Yade Yasemin Önder
Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
Yade Yasemin Önder hat eine Geschichte über Familie, Herkunft, Leben mit Krankheit und der Suche nach Liebe und Akzeptanz geschrieben, die ganz ohne Klischees und abgenutzte Sprachbilder auskommt. Ein origineller, bewegender und sprachlich gelungener Debütroman, an dem nichts, aber auch wirklich gar nichts verstaubt ist.
Von Florina Evers
TW [Trigger Warnung]: Essstörung
Eines muss man bei diesem Roman vorwegnehmen: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron ist alles andere als ein klassischer Roman und sicher nichts für Menschen, die geradlinige Handlungsverläufe mit klarem Höhe- und Wendepunkt lieben. Doch Leser*innen, die Lust auf ein wenig Anspruch haben und sich auf etwas Unkonventionelleres einlassen können, werden nicht enttäuscht werden. Denn Yade Yasemin Önder hat eine Geschichte über Familie, Herkunft, Leben mit Krankheit und der Suche nach Liebe und Akzeptanz geschrieben, die ganz ohne Klischees und abgenutzte Sprachbilder auskommt. Sie ist eine der Autor*innen, die momentan frische Luft in den deutschen Literaturbetrieb bringen. Ein origineller, bewegender und sprachlich gelungener Debütroman, an dem nichts, aber auch wirklich gar nichts verstaubt ist.
Wo beginnen, wenn jedes Kapitel einem wilden Abenteuer gleicht? Vielleicht mit dem Handlungsstrang, der eine Coming-of-Age Geschichte erzählt. Die Protagonistin verliert früh ihren stark übergewichtigen türkischen Vater („Mit ihm konnte man fast nichts machen, was mit Schwerkraft zu tun hatte“) bei einem Gartenarbeitsunfall. Daraufhin sind Mutter und Tochter auf sich allein gestellt und müssen das schöne Haus auf der Wiese, in dem die Protagonistin aufgewachsen ist, verlassen. Es folgt eine schwierige Zeit für die beiden, die stark von Trauer und der Kompensation dieser geprägt ist. Während die Mutter mit ihrer Arbeit und wechselnden Liebeleien beschäftigt ist, stürzt sich die Protagonistin mit ihrer Freundinnen-Clique in kleine und große Eskapaden. Sie schwänzen die Schule, klauen Tampons, trällern lautstark Spice-Girl-Songs und führen alte Männer in der Sex-Hotline an der Nase herum.
Wir glänzen, wir singen, die Fußgängerzone ist uns Universum genug. Wir kichern, wir lachen, wir schreien vor Glück. Wir treten so lange an volle Mülleimer, bis sie aufgeben und herunterfallen.
Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten und wir fallen synchron. KiWi, 2022
Doch die inzwischen jugendliche Protagonistin stellt fest, dass sich die Trauer und Schuld, die sie am Tod ihres Vaters zu haben glaubt, einfach nicht verdrängen lässt. Sie hat das Bedürfnis, in ihrem Leben, das aus der Bahn zu gleiten scheint, Kontrolle zu übernehmen. Ihr Mittel zum Zweck wird das Essen. Ihre erste Essattacke hat etwas Schicksalhaftes, jeder Gang zur Mikrowelle, in der nach und nach der Doseneintopf-Vorrat einer ganzen Woche aufgewärmt wird, wie eine Prozession, die Heilung verspricht. Essen wird ihr Freund, ihr Feind, ihre Verbindung zu ihrem toten Vater. Es dauert nicht lange bis die Mutter das rätselhafte Verschwinden der Vorräte auffällt. Von nun an muss die Tochter geschickter vorgehen. Sie beginnt eine Art Doppelleben zu führen, täuscht Anlässe vor, um die Mengen an Lebensmitteln rechtfertigen zu können, die ihren Weg vom Supermarkt, in den Kühlschrank und schließlich auf ihren Teller finden. Die Sprache, mit der die immer extremer werdende Bulimie geschildert wird, ist klinisch, klar, distanziert. So wird das Erbrechen nach den Essanfällen zur „gegenregulatorische Maßnahme“, die Bulimie zum „Symptom“, das mit der Protagonistin spricht und sich in den unpassendsten Momenten Gehör verschafft.
Zwischen den Erinnerungen an die Kindheit mit ihrem Vater, den Bulimie-Szenen und der jugendlichen Rebellion mit ihrer Clique, tauchen auch die Erinnerungen an die Sommer auf, die sie gemeinsam mit Vater und Mutter in der Türkei verbracht hat. Ein Land, dass ihr gleichermaßen vertraut, wie fremd ist – und doch genauso an ihre Identität gekoppelt ist wie Deutschland, in dem sie geboren und aufgewachsen ist.
Als ich wieder aufwachte, flogen Möwen über meinem Kopf, und unter mir glitzerte der Bosporus, und es roch wie immer in Istanbul, nach zu heißen Elektrogeräten und Anis.
Yade Yasemin Önder: Wir wissen, wir könnten und wir fallen synchron. KiWi, 2022
Ich konnte nicht mit allen Kapiteln gleich viel anfangen und manchmal fiel es mir schwer, mich voll und ganz auf den Text einzulassen. Begeistert hat mich der Roman dennoch, allein weil ich nun um einige wunderbare Sätze reicher bin, die ich am liebsten in eine imaginäre Schatzkiste packen würde. Da drin würden dann die „weißen Touristen“ liegen, die auf ihren Booten wie „Baiser auf Rhabarberkuchen kleben“, ebenso die Musik, „die in den Abend kleckert, wie flüssige Sahne auf flachen Tellern“ und der Mann, „der so lange Wimpern hat, dass sie den schlechten Sex einfach wegwischen“.
Yade Yasemin Önder studierte Literatur - und Erziehungswissenschaften an der HU Berlin, Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. 2018 war sie Gewinnerin des open mike in der Kategorie Prosa, 2019 Preisträgerin des Martha-Saalfeld-Förderpreises, 2020 erhielt sie das Arbeitsstipendium Literatur des Berliner Senats, 2021 war sie Stipendiatin der Kulturakademie Trabya Istanbul.
Wir wissen, wir könnten und wir fallen synchron
KiWi Verlag, 2022256 Seiten
ISBN: 978-3-462-00156-3