Dr. Juliane Kronen im Gespräch
Entsorgen ist billiger als Spenden
Dr. Juliane Kronen ist Gründerin und Geschäftsführerin von innatura, einer gemeinnützigen GmbH, welche Sachspenden für soziale Zwecke vermittelt. Sie erklärt uns, warum Wegschmeißen für Produzenten und Händler billiger ist als Spenden und wie die Corona-Pandemie Unternehmen und ihren Angestellten neuen Sinn gegeben hat.
Von Stephanie Hesse
Frau Dr. Kronen, innatura sammelt in großem Umfang neuwertige Sachspenden und vermittelt diese an gemeinnützige Organisationen. Welche Organisationen entscheiden sich für das Spenden?
Wir haben inzwischen etwa 125 Spenderunternehmen. Das sind zum einen die großen Namen aus der Konsumgüter-Branche, wie zum Beispiel die Beiersdorf AG oder Procter & Gamble, aber auch Online-Händler, wie Amazon oder dm. Aber auch zahlreiche familiengeführte Unternehmen aus dem Mittelstand sind dabei. Viele Unternehmen haben schon immer versucht, ihre Waren zu spenden, sind aber froh, dass wir die Distributionslogistik leisten können und bundesweit im großen Stil verteilen.
Welche Gründe gibt es für das Spenden?
Die Gründe sind sehr unterschiedlich: Zum einen sprechen wir die Unternehmen aktiv an, weil wir bestimmte Produktkategorien besonders benötigen. Zum anderen werden Nachhaltigkeit und die Frage nach der sozialen Verantwortung immer wichtiger. Das Image gegenüber den Mitarbeiter*innen spielt eine zunehmende Rolle: Viele Angestellte sind nicht mehr bereit, ihre Überzeugungen am Werkstor abzugeben. Job-Kandidaten suchen sich ihren Arbeitgeber danach aus, ob die Werte, die ihm wichtig sind, auch im Unternehmen umgesetzt werden – und Nachhaltigkeit gehört eindeutig dazu.
Gespendet werden zum Beispiel Produktionsüberschüsse. Wie kommen diese überhaupt zustande?
Ein klassischer Produktionsüberschuss kommt zustande, wenn das Angebot höher ist als die Nachfrage. Dies ist unserem Wirtschaftssystem inhärent: Wir wollen jeden Tag eine Auswahl von allem haben. Die Kehrseite ist, dass nicht alles abgenommen wird und schlichtweg Dinge entsorgt werden.
Trotz aller Marktforschung und trotz aller Absatzvorhersagen bleiben Dinge einfach übrig. Dann gibt es aber auch ganz unterschiedliche Gründe, warum Dinge nicht mehr für den Markt bestimmt sind: Das können zum Beispiel defekte Umverpackungen sein, Farbabweichungen, Fehletikettierungen, Aktions- oder Saisonware oder auch Retouren.
Seit Beginn der Pandemie haben sich die Übermengen noch einmal zusätzlich aufgebaut. Durch den Lockdown in den Geschäften, aber auch dadurch, dass sich das Einkaufsverhalten der Konsumenten ändert. In unsicheren Zeiten gehen sie weg von Premium-Produkten und wählen vermehrt sogenannte Weiße Ware, also No-Name-Produkte.
Wie hat sich das Spenderverhalten seit Beginn der Pandemie verändert?
Insbesondere die Mitarbeiter*innen haben zu Beginn der Krise gesagt: „Wir wollen jetzt helfen!“ Viele deutsche Unternehmen, wie Beiersdorf, BASF, Procter & Gamble haben angefangen, Desinfektionsmittel herzustellen und haben dieses gespendet. Verstärkt durch die „Purpose“-Diskussion, stellten Unternehmen die Sinnfrage neu, wie zum Beispiel: Warum sind wir sonst noch auf der Welt, und welchen Sinn geben wir unseren Mitarbeiter*innen? Die Neuausrichtung in der Krise hat Unternehmen und ihren Angestellten wirklich über die tägliche Arbeit hinaus Sinn gegeben.
Auf einmal gingen viele Dinge unkompliziert, wie zum Beispiel das Abfüllen von Desinfektionsmittel in Handflaschen für den gemeinnützigen Sektor, weil die großen Kanister niemandem helfen. Wir haben sehr ermutigende Beispiele von gemeinnützigen Organisationen gesehen, die schnell umgedacht haben. Und wir selbst haben mehr gearbeitet als je zuvor. Es ist toll zu sehen, dass alle an einem Strang ziehen und etwas Richtiges leisten können!
Also ist die Solidarität auch in der Wirtschaft gestiegen…
Ja, wir würden uns freuen, wenn die Spenden in diesem Ausmaß weiter kommen würden. Wir haben früher um jede Palette Windeln ringen müssen, und auf einmal kommen drei LKWs. Das ist schon großartig!
Ein großes Hindernis, auf das Sie immer wieder aufmerksam machen, ist die sogenannte „Umsatzsteuerpflicht“. Sie muss von Herstellern und Händlern für Sachspenden entrichtet werden, auch wenn sie für die Produkte kein Geld erhalten.
Bis heute ist es für zwei von drei Unternehmen ein Grund zu sagen: „Spenden ist uns zu teuer.“ Es gibt bis Ende des Jahres eine Billigkeitsregelung, damit Medizinprodukte umsatzsteuerfrei gespendet werden dürfen. Darüber haben wir uns natürlich gefreut, aber wir haben uns gefragt: „Warum denn nicht auch zum Beispiel Waschmittel für Menschen, die in Quarantäne sind?“ Eigentlich wünscht man sich eine stabile rechtskonforme Lösung und keine Ausnahmeregelung. Dr. Wolfram Birkenfeld, ehemaliger Richter am Bundesfinanzhof, hat nun einen Lösungsvorschlag präsentiert, mit dem man diese Steuerlast rechtskonform vermeiden kann. Wir fordern weiterhin eine Änderung in der Systemrichtlinie, weil die Umsatzsteuer einfach nicht unterscheidet, ob Sie Spenden an Unternehmen abgeben, an Privatpersonen oder an gemeinnützige Einrichtungen. Das macht ja einen großen Unterschied.
Macht die Umsatzsteuer das Spenden nicht teurer als das Wegwerfen?
Absolut. Entsorgen kostet fast nichts. Die Unternehmen können die Artikel abschreiben und haben Betriebsausgaben, aber sie haben keinen Cash out wie bei der Spende. Wir haben anhand der aktuellen Müllverbrennungspreise zum Beispiel errechnet, dass es acht Mal teurer ist, ein Markenshampoo zu spenden als es zu entsorgen.
Seit Anfang des Jahres arbeitet die Regierung an einer Regelung zur sogenannten „Obhutspflicht von Neuwaren“, die die Vernichtung derselben erschweren soll. Wie schätzen Sie diese Regelung ein?
Diese Regelung stammt aus der Weiterentwicklung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und ist noch nicht zu Ende gedacht. Vor allem aber deckt sie in erster Linie Retouren ab und keine fabrikneue Neuware – und das macht für uns den Großteil der Spenden aus.
Etwas, was ein Onlinehändler mit Preisabschlag nicht mehr verkaufen kann, das will ich auch nicht zur Vermittlung haben. Das braucht auch im sozialen Sektor niemand. Spenden soll nicht das neue Entsorgen werden.
Wir würden gern unser Wissen dazu, welche Dinge aus welchen Gründen entsorgt werden, in die geplante Regelung einbringen und vor allem auch das Wissen aus Großbritannien und Frankreich, die darin viel mehr Erfahrung haben.
Woran liegt es, dass die Spende-Traditionen in Frankreich und Großbritannien anders sind?
Wir haben im angelsächsischen Raum grundsätzlich eine andere Philanthropie-Kultur. Sie haben in Großbritannien eine ganz andere Landschaft, die Versorgungsleistungen für Bedürftige vornimmt, die bei uns staatlich gefördert oder sogar staatlich organisiert werden. Dort gibt es wie auch in den USA viele Charity-Einrichtungen, die sich um die Menschen kümmern. Deshalb gibt es dort auch die Distributionsstruktur, die Sie brauchen. Ich würde sagen, in Frankreich sind die Charity-Kultur und auch Fundraising weniger stark ausgeprägt. Unser französisches Pendant, Dons solidaires, arbeitet auch ein wenig anders. Viele der Spenderorganisationen haben eine eigene große Logistik, oder große Verteilungslager wie zum Beispiel Kleiderkammern.
Seit der Gründung von innatura 2013 haben Sie mehr als 2.000 Tonnen Müll vermieden. Welche Lösungen gibt es neben dem Spenden noch, um Überschüsse zu vermeiden? Was können die Konsumenten konkret tun?
Ich bin überzeugte Marktwirtschaftlerin, aber wenn ich bei uns im Lager stehe und sehe, dass da von einer bestimmten Deosorte 12 verschiedene Geruchsrichtungen stehen, dann frage ich mich: Muss das für jede Saison sein? Es gibt nachhaltig aufgestellte Unternehmen, die ganz anders arbeiten. Die würden zum Beispiel niemals einen harten Relaunch machen.
Sie kennen das Beispiel: Jemand lässt sich in der Buchhandlung ein Buch auspacken, um es durchzublättern, kauft dann aber das originalverpackte. Jeder von uns kann sich fragen: „Wie geht ein Unternehmen mit Ressourcen um? Was tun die sonst noch? Und kaufe ich von diesem Unternehmen oder nicht?“ Wir unterschätzen die Macht des Konsumenten. An der Fleischdiskussion sehen Sie zum Beispiel, dass die Mehrheit der deutschen Konsumenten nach dem Preis entscheidet. Und solange das so ist, kriegen wir da natürlich wenig verändert.
Unsere Expertin
Juliane Kronen
| Foto (Ausschnitt): innatura gGmbH
Juliane Kronen, Gründerin und Geschäftsführerin der innatura gGmbH.
Nach Studium der BWL an der Universität Köln und der University of Missouri mit anschließender Promotion arbeitete sie 16 Jahre lang bei The Boston Consulting Group, davon acht Jahre als Partnerin. Gemeinsam mit ehemaligen Kollegen gründete Juliane Kronen 2011 innatura, um eine nachhaltige Alternative für die Weiterverwertung von neuwertiger Ware anzubieten, die ansonsten entsorgt würde.