Internationales Festival
Kunst zwischen Zugänglichkeit und Praxis

“Zeit der Wunder” Vorführung
“Zeit der Wunder” Vorführung | Foto: © Hassan Emad

„Es offenbart, beseitigt Illusionen, es weicht ab, diskutiert, aktiviert die Sinne, überwindet Ideologien. Das Theater ist der wahre Staat des Bürgers, ein Staat, in dem niemand auf Grund von Herkunft, Religion oder Hautfarbe ausgeschlossen wird.“ Mit diesen Worten begann der Präsident des „Internationales Festival für experimentelles und zeitgenössisches Theater Kairo“, die Eröffnungsfeierlichkeiten. Im 24. Jahr präsentiert das Festival 25 Theatervorführungen von Gruppen aus 17 Ländern aus aller Welt.

Vor dem “Al-Taliaa”-Theater am Ataba-Platz im Zentrum Kairos bildet sich eine lange Schlange von Menschen, die ein Ticket für eine der ägyptischen Vorführungen des Festivals erstehen möchten. Nur wenige Schritte entfernt stehen die Leute in einer anderen Schlange an, sie möchten die russische Vorführung „Zeit der Wunder“ besuchen. Im Verlauf dieses zehntägigen Besucherandrangs konnten die Kairoer Theater ihre Dynamik und Vitalität wiederherstellen.  
 

„Zeit der Wunder“

Im Theater herrscht eine erwartungsvolle Stille. Die Bühne ist dunkel. Wir hören Beerdigungsmusik, die langsam lauter wird, während hinter der Kulisse ein kleines Licht erscheint und eine Gruppe Künstler, mit Fäden umwickelt, die Bühne betritt.
 
Mit einfachen Mitteln wie Baumstämmen, Fäden und Plastikcontainern präsentiert die russische Regisseurin Lidia Kobina ihr Stück “Zeit der Wunder”. Das Stück diskutiert die Beziehung von Menschen und Zeit, vom Moment der Geburt an bis zum Tod. Eine schwierige Beziehung, die ständig zwischen dem Wunsch nach Ewigkeit und der Unvermeidlichkeit des Todes schwankt.
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung
  • “Zeit der Wunder” Vorführung Foto: © Hassan Emad
    “Zeit der Wunder” Vorführung

Das Stück stellt auch Fragen: nach dem Selbst und Identität, nach dem Individuum und der Gruppe, nach Genuss und Schmerz, jedoch ohne uns direkt auch klare Antworten zu liefern. Das Stück nimmt uns lediglich mit auf eine Reise, auf der wir die „Zeit der Wunder“ entdecken, in der wir leben.
 

Experimentell und kontemporär

22 Jahre lang, seit seiner Gründung im Jahr 1988, war das Festival unter dem Titel “Internationales Festival des experimentellen Theaters Kairo” ausschließlich dem experimentellen Theater gewidmet. Erst im letzten Jahr wurde das Wort „kontemporär“ hinzugefügt, um beides im Festival zusammenzubringen.
 
„Sprachlich betrachtet schließen sich „kontemporär“ und „experimentell“ nicht gegenseitig aus. „Kontemporär“ bezeichnet eine zeitliche Komponente während „experimentell“ sich auch das Verfahren bezieht“, erklärt Sameh Mahran, der Festivaldirektor, und er fügt hinzu: „Die Bezeichnung „Experimentelles Theater“ ist in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr vom „kontemporären Theater“ abgelöst worden, das auf der Harmonie der Kulturen beruht. Um dem Festival mehr Möglichkeiten zu eröffnen versuchen wir beide Komponenten miteinander zu verbinden.“

Der Versuch, verschiedene Theaterschulen miteinander zu verknüpfen, spiegelt sich auch in den Vorführungen des Festivals wieder, die sehr verschiedene Ideen und Aufführungsformen repräsentieren. Dadurch hat das Festival zwar Harmonie und Dialogmöglichkeiten eingebüßt, doch offener als je zuvor stellt es sich als Ort für Theatervorführungen dar, was zu vielen Fragen bezüglich der Auswahlkriterien der teilnehmenden Stücke führte. 
 

Dialog der Kulturen

Das Theaterstück „Der Botschafter” des ägyptischen Regisseurs Ahmed Al-Salamoni, nach einem Text des polnischen Schriftstellers Sławomir Mrożek, bietet Einblicke in die arabische Realität: Es diskutiert die Idee spontaner Launen des Bösen und den Wunsch nach Kontrolle und Dominanz und stellt eine Verbindung her, zu den Kriegen und Krisen, welche die arabischen Gesellschaften durchleben.
  • Theaterstück „Der Botschafter” Foto: © Hassan Emad
    Theaterstück „Der Botschafter”
  • Theaterstück „Der Botschafter” Foto: © Hassan Emad
    Theaterstück „Der Botschafter”
  • Theaterstück „Der Botschafter” Foto: © Hassan Emad
    Theaterstück „Der Botschafter”
  • Theaterstück „Der Botschafter” Foto: © Hassan Emad
    Theaterstück „Der Botschafter”
  • Theaterstück „Der Botschafter” Foto: © Hassan Emad
    Theaterstück „Der Botschafter”

Die Vorführung basiert auf einem Mix aus Tanz, bewegter Performance und Lichteffekten. Sie bewegt sich durch die Zeiten und Kulturen unter Verwendung einer Vielzahl von Bühnenbildern voller Symbole, Zeichen und Musik. So wird das Ausmaß der Zerstörung und der menschlichen Tragödie aufgedeckt, die Kriege sowohl auf Seiten des Besiegten als auch auf Seiten des Siegers verursachen, denn im Krieg gibt es keine Gewinner.

Zugänglichkeit und Praxis

Der herausragendste Titel des diesjährigen Festivals ist wohl „Theater zwischen Zugänglichkeit und Praxis”. Neben den Theatervorführungen gehörten auch sieben Workshops zu den Themen Regie, Schreiben, Tanz und Musik, Straßentheater und dokumentarisches Theater zum Festivalprogramm, angeboten von internationalen Theaterexperten aus Europa, Afrika und Asien. Sie wollten Künstler wie Publikum dazu ermutigen, die nötigen Fähigkeiten und Werkzeuge für die Auseinandersetzung mit dem Theater zu entwickeln, mit denen sie von Betrachtenden zu Partizipierenden werden können. 
In diesem Zusammenhang ehrte das Festival die deutsche Theaterwissenschaftlerin Prof. Dr. Dr. h. c. Erika Fischer-Lichte für ihre großen Anstrengungen neue Interpretationen der Beziehungen von Theater und Gesellschaft sowie zwischen Performance und Publikum zu entwickeln. Ihre Arbeit kumuliert in den beiden Theorien der „Verflechtungen von Theaterkulturen“ und der „Ästhetik des Performativen“. Durch ihre Arbeit eröffnet Fischer-Lichte neue Perspektiven indem sie die performative Kunst als ästhetische Erfahrung beschreibt, die aus der Interaktion von Schöpfer und Empfänger entsteht.

„Internationales Festival für experimentelles und zeitgenössisches Theater Kairo“ Foto: © Adel Sabri

Verflechtungen von Theaterkulturen

Dr. Dr. Marwa Mahdy-Abidou, Geschäftsführerin des „Zentrum für arabisches Theater und Interkulturalität Zati e.V.“, erklärt, was die Arbeit von Fischer-Lichte besonders hervorhebt, sei ihre Fähigkeit, neue Thesen zu entwickeln. Durch die Gründung des internationalen Forschungskollegs „Verflechtungen von Theaterkulturen“ hat sie den Sprung von der Theorie zur Praxis geschafft. Das Forschungskolleg organisiert diverse interkulturelle Produktionen und Festivals und bietet somit selbst ein lebendiges Beispiel für die „Verflechtungen von Theaterkulturen“.

Erika Fischer-Lichte möchte mit ihrer Theorie der „Verflechtungen von Theaterkulturen“ das Theater von seinem „klassischen“ Bild befreien. Theateraufführungen sind nicht zu vergleichen mit geschriebenem Text: sie sind ein künstlerischer und sozialer Akt, ein schöner, aber flüchtiger, Augenblick, der an das Zusammenspiel des Publikums mit den Schauspielern geknüpft ist. Dadurch entsteht eine Interaktion zwischen Publikum, Künstlern und Forschern unterschiedlicher kultureller Hintergründe.

Ästhetik des Performativen

Erika Fischer-Lichte konnte wegen dringender familiärer Angelegenheiten nicht an dem Festival teilnehmen. Sie sendete ein Video, in dem sie ihre Abwesenheit entschuldigte, und erklärte, dass Theater in einer geschlossenen Umgebung nicht wachsen könne, doch es blüht auf, je mehr die Gesellschaft offen ist für verschiedene Kulturen. Wobei sie darauf hinwies, dass der Terminus des „Performativen“ sich nicht auf das Theater beschränkt, sondern alle Künste einschließt.

In ihren Theorien stellt Erika Fischer-Lichte Kultur, Publikum und Künstler auf eine gemeinsame Ebene indem sie den Fokus weg vom geschriebenen Text hin zum Performativen rückt. Dieser methodische Ansatz erlaubt es, die Aufführung unter dem Aspekt des Sichtbaren, Lebendigen, des auf der Bühne Umgesetzten zu analysieren, statt lediglich den Übergang vom geschriebenen zum gesprochenen Text zu bewerten. Dies bedeutet, dass wir mit Theater als sozialem Ereignis umgehen, das darauf beruht, seine eigene spezifische Ästhetik zu produzieren.