„Ein gerahmtes Bild an der alten Wand“
Über den Roman „Die Geister im Haus des Heinrich Böll“ von Alaa Khaled

Roman „Die Geister im Haus
© Dar Alsharouk

Was bleibt von unserer Individualität nach oder während so einem riesigen, kollektiven Ereignis wie der Revolution? Ist die persönliche Zeit noch relevant inmitten des gemeinsamen, von kollektiver Kraft getriebenen Stroms?

Die Einsamkeit, mit all den Ängsten, mit denen sie konfrontiert ist, oder die sie beschließt mit einem hübsch bestickten Laken zu bedecken, so wie man in einer Wohnung, die länger nicht betreten werden wird, die Möbel abdeckt, ist wohl der wichtigste Gefährte auf der Suche nach dem Selbst. Die Einsamkeit des Erzählers im Roman „Die Geister im Haus des Heinrich Böll“ und der anderen Schriftsteller während ihres gemeinsamen literarischen Aufenthalts im Haus des verstorbenen Nobelpreisträgers, prägte mein persönliches Leseerlebnis des Romans. Von der Zukunft zu sprechen als sei sie präsent und bekannt beziehungsweise sie zu antizipieren, gehört zu Alaa Khaleds bevorzugen Erzählweisen, wenn er frei und selbstsicher die Zeiten durchstreift. Der Erzähler im Roman fragt sich, was es wohl mit seiner eigenen Zeit auf sich hat und der Autor liefert die Antwort, indem er die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft überbrückt und sich zwischen beiden hin und her bewegt.

Der Protagonist des Romans, ein ägyptischer Schriftsteller, schreibt in einem der Artikel, die er während seines Aufenthalts in Deutschland zur Veröffentlichung nach Ägypten schickt,  dass er sich selbst wie „ein gerahmtes Bild“ sieht, dass „an der Wand einer alten Wohnung mit hohen Decken hängt“. Dieses Gefühl überkam ihn, als er sich gerade zusammen mit seiner Frau in einer alten Wohnung vor den Demonstrationen der Januar-Revolution versteckte. Von Beginn des Romans an ist der Erzähler damit beschäftigt, herauszufinden, was das Voranschreiten der Zeit für ihn bedeutet und was die Zukunft bringen mag. Er ist fünfzig Jahre alt und beschreibt das Leben als „halbleeres Glas, welches sich nie füllen wird.“ Das Ende antizipierend spricht er über eine Zukunft, die offen vor ihm liegt, und gibt der Vision seines Lebens eine neue Färbung.

Die Nostalgie alter Gesänge

Der Erzähler ist beim Abwägen zwischen Individuum und Gruppe noch zu keinem Schluss gekommen, sondern schwingt vielmehr hin und her, gefangen in dem Übergangsmoment, aus dem heraus er schreibt. Er distanziert sich von der Masse doch der Gedanke, dass „das Bild der Allgemeinheit sich auf ein einziges Individuum reduziert, welches sich in der Menge bewegt…“, bereitet ihm schlaflose Nächte. Der kollektive Fußabdruck zeigt sich an mehreren Stellen, etwa als er zu seinem Kollegen sagt: „Die Revolution hat bei allen einen Sinn für Fiktion geschaffen.“

Es ist klar, dass die Suche nach sich selbst auch den Kontakt zu anderen beinhaltet. Denn alle Menschen fragen sich, was die Zukunft birgt und nehmen das Ende vorweg. Alle, die ihren Ursprung, Zeit und Umstände miteinander teilen, teilen auch diese Frage, selbst, wenn manche sie für sich behalten. Dies erinnert an den Konflikt, den der französische Philosoph Michel Foucault diskutierte nämlich, dass es keine wahre Individualität gebe: Solange wir alle demselben System unterliegen, interpretieren wir die Welt durch eben dieses, beispielsweise durch das System der Sprache. In einer Szene beschreibt der Erzähler, wie es der Besitzer eines irakischen Restaurants genießt, dem arabischen Schriftsteller zuzuhören, da er den Klang der arabischen Sprache vermisst. An anderer Stelle bemerkt er wie sein Freund sobald er ins Weißrussische, seine Muttersprache, wechselt, seine Schüchternheit verliert, wenn er sich an seine Heimat und seine inneren Konflikte mit ihr erinnert. Der Erzähler geht näher auf die Beziehung zwischen Individuum und Gruppe ein, wenn er erklärt, dass diejenigen, die an der Revolution teilgenommen haben, zuvor in Isolation gelebt hätten. Und er fragt sich, wie sich Zweifel und Bedenken zwischen sie und die anderen drängen konnten, wo sie doch ihr Leben lang von einer Nostalgie für die Massen begleitet wurden ähnlich einer „Sehnsucht nach ihren alten Gesängen.“

Das Haus als Teil des literarischen Aufbaus des Romans

Dieses besondere Haus als Kulisse des Romans war eine gute Wahl, denn es vereint sowohl das Ganze als auch den einzelnen Bestandteil in sich. Der Erzähler gibt eine detaillierte Beschreibung des Hauses, er beschreibt die kleinen Studios und die Wohnung, in der er lebt. Das Haus ist nicht nur der Ort an welchem wir Zeit mit den Charakteren verbringen, sondern es ist ebenfalls Teil des Aufbaus der Idee von Individuum und Gruppe in dem Roman: Ein großer Raum für alle, der in sich wiederum in mehrere kleine Einheiten für die Autoren unterteilt ist. Jedem Autor wird ein Zimmer zugewiesen, und schließlich treffen sich alle gemeinsam im gläsernen Raum wieder um miteinander zu diskutieren.

In die Geschichte dieses Hauses hat sich die Erinnerung an die Namen jener Schriftsteller eingeprägt, die schon seit vielen Jahren dort wohnen. So auch Heinrich Böll selbst, der das Haus besaß, bis es irgendwann an neue Eigentümer überging. Dieses Aufeinanderfolgen von Menschen ist eine wichtige Achse des Romans, weshalb sie es vermutlich auch bis in den Titel geschafft hat und sie erinnert uns einmal mehr daran, dass jeder einzelne auf der Arbeit der Vorfahren aufbaut. Der Hauptcharakter des Romans beobachtet dies und bestätigt es, wenn er sagt: „Ich verhalte mich sehr vorsichtig, als würde ich den Geistern jener Schriftsteller Rechnung tragen, die hier einmal gelebt haben.“

Elemente der Postmoderne

Der Erzähler erklärt, die Postmoderne „schaut auf die komplizierte Situation der Menschen, die von allen Seiten umzingelt sind von Arbeit, Konsum und Einheit.“ Und er nimmt sich selbst nicht aus: „Ich fühlte mich, als würde ich die älteren Generationen in mir tragen. Ich fühlte mich, als würde die Vergangenheit auf ihrem Weg in die Zukunft durch mich hindurchfließen, als wäre ich nur eine Durchgangsstation für das Leben, das weitergehen muss.“

Die Zeiten werden in dem Roman nicht nur durch Antizipation und den symbolisch bewegten Erzählstil miteinander verknüpft, sondern auch durch Ideen. An anderer Stelle zitiert der Erzähler Heinrich Böll, den verstorbenen Nobelpreisträger und Besitzer des Hauses: „Der Krieg wird niemals zu Ende sein, solange noch eine Wunde blutet, die er geschlagen hat.“ Er fährt fort: „Diese blutende Wunde, von welcher der Nobelpreisträger spricht, begleitete mich während meines Aufenthaltes dort. Ich suche nach ihr und ich fühle die Nachwirkung des flüssigen Blutes in allem Lebendigen um mich herum und in mir drin.“

Erwähnenswert ist, dass Heinrich Böll, der verstorbene Besitzer des Hauses und Nobelpreisträger, selbst mit dem Aufeinandertreffen der Zeiten kämpfte. Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, genauer gesagt 1968, begann die jungen Generation in Amerika zu demonstrieren. Zunächst ging es um die Ermordung Martin Luther Kings, dann folgte die scharfe Kritik am Vietnamkrieg. Die Demonstrationen schwappten nach Europa über und erreichten auch Deutschland. Junge Leute und Studenten demonstrierten gegen die politischen und gesellschaftlichen Systeme und insbesondere gegen die konservativen Werte der Gesellschaft zu jener Zeit. Heinrich Böll gehörte zu einigen der intellektuellsten Unterstützer dieser Bewegungen, die in ihrer eigenen Generation jedoch auf wenig Gegenliebe stießen und um seine unterstützende und inspirierende Rolle, die er zu Lebzeiten innehatte, später zu ehren, wurde eine politisch-soziale Stiftung nach ihm benannt. Heinrich Böll, gleich wie der Held des Romans, gehörte einer besonderen Generation und Epoche an.

Der Roman ist eine spannende, intellektuelle Reise, die von diesen gewissen Momenten lebt welche in Träumen auftauchen oder in der Erinnerung. In der Bewegung von einem entfernten Ort hin zum Ort des Geschehens, dem Austausch zwischen dem Erzählten und den Gesprächen der Charaktere sowie den Artikeln des Autors, zwischen jenen Momenten, in denen man das Selbst aufgibt um sich einer Gruppe anzuschließen und jenen, in denen man in die Isolation zurückkehrt. An vielen Stellen gibt es eine klare Tendenz hin zum Kollektiven, doch eventuell soll hier schlicht die Idee des einsamen Wanderers beschützt werden, der sich seinen Platz auf indirekte Art und Weise zurückerobert. Die zwei schönsten und intensivsten Momente hebt sich der Autor für zwei Szenen innerer Monologe auf. In einem der beiden entdeckt der Erzähler während eines starken Wolkenbruchs seine tiefe Verbindung zur Natur. Die andere ist wie eine Art Bewusstseinsstrom geschrieben, als er die vielen kleinen Schritte erklärt, in denen er die Kaffeemaschine auseinanderbaut. Ein Prozess, den er damit vergleicht, „mit einem Taschenmesser aus einem Stück Holz eine Pfeilspitze zu schnitzen“, ein implizierter Hinweis auf das Leben der ersten Menschen. In beiden Szenen erkennt der Erzähler ein alternatives Leben für sich - die Wiederentdeckung des Selbst und den Schutz desselben vor den Stürmen des modernen Lebens, die manchmal überwältigend sein können.