Lin Hierse
Wovon wir träumen
„Eine Träumerin ist man nicht einfach so, man muss es sich vornehmen, und das kostet Kräfte.“
Am Anfang des Romans Wovon wir Träumen von Lin Hierse befinden wir uns mit der Protagonistin auf einem Berg in Shaoxing. Sie ist zusammen mit ihrer Mutter aus Deutschland zur Beerdigung ihrer Großmutter, ihrer A’bu, angereist.
Von Florina Evers
Um sich durch die vielen Rituale einer chinesischen Bestattung zu navigieren, ist sie auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen. Sie stecken ihr rotes Papier in die Schuhe („zur Sicherheit“) und spannen einen Regenschirm über die Urne, damit A’bus Geist noch eine Weile bei ihnen bleibt und sich auf dem Weg in ihr Heimatdorf nicht verirrt. Wie immer lösen diese Art der Rituale bei der Protagonistin ein Gefühl von Fremde und Vertrautheit aus. Sie steht zwischen den Stühlen und würde gerne auf beiden Platz nehmen. Deutschland und China.
Die Ich-Erzählerin hat eine chinesische Mutter und einen deutschen Vater (dessen Existenz im Roman jedoch nur angedeutet wird). Sie ist in einer niedersächsischen Kleinstadt aufgewachsen, später nach Berlin gezogen, und die Heimat ihrer Mutter, Shanghai, kennt sie nur von ihren unregelmäßigen Besuchen dort. Mit ihren Verwandten verständigt sie sich auf Chinesisch – und wenn ihre Sprachkenntnisse nicht ausreichen, mit Händen, Füßen und Blicken. Bei diesen Besuchen merkt die Erzählerin, dass sie nie ganz dazu gehören wird. Sie wird ewiger Gast sein, keine „richtige“ Chinesin und keine „richtige“ Deutsche. Ein Tanz der Identitäten, der sich auch auf ihrem Gesicht und in ihrem Namen abzeichnet und ihre Mitmenschen rätseln lässt: Griechenland? Hawaii? Türkei? Kasachstan? Korea? Japan? Vietnam? Keine dieser Identitäten ist ihre.
„Als Kind habe ich mich manchmal gefragt, ob es einen Ort gibt, an dem alle so aussehen wie ich. Ich habe fast sehnsüchtig darauf gehofft, dass er existiert. Jetzt frage ich mich, ob es überhaupt jemals eine Balance geben kann zwischen dem Wunsch, dazuzugehören, und dem Wunsch, einzigartig zu sein.“
Das hat auch Auswirkungen auf die Mutter-Tochter Beziehung. Trotz der Vertrautheit und der gegenseitigen Liebe und Fürsorge ist die Beziehung von Unverständnis geprägt. Während die Protagonistin versucht, alles über die Kindheit und Jugend ihrer Mutter in China herauszufinden, bevorzugt diese, ihre Vergangenheit ruhen zu lassen. Denn mit der Erinnerung kommt auch die Schuld hoch, weggegangen zu sein und die Familie für ein besseres Leben zurückgelassen zu haben.
Träume statt Traumata
Das Unwissen über ihre chinesische Identität, über das die Erzählerin immer wieder stolpert, füllt sie mit bunten Bildern und Träumen, von denen sie nicht immer sicher sein kann, dass sie so passiert sind und fragt sich im Zuge dessen: Ist es wirklich nötig, jede Geschichte exakt so zu erzählen, wie sie sich zugetragen hat?
So ist es auch nicht überraschend, dass sich die Protagonistin an Transit-Orten wie Flughäfen, Bahnhöfen und Bushaltestellen wohl fühlt. Wie auch Träume, die eine zentrale Rolle im Roman einnehmen, macht sie das Dazwischen aus: Zwischen zwei Ländern oder Städten, zwischen Tag und Nacht, Wirklichkeit und Fantasie. Sie wird zur Träumerin und versteht, was für ein Privileg es ist, sich erinnern zu wollen statt zu vergessen, um es in der Gegenwart besser auszuhalten.
Lin Hierse hat einen ausgesprochen feinfühligen Roman geschrieben, der mich mit seiner zarten Sprache berührt hat und eine ganz eigene, persönliche Geschichte von Herkunft, Familie und Identität erzählt. Im Vordergrund steht nicht, wie so oft, wenn es um diese Themen geht, das Tragische, sondern die komplexe Schönheit, die Migrationsgeschichten auch ausmachen.
Die fantastischen Elemente fügen sich elegant mit den Rückblicken und Gegenwartsaufnahmen zusammen und lassen jedes Kapitel für sich selbst stehen. Wie ein vielteiliges Puzzle kommt alles am Ende zusammen. Das Motiv aber bleibt verschwommen, wie ein Traum, an den man sich direkt nach dem Aufwachen versucht zu erinnern - ein Erinnern, das man gerne tut.
Lin Hierse wurde 1990 in Braunschweig geboren. Sie studierte Asienwissenschaften und Humangeographie und lebt heute in Berlin. Seit 2019 ist sie Redakteurin der taz, in der auch alle 14 Tage ihre Kolumne poetical correctness erscheint. Wovon wir träumen ist ihr erster Roman.