Tanz und Wissenschaft
Wissen, was der Körper weiß

Damagedgoods / Meg Stuart „Hunter“;
Damagedgoods / Meg Stuart „Hunter“; | © Iris Janke

Die Vorstellung von einem Körperwissen verändert das, was wir in unserer Gesellschaft bis dato unter Wissen verstanden haben. An der Schnittstelle zwischen Eigenem und Fremdem entwickelt der Körper Erfahrungswissen, das nicht nur unseren Alltag bestimmt, sondern auch im Tanz fruchtbar gemacht werden kann.

Von Gerald Siegmund

Welches Wissen?

„Wie kann ich“, so fragt Meg Stuart, im Text zu ihrem biografisch motivierten Solo Hunter aus dem Jahr 2014, „die vielen Einflüsse und Spuren verarbeiten, die mich als Person und Künstlerin geprägt haben? Wie kann mein Körper unzählige Genealogien entfalten und noch nicht erzählte Geschichten erzählen?“ Dem Körper, so scheint es in Meg Stuarts Zitat, ist eine historische Dimension eigen, weil er wie ein Archiv Geschichte und Geschichten speichert. Der Körper birgt Wissen, das unter bestimmten Voraussetzungen im Tanz entborgen wird. Dabei handelt es sich nicht um ein Faktenwissen, das in Symbolsystemen wie der Sprache tradiert und diskursiv zugänglich gemacht werden kann. Vielmehr steht ein Erfahrungswissen auf dem Spiel, das oft diffus und amorph bleibt, das aber doch als Wissen gelten muss. Denn schließlich können wir in alltäglichen Situationen problemlos drauf zurückgreifen, ohne es zu merken. Strenggenommen jedoch ist die Rede vom Körperwissen irreführend, da das, was als Wissen des Körpers gelten soll, so belegen es neurowissenschaftliche Forschungen, nicht in den Körperteilen zu suchen ist, sondern über Nervenbahnen ans Gehirn oder ans Rückenmark geleitet wird. Auch das Körpergedächtnis ist somit eine Aktivität des Gehirns und nicht der Muskeln.
 
Meg Stuart/Damaged Goods: „Hunter“ (Youtube)

Wissen, wie ...

Der französische Soziologe Marcel Mauss hat in seinem Essay Die Techniken des Körpers darauf hingewiesen, dass die Art und Weise wie Menschen sitzen, gebären, schwimmen oder essen radikal davon abhängt, wie eine bestimmte Kultur diese Fertigkeiten weitergibt. Jede Kultur lehrt sozusagen Techniken des Körpers. Unser Körper und seine Bewegungen sind kulturspezifisch geprägt, geformt und hergestellt. Dies gilt im besonderen Maß für den Tänzerkörper. Egal ob Tänzer klassisches Ballett trainieren, ob sie sich der Kontaktimprovisation verschrieben haben, oder die Improvisationsmethoden eines William Forsythe studieren – in jedem Fall legen sie in ihrem Körper bestimmte Erinnerungsspuren an, die ihren Körper prägen und seine auch äußerlich sichtbaren Haltungen gestalten. Diese Erinnerungsspuren können sie als implizites Bewegungsgedächtnis in einer Situation abrufen, um damit neue Situationen zu bewerkstelligen.

Jede Tanztechnik ist daher sowohl ein abrufbares Körpergedächtnis, eine Art Speicher, als auch der Zugang zu ihm, eine Aktivität. Das heißt aber auch, dass sie ein bestimmtes Wissen des tanzenden Körpers ist, wie er sich in Raum und Zeit sowie zu anderen Tänzern im Raum verhalten muss. Der Körper ist eine aktualisierte historische Formation, in die man sich tanzend hinein begibt, um sich auf die Spuren seiner Geschichte, seiner Geschichten und der damit verbundenen Emotionen zu begeben. Wenn das Körperwissen mit seiner Aktualisierung zusammenfällt, verändert es sich jedoch zugleich mit jedem Abruf. Es wird nicht wie ein Dokument im Archiv abgelegt und kann danach zu unterschiedlichen Zeitpunkten selbst-identisch wieder aufgerufen werden. Der Körper unterliegt der Zeit und damit der Veränderung, die jede erinnerte Bewegung immer wieder anders hervorbringt.

Das Wissen der Anderen

In Meg Stuarts eingangs erwähnter Aussage blitzt noch eine andere, vielleicht verstörendere Dimension des Körperwissens auf, als jene vom erlernten Bewegungswissen. Wie kann Meg Stuarts Körper Genealogien entfalten, mithin also ein Wissen um Erfahrungen zur Darstellung bringen, das ihr persönlich gar nicht zugänglich sein konnte? Der französische Philosoph und Tanzforscher Michel Bernard betont in Anlehnung an empirische Forschungen über den Zusammenhang von Muskelanspannung bei Kleinkindern den „muskulären Dialog“. So ist die Muskelspannung nicht nur notwendig, um eine bestimmte Bewegung auszuführen, sondern sie ist immer auch Ausdruck von Emotionen. Um Lachen oder Weinen zu können, ist eine bestimmte Anspannung der Muskulatur notwendig, die als angenehm oder unangenehm empfunden wird, womit emotionale Bahnungen im Körper gelegt werden. So kann das Halten einer bestimmten Muskelspannung Auslöser für eine emotionale Erinnerung sein. Der Körper ist also besetzt mit Emotionen. Unser Körperbild variiert ja nach libidinösen Besetzungen des Körpers, die sich über den Körper verteilen.

Doch damit nicht genug. Der Muskeltonus ist immer auch Eindruck des anderen, der mich Lachen oder Weinen macht. Die Erfahrungen des anderen werden durch meine Reaktion darauf zu Teilen von mir. Der Psychologe Thomas Fuchs spricht in diesem Zusammenhang vom impliziten Gedächtnis, das die künftigen Beziehungsmuster des Kindes prägt. Auf der einen Seite verspricht das In-der-Welt-Sein des Menschen, dass er sich auf eine Zukunft hin handelnd gestalterisch entwerfen kann. Wissen ist somit immer etwas, dass sich in actu herstellt. Eine Aktivierung des Körpergedächtnisses bedeutet mithin immer auch die Möglichkeit von neuen Erfahrungen.

Die Kunst der Verlangsamung

Auf der anderen Seite setzt das implizite Gedächtnis eines jeden dieser Veränderbarkeit aber auch Grenzen. Besteht das Gedächtnis des Körpers immer in erster Linie aus den Erinnerungen an andere Körper und deren Erfahrungen, sind Krieg, Verluste oder andere traumatische Erlebnisse auch in den Körpern jener Menschen vorhanden, die diese Erfahrungen selbst nicht gemacht haben. Der Körper weiß, ohne zu ‚wissen’. Man könnte in diesem Zusammenhang von einer Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen sprechen, denn das emotionale körperliche Wissen steht immer auch quer zum Fortschrittsdenken. Es bildet eine Schicht der Verlangsamung, die nicht ohne eine wie auch immer geartete Erinnerungsarbeit zu integrieren ist. Die eigene Kultur besteht aufgrund ihrer körperlichen Basis aus heterogenen Schichten, in die der Körper durch sein Gedächtnis andere Räume einführt und so Zwischenräume entstehen lässt, deren Auslotung der Kunst obliegt. Vielleicht ist der Tanz wie in Meg Stuarts Hunter eine besondere Form der Bewegung und eine Kunst der Verlangsamung, die jene Zwischenräume zwischen Eigenem und Fremden, Persönlichem und Kulturellen, Aktuellem und Historischem ausloten und deren unterschiedliche Wissensformen ins Spiel bringen kann.

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