„24 Wochen“
Moderne Tragödie über eine Abtreibung

„24 Wochen“
Foto: Das Kleine Fernsehspiel, Filmakademie Baden-Württemberg, zero one film

In seinen Ausführungen über die Poetik bezeichnet Aristoteles die Tragödie sinngemäß als die Darstellung eines folgenschweren Konflikts, der einer Person mit herausragendem Charakter, ohne deren unmittelbares Verschulden, großes Leid einbringt. Zu den wesentlichen Merkmalen einer Tragödie gehört, nach Aristoteles, auch die abschließende Katharsis als läuternder Effekt für den Zuschauer in seiner Erschütterung über das emotionale Leid des Protagonisten. Ausgehend von dieser Definition lässt sich der Film „24 Wochen“ durchaus als moderne Tragödie bezeichnen. Denn sämtliche von Aristoteles beschriebenen Kennzeichen finden sich auch in diesem Werk der Regisseurin Anne Zohra Berrached wieder, das unter anderem auch im Rahmen der diesjährigen Goethe Film Woche in Kairo gezeigt wird.

Die Hauptperson Astrid Lorenz (Julia Jentsch) ist eine „Person mit herausragendem Charakter“ im aristotelischen Sinne. Als Comedy-Star spielt sie regelmäßig vor ausverkauftem Haus. Die Rundfunksender reißen sich um sie. Mit ihrem Produzenten Markus (Bjarne Mädel) führt sie ein glückliches Familienleben. Die beiden haben eine reizende kleine Tochter, das zweite Kind ist unterwegs. Ruhm, Erfolg und Familienglück – ein wahres Bilderbuchleben, das Astrid da führt. Bis im sechsten Schwangerschaftsmonat eine unerwartete Wendung eintritt und die Tragödie ihren Lauf nimmt.
 
Bei einer Routineuntersuchung stellt sich heraus, dass Astrids zweites Kind mit 98-prozentiger Sicherheit vom Down-Syndrom betroffen sein wird. Astrid und Markus stellen sich das erste Mal die Frage, ob es besser sei, die Schwangerschaft abzubrechen. Doch dann kommt der weitaus schlimmere Tiefschlag: Das Kind hat zwei Löcher in den Herzkammern und müsste nur wenige Tage nach der Geburt einem riskanten chirurgischen Eingriff unterzogen werden.
 

Tragödie und Epos

 
Die Regisseurin Anne Zohra Berrached, die zusammen mit Carl Gerber auch das Drehbuch geschrieben hat, wendet hier auf ideale Weise die elementaren Regeln der Tragödie an, indem sie zunächst den Entschluss, den die Protagonistin und ihr Partner fassen müssen, zur zentralen Frage des Films macht und anschließend die unklare Situation bereinigt, wobei die sorgfältige Ausarbeitung der Charaktere und ihrer Umgebung dem Dilemma eine zusätzliche Dramatik verleiht.
 
Astrids anfängliches Glück lässt den Schock umso heftiger ausfallen. Ein behindertes Kind – das wirft den gesamten mustergültigen Lebensplan über den Haufen. Astrid und Markus müssen, um bei der Terminologie der Dramentheorie zu bleiben, den Weg des geringsten Widerstands verlassen, damit sie den äußerst schwierigen Schritt wagen können, gemeinsam zu ihrer Entscheidung zu stehen, das behinderte Kind zu behalten und großzuziehen. Als dann zudem noch der mit schwerwiegenden Konsequenzen für alle Beteiligten verbundene Herzfehler entdeckt wird, bricht der innere Konflikt erneut aus, diesmal noch heftiger. Der Comedy-Queen wird klar, dass ein Schwangerschaftsabbruch zu diesem späten Zeitpunkt nur durchgeführt werden kann, wenn das Kind im Mutterleib vorab mit einer Kaliumchloridspritze getötet wird, was faktisch einem Akt der Euthanasie gleichkäme, für den sie die moralische Verantwortung zu tragen hätte.
 
Wegen der Berühmtheit der Protagonistin erhält diese absolut persönliche und individuelle Entscheidung aber noch eine weitere Facette. Die Entscheidung wird zu einer öffentlichen Angelegenheit. Der Entschluss, ob Astrid das Kind behalten oder abtreiben soll, bleibt nicht allein ihre Privatsache, über die sie ausschließlich mit ihrem Partner, ihrer Mutter, ihren Angehörigen und ihren Freunden beratschlagt, sondern er gerät, ob sie will oder nicht, zum gesellschaftlichen Statement, zu dem sie sich unweigerlich bekennen muss. Auf diese Weise lässt die Regisseurin zahlreiche klassische Topoi einfließen: Der Komödiant, der alle zum Lachen bringt und heimlich weint; der Unerschrockene, der zu allem etwas zu sagen hat, bis plötzlich das Gespräch auf sein eigenes Leben kommt; die berufliche Karriere, die thematisiert wird, wenn sich zwei Partner über ihre gemeinsame Zukunft auseinandersetzen müssen.
 
Spätestens an dieser Stelle wird die Kongruenz mit dem tragischen Konzept des Aristoteles ganz deutlich sichtbar. Astrid wäre in diesem Fall die Person mit herausragendem Charakter. Damit sind die Grundvoraussetzungen für den tragischen Verlauf geschaffen. Der Betrachter ist gezwungen, sich vom Dilemma der Protagonistin und von ihrer Entscheidungsnot persönlich betroffen zu fühlen. Die reinigende Auflösung wird geradezu herbeigesehnt, wobei sich für jeden Zuschauer nicht nur die Frage stellt, was Astrid machen soll, sondern auch die Frage, was er an ihrer Stelle machen würde.
 

Tragödie und Ethos

 
Wie auch immer die Antwort auf diese Frage lauten mag – ohne Schmerz wird die Sache nicht über die Bühne gehen. Und genau darin besteht die eigentliche Krisis. Astrid wird auf jeden Fall leiden: Entscheidet sie sich für die Abtreibung, so wird sie aus freien Stücken ihr ungeborenes Kind töten, um sich und dem Kind lebenslange Mühsal zu ersparen, doch die Schuldgefühle wird sie wohl niemals mehr loswerden. Entscheidet sie sich wiederum, das Kind zu behalten, so verurteilt sie es zu einem Dasein, das mit einer riskanten Operation am offenen Herzen beginnen wird und, sofern diese überhaupt gelingt, bis zum Schluss als Leben mit einer körperlichen und geistigen Behinderung geführt werden muss. Für dauerhafte Lebensfreude dürfte wohl in beiden Fällen kein Platz sein. Das anfängliche Glück gerät für Astrid plötzlich zur bloßen Erinnerung an bessere Zeiten, die nie wieder zurückkehren werden. Als Zuschauer müssen wir an ihrem innerlichen Kampf teilnehmen, wobei wir insgeheim beten, Gott möge verhindern, dass uns jemals so etwas widerfährt.

 


Das große Verdienst der Regisseurin besteht darin, dass sie keinerlei Tendenz für die eine oder andere Entscheidung durchscheinen lässt. Der Film ist kein Plädoyer für oder gegen die Abtreibung. Freilich entscheidet sich die Protagonistin, nach allem was sie erlebt, letzten Endes für eine der beiden Optionen. Doch ihre Entscheidung ist ihr ganz persönlicher Entschluss, nicht die Lösung, die der Film oder gar die Regisseurin anbietet. Der Film 24 Wochen nähert sich dem Dilemma und dem damit verbundenen Maß an Ratlosigkeit und Schmerz behutsam und verständnisvoll: Ein menschliches Problem von einem solchen Ausmaß lässt eine Beurteilung oder eine eindeutige Tendenz schlichtweg nicht zu.
 

Wasser als visuelles Trägermedium

 
Man täte dem Film allerdings Unrecht, wenn man ihn ausschließlich auf seine Thematik und seine Dramatik reduzieren würde. Die Regisseurin beschränkt sich nämlich nicht darauf, eine aus gesellschaftlicher und menschlicher Sicht heikle Angelegenheit anzusprechen, sie wählt dazu auch eine Bildsprache, die es wert ist, eigens erwähnt zu werden, wobei Wasser zur visuellen Identität, zum Trägermedium des Films gemacht wird. Wasser erscheint hier zum einen als Fruchtwasser, von dem das Ungeborene im Mutterleib umgeben ist und das in den Träumen und Fantasien, die Astrid heimsuchen, wenn ihre Gedanken um die schwierige Entscheidung kreisen, als optischer Übergang zwischen den einzelnen Abschnitten des Films dient. Wir sehen Detailaufnahmen eines Fötus, die uns annähernd vermitteln, welche Traumgedanken mit den körperlichen Symptomen verbunden sind, die bei schwangeren Frauen auftreten.
 
Abgesehen davon taucht das Wasser im Laufe des Films noch in diversen anderen Szenen auf, insbesondere im Schwimmbecken und in der Dusche des öffentlichen Schwimmbads, bei dessen Besuch die Protagonistin auf andere Frauen trifft, wobei die Sequenzen an diesen Schauplätzen die Momente symbolisieren, in denen Astrid bewusst wird, dass ihr Zustand zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Die Unterwasseraufnahmen der strampelnden Beine von Schwangeren bei der Gymnastik wirkt wie eine Choreographie des Schwebezustands, in dem sich die zwiegespaltene Protagonistin befindet, und ist nur eines von vielen Beispielen für weitere Sequenzen, in denen Wasser die Bildsprache dominiert.

Im Vordergrund steht dabei nicht nur die Ästhetik, sondern auch die bildhafte Darstellung der Verbindung zwischen der Mutter und dem ungeborenen Kind. Ähnlich wie das Kind, das im Fruchtwasser der Entscheidung über sein Schicksal harrt, durchläuft auch Astrid eine Art fetale Phase, an deren Ende ihre Wiedergeburt als völlig veränderte Frau steht. Eine Frau, die durch diese Erfahrung, durch den Schmerz, aber auch durch die Konfrontation mit Schuld- und Verantwortungsgefühl reifer geworden ist, und deren Verhältnis zur Familie, zur Arbeit und zum gesamten Umfeld einen kompletten Wandel durchlaufen hat. Eine Frau, die den schwersten nur menschenmöglichen Entschluss in Betracht ziehen musste, nämlich die Tötung des eigenen Kindes, als rationale Option und Entscheidung, die getroffen werden muss, im Interesse aller Beteiligten.
 
In 24 Wochen erzählt die Regisseurin also eine Tragödie, die die von Aristoteles in seinen Ausführungen über die Poetik formulierten Ansprüche geradezu beispielhaft erfüllt, und zwar mit absolut authentischen Bildern, sodass ein handwerklich brillanter und tief beeindruckender Film entstehen konnte, der seinen Erfolg nicht nur einer interessanten Story und einer gewichtigen Thematik verdankt , sondern auch den von der Regisseurin angewandten formalen und stilistischen Kunstgriffen.