Franz Kafka
Ein literarischer Landvermesser?
Kafka auf dem Gütchen Ottlas in Siřem (Zürau) | © Archiv Klaus Wagenbach
Die vielgestaltigen Seiten des Landlebens waren Franz Kafka – dem Beamten und Patienten, dem Schriftsteller und Menschen – durchaus bekannt und bewusst. In seinem Werk wimmelt es nur so von Bildern und Erzählungen vom Dorf- und Landleben. Doch was lässt sich aus ihnen herauslesen und in welcher Verbindung stehen sie mit dem zeitgenössischen Denken und der rasant an Fahrt aufnehmenden Moderne?
Von Marc Weiland
Ländliche Idyllen?
Man kann durchaus sagen, dass Kafka die verschiedenen – und sich in der Moderne zunehmend ausdifferenzierenden – Seiten des Landlebens aus eigener Anschauung vertraut waren: die touristischen wie auch die technisch-industriellen Nutzbarmachungen der ländlichen Räume und ebenso die abgelegenen und mit harter Arbeit geführten Höfe. Und auch Prag, das zu jener Zeit für viele noch Provinz war, hatte durchaus etwas entschieden Ländliches an und in sich; allein die Masse an zugezogenen ehemaligen Landbewohnern sorgte dafür, dass ländliche Erfahrungen in die Stadt eingespeist wurden. Auch davon, vom Ländlichen in der Stadt, erzählen die Texte Kafkas in ihrer je eigenen Weise. Man denke nur an den berühmten „Mann vom Lande“ in Vor dem Gesetz oder an den Onkel im Process, der hier ganz explizit als „Geist vom Lande“ erscheint.Kafka kannte die Heterogenität des Ländlichen, und zwar aus seinen eigenen Ausflügen und Reisen, aus den Sommerfrischen und Kuraufenthalten, aber eben auch aus seinen Dienstreisen in die industrialisierten nordböhmischen Provinzen als Beamter der Arbeiter-Versicherungs-Anstalt; und nicht zuletzt auch, davon berichtet etwa der berühmte Brief an den Vater, aus den familiären Erinnerungen an die ländliche Lebenswelt in Wosek, dem Herkunftsdorf der Kafkas.
Deshalb sind in den Texten die Bilder und Erzählungen des Ländlichen nicht mehr ganz so klar wie sie im Alltagsleben (auch von Kafka) häufig imaginiert werden: Weder Einfachheit noch Überschaubarkeit sind hier zu finden und natürlich erst recht keine romantisierenden Idyllen, die kompensatorische Gegenbilder zum „Moloch Stadt“ bieten. Damit erzeugen und vermitteln die Texte Kafkas zugleich auch einen alternativen Blick auf ländliche Räume und zwar – damals wie heute – abseits der kulturgeschichtlich gewohnten Wahrnehmungen und der kulturell eingeübten Bezugnahmen, die im Ländlichen gern Gegenentwürfe zur Moderne sehen wollen. Bereits in den frühen Erzählungen Beschreibung eines Kampfes und Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, die beiderseits Fragment geblieben sind und in mehreren Fassungen vorliegen, wendet sich der Autor explizit wie implizit gegen die klassisch gewordene Vorstellung eines romantischen Landlebens.
In der Beschreibung flüchtet der namenlose Ich-Erzähler aus einer städtischen Gesellschaft und spaziert mit einem Bekannten durch die Straßen Prags (übrigens in einem der ganz wenigen Texte, die explizit die Heimatstadt Kafkas erwähnen). Sie laufen durch die Ferdinandstraße (die heutige Nationalstraße), gehen am Franzenskai entlang des Moldauufers, biegen kurz in die Karlsgasse ein und gehen dann wieder zurück über die Karlsbrücke auf den Laurenziberg/Petřín. Hier nun beginnt im Text ein zweiter Kampf, der vom Erzähler und womöglich auch vom Autor neben dem titelgebenden Kampf geführt wird. Es ist ein Kampf zwischen den Vorstellungen und Ansprüchen „realistischer“ und „romantischer“ Weltwahrnehmung und Weltbeschreibung. Dies geschieht nicht zufällig an einer markanten Stelle: im Übergang vom städtischen Raum in die ländliche Landschaft, die zugleich eine neue Welterfahrung mit sich bringt. Denn plötzlich befindet sich der Erzähler in einem Raum, der seiner eigenen poetischen Gestaltungskraft gehorcht und sich nach seinem Bilde entfalten lässt. Der Anstieg der Landstraßen gefällt ihm, also lässt er sie noch steiniger und steiler werden. Die abendliche Bewegung sorgt für Gesundheit, also lässt er einen starken Gegenwind aufkommen. Er liebt Fichtenwälder, also läuft er durch Fichtenwälder. Der rurale Raum wird dem Erzähler verfügbar und kontrollierbar. Aber das hält nicht lang.
So auch in den Hochzeitsvorbereitungen, die ebenfalls von einer (diesmal sehr widerwilligen) Reise von der Stadt aufs Land erzählen und diese nicht nur mit einer knackigen Satire auf romantische Schwärmerei verbinden, sondern zugleich auch von technischen, ökonomischen und infrastrukturellen Aneignungs- und Kontrollversuchen künden. Immerhin wird im Text doch eine ganze Ladung von Kaufmännern mit der Eisenbahn – als „dem“ Vehikel der Moderne – aufs Land kutschiert. Und die Leserschaft kann dabei in quasi ethnografischen Beschreibungen deren Verhalten auf engstem Raum innerhalb des Waggons beobachten. Allerdings verkehren sich auch hier bald die Vorzeichen, unter denen diese Fahrt geschieht. Ganz unvermittelt und fast schon unmerklich wendet Kafka nämlich allmählich – im Sozialen, im Ökonomischen, im Technischen und im Privaten – die üblichen Machtverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Stadt und Land in ihr Gegenteil. Denn das generell verfügbar gemachte Land, das üblicherweise den städtischen Zwängen gehorcht und gerade in der Moderne auf einige seiner wenigen Funktionen als beispielsweise Nahrungs-, Erholungs- und Rohstofflieferant reduziert wird, entpuppt sich zunehmend als widerspenstig. Es entzieht sich den vereinnahmenden Versuchen seiner Aneignung und Kontrolle; es wird unüberschaubar, unfassbar, unkontrollierbar, unverfügbar.
Amerika – Russland – China – Spindlermühle
Die ländlichen Landschaften sind hier gänzlich ungreifbar für die Figuren, sie entziehen sich dem Blick und sie entziehen sich ihrer Nutzbarmachung. Sie führen quasi ein Eigenleben. Und sie erhalten in den Texten eine literarische Eigenlogik, die die erzählten Dorf- und auch Kleinstadt-Welten gleichermaßen fremd und nah zugleich erscheinen lässt. Mitunter finden sich lebensgeschichtliche Impulse, die in die Texte eingeflossen sind oder deren Verfertigung inspiriert haben: etwa ein winterlicher Kuraufenthalt (Das Schloss), ein Onkel, der als Landarzt praktizierte (Ein Landarzt) oder, so wird mittlerweile vermutet, eine unbekannte Liebschaft auf dem Land (Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande). Mitunter sind die Geschehnisse und ihre Logiken jedoch zugleich so traumartig, dass sie jeglichen Realismus zu fliehen scheinen und dabei – ähnlich wie die beiden Pferde den Landarzt – die Leserschaft geschwind aus dieser Welt hinwegtragen. Die literarisch-ländliche Eigenlogik ist in den Weiten Amerikas (etwa im Verschollenen im Kapitel „Ein Landhaus bei New York“ sowie im sogenannten „Naturtheater von Oklahoma“), Russlands (etwa in den Erinnerungen an die Kaldabahn) und Chinas (etwa in Beim Bau der Chinesischen Mauer oder in Die Abweisung) zu verorten. Und sie ist zugleich eigentümlich zeit- und ortlos, da sie zumeist auf konkret geografisch lokalisierbare Topografien ebenso verzichtet wie auf Dialekte und Soziolekte bei den Figuren oder historische Hintergründe im Handlungsraum.Gerade in ihrer Mischung aus Realität und Traum sind die ländlichen Erfahrungen Kafkas durchaus essenziell für sein Werk, in dem sich literarisches und lebensweltliches Bild untrennbar verbinden. Diese literarische Eigenlogik ist auch in Spindlermühle zu finden, wo sich Kafka im Frühjahr 1922 zur Kur aufhält und sein letztes großes Romanprojekt, Das Schloss, beginnt. Angeregt von einem Zufall – und diesen Zufall zugleich auch weiter ausschmückend und zuspitzend (Kafka wird vom Hotel als Joseph Kafka erfasst und bezeichnet, was ihn wiederum zurück zu seinem Protagonisten aus dem Process, Joseph K., führt) – werden hier abermals Literatur und Leben, Fiktion und Wirklichkeit ineinander verwoben; und zwar im Rahmen einer Dorfgeschichte. In dieser Dorfgeschichte nun treffen Vormoderne (etwa die traditionsverhaftete und homogene Dorfgemeinschaft) und Moderne (etwa das hochgradig unübersichtliche bürokratische System des Schlosses) aufeinander und verschmelzen zugleich unentwirrbar ineinander. Das Dorf wird dabei, wie es bei Peter-André Alt in seiner 2005 erschienen Kafka-Biografie heißt, zum „hermetischen Ordnungsraum“ – und das geschieht literatur- und kulturgeschichtlich nicht von ungefähr.
Denn spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als das Genre der literarischen Dorfgeschichte erfunden und recht schnell populär wurde, fungieren imaginäre Dörfer als fiktionale Modelle, die in einem überschaubaren Raum einen begrenzten Mikrokosmos erzeugen und diesen damit auch reflektierbar machen. Das Dorf im Schloss bietet vor diesem Hintergrund – unter anderem – ein mehrschichtiges Modell, wie Gesellschaften funktionieren: Wie Wissen (und/oder Gerüchte) in ihnen zirkulieren und wirken, wie Macht erzeugt und ausgeübt wird, wie mit Fremden umgegangen wird oder wie Menschen überhaupt erst zu „Fremden“ gemacht werden – und so weiter. Literarische Dörfer sind daher auch als kleine Laboratorien zu verstehen, in und mit denen Autorinnen und Autoren unter anderem Erfahrungen und Erwartungen sozialer, historischer und technischer Transformationen – wie sie gerade in der Moderne gehäuft vorkommen – mit philosophischen, anthropologischen und/oder lebensanschaulichen Ansichten und Theorien verbinden und in einem vermeintlich überschaubaren und handhabbaren Kontext experimentell durchspielen, was passiert, wenn all dies aufeinandertrifft. Dass sich nun aber auch dieser modellhafte Ordnungsraum, der vom Protagonisten K. innerhalb des Romans beständig durch- und vermessen wird, all jenen Versuchen entzieht, die darauf abzielen, Kontrolle über ihn zu erlangen, das gehört zu den produktiven Impulsen, die vom Werk Franz Kafkas ausgehen – und die zugleich auch immer wieder zu neuen Ordnungsversuchen geführt haben und auch weiterhin führen werden. Daher ist wohl ebenso festzuhalten: Die Landvermessungsarbeiten sind noch längst nicht abgeschlossen.
Zum 100. Todestag von Franz Kafka wird das Buch Landvermessungen – Franz Kafka und das Landleben in der Buchreihe Rurale Topografien (Transcript-Verlag) erscheinen.