Caroline Mignon im Gespräch
Die Corona-Krise: Eine Chance für den nachhaltigen Tourismus?
Der Sommer ist die Jahreszeit schlechthin, um zu verreisen und die Welt zu entdecken. Aber wie wird die Corona-Krise den Tourismus in Frankreich diesen Sommer verändern? Im Gespräch mit Caroline Mignon, Expertin für nachhaltigen Tourismus, wagen wir einen Blick in die Zukunft und schauen uns die Auswirkungen der Krise auf den nachhaltigen Tourismus und die Reiselust der Franzosen an.
Von Lena Kronenbürger
Frau Mignon, Sie sind Direktorin der Vereinigung für fairen und solidarischen Tourismus (ATES). Momentan befinden wir uns inmitten der Corona-Krise, die auch die Tourismusbranche trifft. Wie würden Sie die Situation des Tourismus in Frankreich vor der Covid-19-Pandemie beschreiben?
Der Tourismus ist mit einem Anteil von mehr als 11 Prozent des BIP eine der wichtigsten Säulen der französischen Wirtschaft. Die Prognosen für das Jahr 2020, vor der Krise und wie schon seit mehreren Jahren, zeigten einen kräftigen Anstieg des französischen Tourismus.
Was die Franzosen betrifft, die ins Ausland reisen, und um nur von dem Bereich zu sprechen, in dem ich mich auskenne, nämlich dem fairen Tourismus, so verzeichneten wir 2019 einen Anstieg von mehr als 15 Prozent. Die Prognosen für 2020 folgten im Großen und Ganzen dem gleichen Muster.
Schaut man sich hingegen die Debatten an, wie der Klimawandel bekämpft werden kann, so geriet der Tourismus häufig ins Visier.
Ja, über diese sehr ermutigenden Zahlen hinaus wurde der Tourismus bereits vor der Krise wegen der negativen Auswirkungen, die er verursachen kann, wenn er einzig und allein auf finanziellen Gewinn ausgerichtet ist, angeprangert, und das schon seit mehreren Jahren. Zusammen mit vielen anderen Akteuren sprach sich ATES bereits gegen diese Formen des Tourismus aus, die für schwere Treibhausgasemissionen, die Zerstörung der biologischen Vielfalt und der Landschaft verantwortlich sind, aber auch häufig soziale Ungleichgewichte und zunehmende Ungleichheiten verursachen.
Zunächst einmal, und obwohl sich die Grenzen unserer Nachbarn vorsichtig wieder zu öffnen beginnen, ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Franzosen sich dafür entscheiden werden, noch mehr als sonst in Frankreich zu bleiben. Denn neben der Erlaubnis zu reisen, gibt es natürlich auch die Sorge vor zu viel räumlicher Nähe in öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die Angst davor, weit entfernt von geliebten Menschen zu sein oder in Quarantäne zu müssen, falls eine zweite Welle ausbricht... Man kann sich gut vorstellen, dass die Franzosen es vorziehen werden, ihre Familien wiederzusehen, die Natur zu genießen – was für diejenigen, die in der Stadt leben, lange nicht möglich war – sich wieder auf die Familie oder enge Freunde zu konzentrieren, anstatt sich auf Abenteuer einzulassen oder sich dicht an dicht überfüllte Orte anzusehen.
Wenn sich nun jeder dazu entscheiden würde, in seinem eigenen Land zu bleiben und nicht auf die andere Seite der Welt zu fliegen, wäre reisen dann nicht auf einmal nachhaltig?
Das wäre ein bisschen zu kurz gegriffen, reisen als nachhaltiger zu bewerten, weil man im eigenen Land bleibt. Denn ebenso nachhaltig ist es, Menschen in Entwicklungsländern zu unterstützen auf eigenen Beinen zu stehen, an der Verbesserung ihrer Lebensbedingungen mitzuwirken ohne die lokalen Gleichgewichte zu stören, sich durch interkulturelle Begegnungen bereichert zu fühlen, sich der Fragilität der Lebewesen und des Gleichgewichts der Ökosysteme bewusst zu werden!
Abgesehen von der Frage des Flugverkehrs, die ich natürlich nicht bagatellisiere und die sowohl von Fachleuten als auch von Einzelpersonen unbedingt vielfach hinterfragt werden muss, macht eine nachhaltige Reise aus, dass unsere Entscheidungen bezüglich unseres Konsums und der Wahl, welche Unternehmungen wir machen und an welche Orte wir fahren, kohärent sind. Denn die negativen Auswirkungen allein auf Flugreisen zu reduzieren ist ein sehr bequemer Weg. Viele touristische Unternehmungen und Infrastrukturen wirken zerstörerisch auf die oben erwähnten Gleichgewichte, sei es im ökologischen, sozialen oder wirtschaftlichen Bereich.
Was kann jeder Einzelne von uns tun, um nachhaltiger zu reisen?
Warum fragen wir uns nicht, über die bloße Befriedigung des persönlichen Vergnügens hinaus, die nicht mehr die einzige treibende Kraft des Tourismus sein kann und darf, „wer profitiert von der Wahl meines Konsums, meiner Aktivitäten und meiner Reisen?“ Dies könnte zu einem kohärenteren Konsum beitragen, auch wenn dieser Gedanke leider oft beiseitegeschoben wird, wenn es um Urlaub und Reisen geht.
Ich sage natürlich nicht, dass wir nicht mehr reisen sollten, sondern dass wir uns aus den richtigen Gründen für das Reisen entscheiden sollten. Unter dem Vorwand eines Tapetenwechsels, um einfach mal abzuschalten eine Woche lang am Pool eines Clubs am anderen Ende der Welt zu liegen, ist absurd. Auch ohne viele Kilometer zu fahren, kann man einen Tapetenwechsel genießen, man kann auch an tollen Orten vor Ort abschalten, die Sonne viel näher als gedacht finden. Wenn wir uns dazu entscheiden, weit weg zu fliegen, dann lasst uns dort doch länger bleiben, um Leute zu treffen, Orte, Geschichten, Lebensweisen zu entdecken, die uns bereichern; lasst uns lieber ein kleines lokales Restaurant aussuchen, ein von Einheimischen geführtes Gästehaus, Aktivitäten, die Traditionen und die Menschen vor Ort respektieren... dann werden wir uns auf einer wirklich nachhaltigen Reise befinden.
Der größte Nachteil ist die Gefährdung zahlreicher kleiner Unternehmen, die direkt oder indirekt mit der Tourismusbranche in Verbindung stehen: Eisverkäufer, kleine Restaurants, Reiseleiter, Anbieter von Freizeitaktivitäten – von denen übrigens momentan kaum die Rede ist –, Kunsthandwerkerläden usw. Aber wir befinden uns hier in Frankreich und so gibt es Soforthilfen, von denen ich mir erhoffe, dass sie es der Mehrheit ermöglichen, sich durchschlagen zu können. Ich mache mir mehr Sorgen um unsere Partner in anderen Ländern, die nicht unbedingt das Glück haben, die gleiche Unterstützung zu erhalten, und die von diesem Mangel an Tourismus stark betroffen sind.
Abgesehen von dieser realen Bedrohung von Arbeitsplätzen und auch von Gebieten, die von Akteuren in der Tourismusbranche belebt werden, sehe ich diese Krise nicht nur mit Nachteilen behaftet, sondern auch als eine Gelegenheit, viele touristische Praktiken in Frage zu stellen.
Können Sie uns mehr darüber erzählen? Welche Chancen sehen Sie für einen nachhaltigen Tourismus als Folge der Corona-Krise?
An erster Stelle steht die zentrale und entscheidende Chance, ein größeres Bewusstsein für die Auswirkungen unserer Produktions- und Konsumentscheidungen auf der Erde, für die Lebewesen im weitesten Sinne und für das soziale Gleichgewicht zu bekommen.
Hoffen wir, dass diese Rückbesinnung auf das Wesentliche, die wir in dieser zuvor nie dagewesenen Zeit des Lockdowns erlebt haben, fortgesetzt werden kann. So wie der Konsum regionaler Erzeugnisse zunimmt, so kann die Solidarität mit den Herstellern auch auf unsere Entscheidungen bezüglich Reisen und Tourismus angewendet werden, indem man die Idee „weniger, aber besser“ verfolgt – zum Wohle der lokalen Bevölkerung und der kleineren lokalen Produzenten.
Caroline Mignon
Caroline Mignon ist Direktorin der Vereinigung für fairen und solidarischen Tourismus „ATES“ (Association pour le Tourisme Equitable et Solidaire), Vorstandsmitglied des Solidaritätsfonds und der Reisekommission der Nationalen Union der Tourismusverbände „UNAT“ (Union Nationale des Associations de Tourisme) sowie Schatzmeisterin der Organisation für nachhaltigen Tourismus ATD (acteur d'un tourisme durable). Caroline Mignon absolvierte ein Masterstudium in Tourismus (Tourisme culturel et territoires : ingénierie de projets ») an der Pariser Université Sorbonne Nouvelle.