Mobilität
Raus aus der Schuldfalle

In Sarah Selimans Dokumentarfilm erzählen ägyptische und nicht-ägyptische Frauen, wie sie mit sexueller Belästigung im öffentlichen Raum umgehen.
Sarah Seliman

Die Künstlerin Sarah Seliman dokumentiert, wie Frauen in Ägypten mit sexueller Belästigung im öffentlichen Raum umgehen.

Die bildende Künstlerin und Grafikdesignerin Sarah Seliman lebt in Kairo und kennt sich gut mit dem Thema Belästigung in der Öffentlichkeit in Ägypten aus. "Wenn ich auf die Straße gehe, gibt ungefähr jeder zweite Mann einen Kommentar ab: über meine Haare oder mein Piercing oder meine Kleidung. Selbst wenn ich nichts Auffälliges trage", sagt Seliman.

Sie war eine der drei Frauen, die 2015 die Sidewalk Stories ins Leben riefen – ein Projekt, das in Zusammenarbeit mit der Tahrir Lounge des Goethe-Instituts Kairo der Frage nachgegangen ist, wie Frauen sich im öffentlichen Raum verhalten und mit den Fällen von regelmäßiger Belästigung umgehen. Eine akademische Untersuchung sowie Workshops mit 24 ägyptischen und ausländischen Frauen im Alter von 20 bis 30 Jahren, die in Kairo leben, begleiteten das Projekt.

Reden über Bewältigungsstrategien

Seliman, die als Kind in Saudi-Arabien gelebt hat, aber später nach Kairo zog, porträtierte im Rahmen eines fotodokumentarischen Projekts zwölf der Frauen, während sechs weitere Frauen in ihrem 40-minütigen Dokumentar lm erscheinen. Jede von ihnen spricht darin über ihre eigenen Bewältigungsstrategien und über einen spezifischen Gegenstand, den sie als Totem benutzen, um sich im öffentlichen Raum sicher zu fühlen – sei es ein Ring (ein Geschenk des Vaters), Kopfhörer, um die Geräuschkulisse auszublenden, oder ein Kopftuch. Deutsche Akademikerinnen und Akademiker waren in das Projekt ebenso involviert und so entstand der Plan, mit den Sidewalk Stories nach Europa zu reisen – zunächst nach Deutschland, Italien und in die Niederlande. Seliman wendete sich an Moving MENA, ein Programm des Goethe-Instituts, das Kulturarbeiterinnen und Kulturarbeitern in der arabischen Welt Fördermittel und administrative Unterstützung bietet. Durch das Programm erhielt Seliman Unterstützung beim Visumsantrag sowie bei der Ausstellungsorganisation und konnte zu den Veranstaltungen nach Frankfurt und Berlin reisen, wo die Sidewalk Stories gezeigt wurden. Seit Programmbeginn im Jahr 2012 haben etwa 560 Kulturarbeiterinnen und Kulturarbeiter davon profitiert.

Es war Selimans erste Reise nach Europa, die Städte und deren architektonischen Besonderheiten hatte sie vorher nur aus dem Studium gekannt. Aber das Überraschendste war die relative Abwesenheit von Belästigung im öffentlichen Raum: Als Frau aus Kairo habe die Reise ihr ganzes Leben verändert, sagt sie. "In Deutschland habe ich zum ersten Mal in meinem Leben den Geschmack von Freiheit gespürt. Ich konnte frei herumlaufen, ohne dass ich angeguckt wurde. Ich konnte ungehindert Zigaretten rauchen. Ich konnte tun, was ich wollte. Ich habe mich nicht gefühlt, als ob mir die Luft wegbleiben würde. Ich war normal. Ich fühlte mich zum ersten Mal wie ein Mensch. Es fühlte sich an wie ein Befreiungsschlag. Es gab keinen Lärm in meinem Kopf."

Die Erfahrung sei zugleich herzzerreißend und bahnbrechend gewesen, sagt Seliman – eine kleine Kostprobe eines Lebens ohne ständige Belästigung. Aber am nachhaltigsten war die Erkenntnis, dass "Belästigung nicht meine Schuld ist, nicht daran liegt, wie ich mich anziehe. Es ist nicht meine Schuld, dass ich eine Frau bin. Punkt. Die Gesellschaft in Ägypten drängt dich als Frau, als Künstlerin, dazu, dich schuldig zu fühlen. Man beschuldigt immer das Opfer."

Die Erfahrungen teilen

Seliman sieht weltweit Parallelen und hört ähnliche Kommentare in Bezug auf Vergewaltigungen in Europa, Sprüche wie "Es ist ihre Schuld, sie wollte es doch". Sie spürt eine Verbindung zwischen dem Thema Belästigung in Ägypten und der Diskriminierung von Frauen anderswo. "Selbst wenn es nicht dasselbe ist, ist es ein globales Gefühl. Es ist einfacher, das Opfer zu beschuldigen. Hier in Ägypten ist es nur mehr: Frauen sind ergebener. Und die meisten Frauen kennen ihre Rechte nicht oder wissen nicht, wie sie für sich selbst eintreten können", sagt Seliman. Sie erzählt, dass die Reise einen starken Einfluss darauf gehabt habe, wie sie Dinge als Individuum wahrnimmt. "Es hat mich verändert. Als ich nach einer Woche zurückkehrte, fühlte ich mich als Mensch wohl."

Mittlerweile ist das Projekt in Deutschland und Italien auf positive Resonanz gestoßen, besonders unter Europäern, die noch nicht im Nahen Osten gewesen waren und ein sehr stereotypisches Bild der Frauen in Ägypten und der Region hatten, sagt Seliman. "Die Fotografen und der Dokumentar haben ihre Meinung verändert – sie haben darin starke Frauen gesehen, die über ihre Rechte sprechen und ein normales Leben führen, jede mit ihrer eigenen Geschichte. Das war für mich ein großer Erfolg."