Aktuelle Trends
Das deutschsprachige Kinder- und Jugendbuch
Ein ganzer Katalog schwer zu beantwortender Fragen bestimmt seit Jahren die Diskussionen um den Stand und die Zukunft der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Aktuelle Schlagworte im Herbst 2017 sind etwa: Wie erklären sich der mangelnde Wille der Eltern zum Vorlesen, die zunehmende Abwesenheit von Jugendlichen und jüngeren Müttern in Buchhandlungen, das Fehlen überzeugender Konzepte für digitale Zusatzangebote zu Büchern oder auch die gern beklagte Vereinheitlichung der Verlagsprogramme hin zum sogenannten Mainstream, also zum immer Gleichen aus allen Häusern? Wie hängen diese Phänomene zusammen? Und wie verhalten sie sich zu dem allerorten bekundeten Willen zu mehr Bildungsanstrengungen?
Dabei sieht es auf den ersten Blick gar nicht schlecht aus. Jahr für Jahr erscheinen weiterhin rund 9.000 Titel, davon etwa zwei Drittel von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren. Und der Umsatz mit Kinder- und Jugendbüchern ist im laufenden Jahr zudem weit weniger eingebrochen als der Verkauf von Büchern generell – allerdings mit großen Unterschieden je nach der anvisierten jungen Zielgruppe. Knapp hinter der allgemeinen Belletristik bilden Kinder- und Jugendbücher nach wie vor das zweitgrößte Segment des gesamten Buchmarktes.
Wer das immer Gleiche sucht, wird es in den zahllosen Büchern über mehr oder weniger niedliche Eisbären oder Einhörner finden, und die deutschsprachigen Fantasy-Schmöker, obschon mehrfach totgesagt, werden trotzdem nicht weniger. Die Vielfalt in den aktuellen Programmen ist seit Jahren groß, nicht zuletzt, weil neue und kleine Häuser mit ungewöhnlichen Büchern Impulse geben, beispielsweise luftschacht in Österreich, wo provokante Romane oder Graphic Novels für Erwachsene als Gleiche unter Gleichen neben eindringlichen Kinderbüchern wie etwa Michaels Rohers Tintenblaue Kreise stehen, oder Kunstanstifter in Deutschland, die ästhetisch überraschend illustrierte Bücher veröffentlichen – mittlerweile auch schon preisgekrönt --, bei denen nicht gleich auf den ersten Blick klar ist, ob sie sich an ältere oder jüngere Betrachter richten. (Kilian Leypold / Ulrike Möltgen, Wolfsbrot, 2017 oder Christina Röckl, Und dann platzt der Kopf, 2014).
Wer von einem Buch mehr verlangt als nur das Mittelmäßige, hat inhaltlich wie gestalterisch also durchaus die Qual der Wahl. Im Bilderbuchsegment liefern schweizerische Verlage wie NordSüd (Pei Yu Chang: Der geheimnisvolle Koffer des Herrn Benjamin, 2017) und atlantis (etwa durch Projekte von Kathrin Schärer/ Lorenz Pauli), aber auch deutsche wie Gerstenberg (Bücher von Julie Völk) oder Beltz &Gelberg (Nikolaus Heidelbach, Schornsteiner, 2017) seit Jahren verlässlich ausgefallene, anspruchsvolle Arbeiten – und fördern ebenso regelmäßig neue, junge Illustratoren. Das erzählende Kinderbuch setzt immer stärker auf Illustrationen, und überzeugt vor allem dann, wenn diese Illustrationen mehr sind als nur die Bebilderung dessen, was im Text zu lesen ist (Silke Schlichtmann / Ulrike Möltgen, Bluma und das Gummischlangengeheimnis, Hanser 2017) oder verschiedene Bände aus der Reihe Dramatiker erzählen für Kinder, die bei mixtvision erscheint). Oder sie spielen mit der Kombination von erzählendem Text und eingebauten Graphic Novel-Elementen, wofür vor allem Martin Baltscheit und Finn-Ole Heinrich in den vergangenen Jahren überzeugende Beispiele abgeliefert haben. Die Themen sind weitgespannt, sie reichen von freundlichen Feriengeschichte bis zur beispielhaften Geschichte eines Jungen, der eine Mobbing-Aktion seiner Mitschüler dadurch unterläuft, dass er seine Gegner aus einer gewaltigen Patsche rettet. Neben den Werken jüngerer Erzähler wie Lena Hach, Kirsten Reinhardt oder Oliver Scherz stehen die Bücher von Altmeistern wie Jutta Richter, Paul Maar, Cornelia Funke oder Andreas Steinhöfel. Und im Sachbuch werden neben spielerischen Büchern über Wissensgebiete wie etwa Archäologie oder Weltraum auch politische Themen in Wort und Bild erschlossen, in Büchern über die Rechte, die Kindern zustehen, oder in Form von Antworten auf Kinderfragen unter dem Titel Wenn ich Kanzler von Deutschland wär (von Jan von Holleben und Lisa Duhm, Thienemann, 2017). Abgeebbt scheint dagegen die Welle der gutgemeinten Bücher zur Flüchtlingsthematik. Und ungeklärt ist weiterhin, warum in einer multikulturellen Gesellschaft Menschen mit dunkler Hautfarbe oder einem Kopftuch fast immer nur im Zusammenhang mit Krisen, als Opfer, Verfolgte oder gar Täter geschildert werden.
Im Jugendbuch mit seinen fließenden Grenzen zum All Age- oder Erwachsenenbuch geht es meist drastischer zu. Das gilt für Romantic- und Fantasy-Werke, die Liebe und Heldentum verschmelzen, wie auch für jene engagierten Bücher, die sich aktuellen Problemen oder Identitätskrisen widmen – etwa als Science Fiction zur Frage nach der Abwehr von Flüchtlingen an den Grenzen hochgerüsteter, autoritärer Staaten (Martin Schäuble, Endland, Hanser 2017). Auch das Thema Amoklauf hat seine Attraktivität noch nicht eingebüßt (Lea-Lina Oppermann, Was wir dachten, was wir taten, Beltz & Gelberg, 2017) und die Beschäftigung mit dem Leben in Nazi-Deutschland sucht immer neue Themen und Formen, um die deutsche Vergangenheit für nachgewachsene Leser zeitgemäß zu schildern (Johannes Herwig, Bis die Sterne zittern, Gerstenberg 2017).
Wie ernst ein Roman Peter Härtlings Bemerkung nehmen kann, dass in Kinder- und Jugendbüchern die unerhörten Erfahrungen des Anfangs immer neu ihre Sprache suchen müssen, zeigen aktuelle Romane von Sarah Michaela Orlovský (ich #wasimmerdasauchheißenmag, Tyrolia 2017) und Tamara Bach (Vierzehn, Carlsen 2016). Beide überschreiten kaum die Grenzen eines scheinbar ereignisarmen Alltags, verarbeiten aber auf ganz unterschiedliche Weise all jene Ausdrucksformen, die ihren jugendlichen Heldinnen zur Verfügung stehen: Tagebuch und E-Mail, SMS und innerer Monolog. Sie biedern sich aber nicht an, sie kopieren die jugendliche Sprache nicht, sondern schaffen eine Ton, von dem man vielleicht sagen könnte, dass er so klingt, wie Jugendliche gerne sprechen möchten, also spürbar prägnanter, differenzierter als im gewohnten Alltag.
Bereichernd für das Segment Jugendbuch sind zudem schon seit langem auch jene Bücher über junge Erwachsene, die nicht in Jugendbuchprogrammen, sondern als Titel für Erwachsene erscheinen. Zwar haben sich die Diskussionen um All Age als Zielgruppe seit einiger Zeit schon wieder abgekühlt, an der verlängerten Adoleszenz aber hat das nichts geändert – und ein betont ungestümes Buch wie etwa Fatma Aydemirs Ellbogen, Hanser, 2017) das in Deutschland und in Istanbul spielt, stellt manches in den Schatten, was Jugendbuchverlage üblicherweise zu Themen wie Integration oder Migration und Identität zu bieten haben.