Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Ahmed Abdel Hamid Ali
Ein Wecker, ein Spiegel und eine Leiche eines alten Mannes

Biografie:
Ahmed Abdel Hamid organisiert Filmvorführungen und Kunstausstellungen. Außerdem arbeitet er als Presseredakteur und schreibt von Zeit zu Zeit selbst.
 
Projektbeschreibung:

Nachdem er seine WG mit Freunden verlassen musste, kehrt der Autor für einen Monat in sein Zimmer bei den Eltern zurück. Schließlich zieht er in eine eigene Wohnung, dieses Mal ohne Mitbewohner.
 
Vor dem Hintergrund der Isolation, die den Körpern auferlegt ist, bewegt sich der Autor zwischen gegenwärtiger Realität, Erinnerungen und Filmen hin und her, auf der Suche nach Definitionen des Körpers – mal mittels seiner lebendigen und mal seiner toten Form, des Leichnams. Dabei gehen seine Worte den Spuren, die Orte in unseren Seelen hinterlassen haben, sowie der Beziehung der Seelen zu ihren Körpern und der Gefühlsbrunst, durch die wir unsere Körper mitunter erfahren, nach. Die so entstehenden Ideen evozieren bestimmte Filmszenen, die die Denkweise des Autors geprägt haben und nun auch jene Überlegungen begleiten, die ihm in der Abgeschiedenheit seiner Räume durch den Kopf gehen.

EIN WECKER, EIN SPIEGEL UND EINE LEICHE EINES ALTEN MANNES

Ahmed Abdel Hamid Ali

Hunderte Male klingelt ihr alter grüner Wecker in der Nacht und in den frühen Morgenstunden. Sie wacht auf und schaltet ihn aus, nachdem sein Geklingel schon fast eine halbe Minute das ganze Haus durchschallt hat. Langsam steht sie vom Bett auf und geht in Richtung Küche. Das weiße Neonlicht verwandelt die dunkle Wohnung. Sie setzt den Teekessel auf und geht auf Toilette, die als einziges nachts beleuchtet bleibt. Das war der Moment, an dem ich zu ihr ging, wenn ich etwas von ihr wollte. Meist bat ich sie, mir Geld dazulassen, bevor sie zur Arbeit geht. Ich stehe an der Schwelle zum Badezimmer und rede mit ihr und sie fragt mich vorwurfsvoll, warum ich immer so lange aufbleibe. An anderen Tagen bleibt sie auf dem Weg in die Küche in der Halle stehen und blickt in Richtung des Zimmers, das ich mir mit meinem Bruder teile. Sie schaut zu meinem Bett, um zu sehen, ob ich noch wach bin. Manchmal schalte ich vorher das Licht aus, um ihrer Frage zu entgehen, warum ich noch nicht schlafe.
 
Seit sie in Rente ist, klingelt ihr Wecker nicht mehr. Es schrillt morgens nur noch der Telefonwecker meines Bruders, der als einziger früh aufstehen muss. Dann steht sie auch kurz auf, um direkt ins Bad zu gehen, ohne Umweg in die Küche. Auf dem Weg zurück bleibt sie am Bett meines Bruders stehen, um sicherzugehen, dass er wach ist. Unsere Blicke treffen sich und sie fragt mich: „Immer noch wach?“. Jedes Mal, wenn zuhause ein Wecker klingelt, kehren diese Erinnerungen zu mir zurück.


Ein Wecker, ein Spiegel und eine Leiche eines alten Mannes ©Tareque Sharquawy, Psychoticles II, 2018
Es ist lange her, dass ich etwas Persönliches oder Subjektives geschrieben habe. Das meiste, was ich schreibe, dient dem Zweck, Inhalte vorzustellen oder mich kritisch mit einem Film oder Kunstwerk auseinanderzusetzen. Derzeit lese ich zu Forschungszwecken viel über den Körper. Damit will ich auch der derzeitigen Wahrnehmung des Körpers als Gefahrenquelle der Krankheit, die mit einer ständigen Suche nach oder sogar Einbildung von Symptomen einhergeht, entgegenwirken. In einem der Entwürfe, die ich mit meinem Team verfasst habe, lese ich einen Satz, der besagt, dass das, woran wir arbeiten, „ein Versuch ist, mit dem Körper zu denken“. Ich bleibe bei dem Satz hängen, wiederhole ihn im Gedanken und versuche zu verstehen, was das eigentlich bedeutet. Wie kann ich mit meinem Körper denken und wie unterscheidet sich das vom Denken mit dem Verstand? Und wie verhalten sich Körper und Verstand zueinander, wenn ich eine Stimme in meinem Kopf höre, während die andere Stimme von Natur aus stumm ist oder zumindest nicht die Sprache verwendet, mit der wir kommunizieren?
 
Nachts stoßen meine Glieder gegen die Möbel im Haus meiner Eltern. Die Position der Möbel hat sich nicht viel verändert, aber mein Körper hat die Erinnerung, die ihm ermöglichte, sich ohne Hinschauen oder Vorsicht im Haus zu bewegen, verloren. Meine Füße haben vergessen wohin sie treten sollen, aber es gibt noch einige Erinnerungen, die mein Körper bewahrt hat. Sobald es dunkel wird und die Zeit kommt, die meine Eltern Abendbrotzeit nennen, verbreitet sich von meinem Magen aus das
brennende Verlangen auszugehen. Als ich noch hier wohnte, gab es nur wenige Abende, die ich in den vier Wänden dieses Hauses verbrachte. Aber die Zeiten haben sich geändert und wie ich sind viele, mit denen ich damals die Abende verbrachte, ausgewandert. Außerdem gilt das Ausgehen derzeit allgemein als verantwortungslos.

Während des Umzugs fragt mich meine Mitbewohnerin, ob ich ihren Spiegel, den wir nie verwendet haben, weil es noch andere Spiegel im Haus gibt, behalten will. Ich zögere zuzustimmen, ohne mir vorzustellen, wie das Leben in der neuen Wohnung ohne Spiegel sein wird. Ich habe bis jetzt keinen Spiegel gekauft. Ich werfe ein paar flüchtige Blicke auf mein Gesicht im Spiegel des Aufzugs bis ich im Erdgeschoss angekommen bin. Im Gegensatz zu mir nahm Abdou, der Held des Films „Bidoun 2“ von Gilani Saadi, nichts als den Spiegel mit, als er aus seiner Mietwohnung auszog. Der Spiegel reflektiert nicht nur sein Gesicht, sondern beschwört auch den Geist seiner Mutter. Er transportiert den Spiegel in seinem Auto wohin auch immer er geht und trägt so die Last seiner Vergangenheit ständig mit sich. In einer Szene gräbt er ein Grab, legt sich hinein und bedeckt sich mit dem Spiegel.


Ein Wecker, ein Spiegel und eine Leiche eines alten Mannes Beidun 2, Saadi Gilani, 2014 | ©Tareque Sharquawy, Psychoticles II, 2018 In meinen letzten Tagen in Alexandria klingelte sein Handy im Morgengrauen, als niemand außer mir wach war. Nachdem ich gesehen hatte, wer der Anrufer war, brachte ich es ihm, weil die Nachricht schon erwartet wurde. Ich wartete bis er erschrocken und Schutzgebete murmelnd aufwachte. Ich nannte ihm den Anrufer und übergab das Telefon. Er wartete eine Weile bevor er antwortete, weil er wusste, was auf ihn zukommt. Ich fragte ihn, ob ich ihn begleiten soll. Ich erinnere mich gut an meinen Wunsch ihn zu begleiten und an mein wahres Motiv dahinter. In erster Linie war ich neugierig, weil ich noch nie eine Leiche gesehen hatte. Er war damit einverstanden, dass ich ihn begleite. Wir erreichen das Haus seines Bruders. Ich sehe dessen Töchter weinend um ihre Mutter sitzen. Gelegentlich murmle ich ein paar Dinge, die niemanden trösten, aber meine Augen hängen an der geschlossenen Tür zum Zimmer. Mein anderer Onkel gibt mir das, worauf ich warte, als er mich fragt, ob ich ihn ein letztes Mal sehen möchte. Bis heute weiß ich nicht, warum er mich fragte. Wollte er nicht allein den Raum betreten oder sah er die Neugier in meinen Augen? Ich kann mir vorstellen, dass das Durchschreiten von Türen allgemein zu den Momenten gehört, die im Gedächtnis haften bleiben. Ich werde den Schritt durch diese Tür nie vergessen – nicht, weil mich das, was ich hinter der verschlossenen Tür fand, erstaunte, sondern weil ich genau wusste, was sich an diesem Ort befand, ich es aber nie zuvor gesehen hatte.

Sein Körper lag ausgestreckt da und war einschließlich des Gesichts mit einer grünen Decke bedeckt. Mein Onkel zieht die Decke vom Gesicht und den geschlossenen Augen, setzt sich dem umhüllten Körper gegenüber auf einen Stuhl und beginnt im Koran zu lesen. Ich bleibe stehen bis er mich mit einer Handbewegung auffordert, mich neben ihn zu setzen. Ich gehorche schweigend. So verbleiben wir eine halbe Stunde oder länger bis mein Vater die Tür öffnet. Er steht an der Türschwelle, schaut auf den ausgestreckten Körper seines Bruders, blickt dann zu mir, geht hinaus und lässt die Tür offen. Ich folge ihm und schließe die Tür hinter mir.

In einer seiner absurden Herausforderungen des Schicksals schaltet Abdou auf einer dunklen Straße alle Lichter des Autos aus und beginnt zu rasen. Wir hören den Aufprall. Abdou hält an und er und seine Freundin Aïda steigen aus, um zu sehen, mit was sie kollidiert sind. Ziemlich bestürzt blicken sie auf den Körper eines alten, ganz in Lila gekleideten Mannes, der auf der Straße liegt. Sie überprüfen seinen Puls und stellen fest, dass er noch am Leben ist, obwohl er kein Lebenszeichen von sich gibt. Abdou und Aïda diskutieren, was sie mit der „lebenden Leiche“ tun sollen, bis Aïda beschließt, den alten Mann auf ihre ziellose Reise mitzunehmen.


Ich zog in eine Wohnung in der Mohammed-Mahmoud-Straße, wo ich vom Balkon aus das alte Gebäude des Innenministeriums sehen kann. Ich erinnere mich an die vielen Male, die ich diese Straße zum Lazoghli Platz überquerte. Hier übertreibe ich nicht, wenn ich sage, dass es in dieser Straße im wahrsten Sinne des Wortes spukt – Geister von Menschen, die in Deportationsfahrzeugen hierher verschleppt wurden und über Jahrzehnte im Keller dieses Gebäudes hausten. Das Gebäude sieht jetzt während der Ausgangssperre so verlassen wie der Rest der Mohammed-Mahmoud-Straße aus. Ich interpretiere diese Tatsache für mich als Spiegel meiner Furcht vor einem ähnlichen Schicksal wie jener „Körper, die ihrer Körperlichkeit durch Folter oder Mord beraubt wurden“.


Ein Wecker, ein Spiegel und eine Leiche eines alten Mannes Beidun 2, Saadi Gilani, 2014 | ©Goethe-Institut Abdou und Aïda tragen den toten lebenden Körper mit sich ins Meer. In einem Moment der Verspieltheit gleiten ihre Körper von aller Schwere befreit durch das Wasser. Der Körper symbolisiert das unsichtbare Gewicht, das die beiden jungen Leute die ganze Zeit mit sich trugen. Abdou will den „weder-tot-noch-Lebenden“ begraben und loswerden, während Aïda ihn teils wie einen Sohn oder Vater pflegt. Es scheint mir, dass die Gegenwart des Leichnams die Beziehung zwischen den Lebenden stärkt. Der Körper des alten Mannes versöhnt die beiden jungen Menschen mit ihrer Vergangenheit, die sie ohne klares Ziel auf die Straßen trieb. In Gegenwart des lila gekleideten Mannes finden sie endlich vorübergehend ihren Frieden. Natürlich nur vorübergehend, denn wie in den meisten Fällen wird auch diese Last der Vergangenheit sie einholen und ermorden. Buchstäblich ermorden.
 
Ohne Spiegel zu Hause wasche ich mir morgens etwas aggressiv Gesicht und Augen, damit ich nicht von Überresten des Schlafs im Spiegel des Aufzugs überrascht werde. In einem Text, den ich kaum verstehe, erklärt Jean-Luc Nancy, dass das, was „die Seele“ genannt wird, vielleicht unserer Erfahrung des Lebens mit unseren Körpern und durch unsere Körper entspricht oder dass die Seele das Gewicht des Körpers ist. [2] Das kann ich mir gut vorstellen, auch wenn ich es nicht ganz verstehe. Seit kurzem fühlt sich mein Körper schwer an, denn es fehlt mir, im Wasser zu treiben und mich so vorübergehend von diesem Gewicht zu erleichtern.


Tareque Elsharquawy, Psychoticles II. Die Videoserie ist hier verfügbar.
  Jean-Luc Nancy, Corpus (Kapitel: On the Soul), New York 2008.
 

Top