüchtig war, denn aufgrund der Mauer stellte er für ihn sowieso keine wirkliche Konkurrenz dar“, erzählt Helga. Günther hatte einen Auftritt im Friedrichstadt-Palast in Berlin und durfte die ehemalige DDR durchqueren, aber immer nur für wenige Minuten und nur an bestimmten Raststätten anhalten. Die Raststätte am Hermsdorfer Kreuz in Thüringen gehörte dazu und Helga und Günther verabredeten dort ein Treffen: „Natürlich durften wir das eigentlich nicht, aufregend war es schon, aber die Sehnsucht war stärker. Deshalb überredete ich meinen damaligen Mann, mich mit dem Roller in die Nähe des vereinbarten Treffpunkts zu bringen. Den restlichen Weg ging ich dann zu Fuß.“

1974 wurden Günthers Kinder Profiweltmeister im Paareislauf. Die „Drei Toddys“, wie sich Günther, Iris und Gunnar schon seit Beginn ihrer Artistentätigkeit nannten, gastierten daraufhin in vielen Ländern der Welt. Helga hingegen blieb eingesperrt hinter dem Eisernen Vorhang. „Ein wenig konnte ich an der Welt teilhaben, denn Günther schickte mir mehrere Jahre Postkarten aus den USA, aus Hawaii, Japan, Südafrika, beinahe aus allen Ecken dieser Welt“, erzählt Helga stolz. Doch trotz der Gefühle, die beide füreinander hegten, riss der Kontakt Anfang der 80er-Jahre ab: „Ich weiß nicht, wer zuletzt nicht mehr geantwortet hat, aber plötzlich erhielt ich keine Briefe mehr.“

„Die gleichen Augen, die mir schon 1960 so gut gefielen“

Erst als Helga beinahe zehn Jahre später, nach dem Mauerfall, eine Freundin zu deren Geburtstag in Bayreuth besuchte, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und rief an bei der Post in Eschenbach, die zu Günthers letztem ihr bekannten Wohnort Barbaraberg gehört, um herauszufinden, ob er dort immer noch lebt: „Ein ganz lustiger Zufall, denn nur eine halbe Stunde nach meinem Anruf kam Günther in die Poststation und der Postbeamte erzählte ihm gleich von seinem Telefongespräch mit mir.“ Günther schickte daraufhin einen vierseitigen Brief und lud Helga zu einem Besuch ein.

„Als ich ihn das erste Mal wiedersah, waren es die gleichen liebevollen braunen Augen, die mir schon 1960 so gut gefielen“, denkt Helga an das erste Wiedersehen nach 27 Jahren zurück. Und schnell war es um beide erneut geschehen: „Von meinem ersten Mann war ich zu dieser Zeit wieder geschieden. Günther und ich waren uns rasch sicher, bis zu unserem Lebensende zusammen bleiben zu wollen. Obwohl wir es eigentlich nicht geplant hatten, heirateten wir sogar sieben Jahre nach unserem Wiedersehen.“ Viele Reisen führten die beiden unter anderem noch bis nach Australien, wo Günthers Sohn Gunnar lebt.

Helga und Günther blieben nach dem Fall der Mauer nur noch wenige gemeinsame gesunde Jahre: „Als ich nach zehn Jahren Pendeln zwischen Leipzig und Barbaraberg wegen meiner Arbeitsstelle im Jahr 2000 endlich zu Günther ziehen konnte, erlitt er 2005 einen Schlaganfall.“ Sieben Jahre pflegte Helga ihren Günther bis er 2012 im Alter von 84 Jahren starb.

„An unsere gemeinsamen glücklichen Stunden denke ich jeden Tag. Bis zuletzt, auch als er nicht mehr sprechen konnte, hat er meine Hand gedrückt, wenn er mich verstanden hat und mir dadurch seine Zuneigung gezeigt“, sagt Helga. Lähmen lässt sie sich von der drohenden Einsamkeit nicht. In ihren Augen spiegeln sich Agilität und Kraft: „Ich bin viel unterwegs, besuche manchmal meinen Sohn in Stuttgart, engagiere mich für Demenzkranke und treffe Freunde.“


Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2014


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

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