Fremdsprachenlernen in der Zukunft
Alles digital?

Grafik: Ein Mann mit Büchern und erhobenem Zeigefinger auf einem Bildschirm
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Wie werden wir in 50 oder 100 Jahren Fremdsprachen lernen? Welche Rolle spielen digitale Medien im Fremdsprachenunterricht der Zukunft? Und kann man diese Fragen heute überhaupt sinnvoll beantworten?

Zukunftsprognosen für den Fremdsprachenunterricht weit in die Zukunft hinein zu entwickeln, hat viel von Kaffeesatzleserei. Man kann auf der Grundlage der aktuellen Forschung keine fundierten Aussagen über die Zeit in 50 oder 100 Jahren treffen. Der bekannte Horizon-Report über den Einsatz digitaler Medien in Schule und Hochschule hat deshalb auch nur einen Zeithorizont von höchstens fünf Jahren.

Trotz dieser Bedenken habe ich mich zu einer Zukunftsprognose bereit erklärt, allerdings unter zwei Voraussetzungen: Ich gebe nicht eine Zukunftsprognose ab, sondern drei. Und: Ich weise explizit darauf hin, dass meine Prognosen eine rein subjektive Sicht auf die Zukunft des Fremdsprachenlernens darstellen. Wissenschaftlich belegen lässt sich keine von ihnen.

Skepsis hinsichtlich grundlegender Veränderungen

Grundlegende Änderungen beim Fremdsprachenlehren und -lernen ergeben sich nicht durch eine wie auch immer geartete Nutzung „neuer“ Medien. Sie ergeben sich nur dadurch, dass neue methodische Ansätze entwickelt werden (wie in den 1970er Jahren der kommunikative Ansatz) oder dadurch, dass vorhandene Ansätze anders oder überhaupt einmal (flächendeckender und konsequenter) angewendet werden. Die Weiterentwicklung des Fremdsprachenunterrichts stagniert seit einiger Zeit. Das hat aus meiner Sicht viel damit zu tun, dass sich unterschiedliche Anforderungen gegenseitig blockieren. Dazu gehören zum Beispiel die Forderungen nach Standardisierung und der Vermittlung abtestbarer Kompetenzen auf der einen Seite und Forderungen nach einem lernerorientierten, aktivierenden und/oder differenzierenden Unterricht auf der anderen Seite. Ich sehe nicht, dass sich an diesem Konflikt in naher Zukunft etwas ändern wird. Der herrschende Methodeneklektizismus – jeder pickt sich heraus, was ihm oder ihr zupasskommt – hilft, dass Institutionen, Lehrende und Lehrwerksverlage mit der eigentlich unbefriedigenden Situation leben können. Sollte es dabei bleiben, wird der Fremdsprachenunterricht auch in 50 Jahren noch ähnlich aussehen wie heute.

Neue Routinen werden entwickelt, indem mentale Blockaden überwunden werden. Neue Routinen werden entwickelt, indem mentale Blockaden überwunden werden. | Foto: © jungeblodt.com Daran wird auch eine Digitalisierung des Fremdsprachenunterrichts nichts ändern, denn Digitalisierung ist kein (neuer) methodischer Ansatz – sie kann didaktische Makro- und Mikro-Methoden nur unterstützen und gegebenenfalls neue oder andere Aktivitäten ermöglichen, mit denen bestimmte Prinzipien einer Methode anders und vielleicht besser umgesetzt werden können. Die Technik mit der Hoffnung zu überfrachten, dass sie die Unterrichtswirklichkeit grundlegend ändern wird, halte ich für kontraproduktiv: Wenn man nur die genutzten Medien beziehungsweise die Technik austauscht, sonst aber nichts ändert, findet keine wirkliche Entwicklung statt. Zudem kann man mit den völlig unterschiedlichen digitalen Medien alle Prinzipien und Methoden des Fremdsprachenunterrichts unterstützen – eine Digitalisierung kann also genauso gut für den Ausbau bestimmter Prinzipien genutzt werden wie zur Fortführung des aktuellen Methodeneklektizismus.

Eine Transformation des Fremdsprachenunterrichts kann und wird nur stattfinden, wenn Lehr- und Lerngewohnheiten umfassend geändert, eingeübte Verhaltensmuster abgeändert oder aufgegeben und neue Routinen entwickelt werden. An einem solchen Wechsel müssen alle Akteure aktiv mitarbeiten; nur so könnte es gelingen, dass der Fremdsprachenunterricht der Zukunft tatsächlich anders aussähe.

Positiver Blick bezüglich gradueller Veränderungen

Bei bestimmten Entwicklungen bin ich mir recht sicher, dass sie eintreffen. Fraglicher ist, welche Konsequenzen sie haben werden. Graduelle Veränderungen wird es auf jeden Fall geben, vor allem im Bereich der Unterrichtsorganisation und der Entwicklung von Lernmedien, die zum individuellen Lernen genutzt werden können – innerhalb oder außerhalb des Unterrichts.
  • Digitale Werkzeuge werden die Organisation des Lehrens und Lernens weiter verändern (und letztlich erleichtern). Digitale Klassenbücher, Software zur Prüfungsorganisation und -abwicklung, Softwaresysteme zur Abwicklung aller Verwaltungsabläufe an lehrenden Institutionen, Lernplattformen zur Bereitstellung von Lehr- und Lernmaterialien und zur Unterstützung von Lernprozessen werden in der Zukunft eine höhere, wenn nicht flächendeckende Ausbreitung erfahren.
  • Diese Entwicklung wird dazu führen, dass mehr Daten über Lernende und ihr Lernen gesammelt werden können (Stichwort Learning Analytics) und die Forschung zum Fremdsprachenlehren und -lernen auf andere Datensätze zurückgreifen kann. Das wird in bestimmten Bereichen zu neuen Erkenntnissen führen.
  • Solche Erkenntnisse werden dafür genutzt werden, adaptivere Lernmaterialien zu erstellen, die individuelleres Lernen ermöglichen.
  • Der Zugriff auf zielsprachiges Material und virtuelle zielsprachige Kommunikationsmöglichkeiten wird sich weiter vereinfachen; die Multimodalität der Medien wird sich weiter erhöhen und ausdifferenzieren.
  • Zudem wird die Menge an kostenfrei zugänglichen Lehr- und Lernmaterialien weiter steigen (wobei ich an dieser Stelle bewusst nichts über die Qualität dieser Materialien sage).
Mit den letzten drei Entwicklungen eröffnen sich theoretisch mehr Möglichkeiten für ein selbstgesteuertes Lernen.

Tabula rasa – die Zukunft ist nach wie vor ein unbeschriebenes Blatt. Tabula rasa – die Zukunft ist nach wie vor ein unbeschriebenes Blatt. | Foto: © Colourbox

Gewagter Blick – die Hoffnung stirbt zuletzt

Ich sehe aber auch noch eine andere Zukunftsvision vor mir. Diese geht über graduelle Veränderungen hinaus, wird deshalb immer sehr schnell von skeptischen Blicken verstellt, existiert aber trotzdem. Sie hat viel mehr mit der methodischen Ausgestaltung des Fremdsprachenunterrichts generell zu tun als mit dem Einsatz digitaler Medien. Die Motivation für diese Änderungen ist nicht technikgesteuert, sondern entsteht durch den Willen zu einer konsequenten Umsetzung eines lernerorientierten Unterrichts, der damit auch die Selbststeuerung der Lernenden fördert.

In meiner Vision des Fremdsprachenunterrichts werden informelle und formale, stärker gesteuerte, weniger gesteuerte und nicht gesteuerte Lernphasen konsequent zusammengeführt. Die echte (authentische) Kommunikation mit Zielsprachensprechenden – häufig in virtueller Form, aber auch in physischer Form an anderen Lernorten – ist von Beginn an der Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts (siehe Krommer 2018). Die Rolle der Lehrenden ändert sich: Sie werden keineswegs überflüssig, wenn Lernende stärkeren Gebrauch von den digitalen Kommunikationsmöglichkeiten mit Zielsprachensprechenden machen und das zielsprachige Material sowie die Übungsangebote im Internet nutzen. Im Gegenteil: Lehrende werden als Sprachlernberatende und -unterstützende noch wichtiger, weil nur sie die Lernenden in ihrer Selbststeuerung fördern können – und ihnen so eine sinnvolle Nutzung der oben genannten Möglichkeiten erlauben sowie punktgenaue Hilfe bei inhaltlichen und vor allem formbezogenen Problemen aller Art leisten können (Rösler 2013: 162). Das Fremdsprachenlernen findet nicht mehr nur in einem spezifischen (Unterrichts-)Raum statt, sondern an sehr unterschiedlichen Lernorten. Es ist zudem gekennzeichnet durch eine Fülle von Arbeits- und Interaktionsformen. Die Form eines Unterrichts mit physischer Anwesenheit des Lehrenden ist dabei nur eine, das isolierte Lernen (zum Beispiel zu Hause) nur eine andere Form; daneben existieren viele weitere, die in Abhängigkeit vom Lehr- und Lernziel (vom Lehrenden angeregt oder vom Lernenden selbstgesteuert gewählt) eingesetzt werden können. Blended-Learning-Szenarien, in denen auf unterschiedlichen Ebenen verschiedene methodische Ansätze und didaktische Entscheidungen miteinander verknüpft werden (siehe Würffel 2018), bestimmen den Alltag des Fremdsprachenlehrens- und -lernens.

Hört sich nicht exotisch genug an? Das stimmt; die Vorschläge sind nicht neu. Ihre konsequente Umsetzung aber liegt für mich noch in weiter Zukunft.
 

literatur

New Media Consortium (NMC) (2017): Horizon Report. Higher Education Edition. (10.02.2018).

Krommer, Axel (2018): Authentische Kommunikation in digitalen Medien. Schluss mit Simulationen. In: Magazin Sprache.

Rösler, Dietmar (2013): Sprachnotstandsgebiet A – Herausforderungen an die Fremdsprachenforschung. In: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 24 Jg., H. 2, S. 151-168. 

Würffel, Nicola (2018): Hausaufgaben im DaF/DaZ-Unterricht. Ein altes Thema (digital) neu denken. In: Info DaF 45. Jg., H. 1.