August 2018
Jan Wagner: Die Wahrheit ganz, jedoch schräg
In 40 Sonnets, seiner 2015 erschienenen Gedichtsammlung, feiert der Lyriker Don Paterson eine Gedichtform, die manche vielleicht für staubig gehalten hätten – und beweist dabei, dass das Sonett keinesfalls für tot erklärt werden kann. Mit einer ungeniert spielerischen Einstellung zu Reim und Metrum bietet die Sammlung Sonette für das 21. Jahrhundert, mit gelegentlichen Prosagedichten und Beispielen der konkreten Poesie neben traditionelleren Interpretationen.
Die begeisterte Resonanz der Leser_innen und Kritiken auf 40 Sonnets deutete hin auf eine Lust auf Gedichte, die mit bekannten Formen spielen und sie in neue Richtungen führen. Wenn auch Du dabei auf den Geschmack gekommen bist, gibt es gute Nachrichten für Dich: Der deutsche Lyriker Jan Wagner geht Lyrik aus einem ähnlichen Blickwinkel und mit genauso viel Erfolg an. Selbstporträt mit Bienenschwarm versammelt Gedichte aus Wagners gesamtem Schaffen, übersetzt von Iain Galbraith, und hat zu Recht den Popescu Preis für die Übersetzung europäischer Lyrik gewonnen.
Wagner hat einen erstaunlichen Zugriff auf viele traditionelle Formen, vom Sonett bis zur Sapphischen Strophe. Wie Galbraith in seinem Vorwort zum Band (das die Beziehung zwischen Übersetzer, Gedicht und Dichter sehr lesenswert herausstreicht) zeigt, ist Wagners Einstellung zu den Formen, die er einsetzt, immer experimentell und abenteuerlich. Wagner begeistert sich dafür, wie eine liberalisierende Einstellung zu traditionellen Strukturen die Lyrik stärken und beleben kann. Er ersetzt strikte Reime durch Halbreime, durch Assonanzen und Alliterationen. Das spielerische, strahlende Gedicht ‚Giersch‘ bietet ein perfektes, freudevolles Beispiel:
„hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch“
Es ist beeindruckend, wie Galbraith das Gefühl der Sprache des Deutschen hier erfasst. Seine augenfällige Vertrautheit mit Wagners Werk führt dazu, dass seine Übersetzungen die Essenz des Originals stets transportieren, trotz (oder vielmehr wegen) der Freiheiten, die er sich beim Übersetzen von Details erlaubt, um das Ganze bewahren zu können.
Wagner folgt dabei Emily Dickinsons Prinzip, das dem Lyriker nahelegt, die Wahrheit ganz, jedoch schräg zu erzählen. Unter seinem Blick erkennen wir Fenchelknollen als „bleiche Herzen … gedrängt / in einer kiste, wärme suchend“, und „schafe sind wolken, die den boden lieben“. Viele seiner Gedichte sind Betrachtungen von Orten und Landschaften aber meine Lieblingstexte zeigen, wie er auch ein neugieriger und scharfsichtiger Beobachter des Alltags ist. Diese Gedichte glänzen durch ihre Unmittelbarkeit, die Art, wie ihre Geschichten stattfinden „während das Kaffeewasser kocht“. Dabei versuchen Kinder ein Loch zu graben, das bis nach Australien reicht, oder ein Teebeutel wird ein Eremit “nur in sackleinen / gehüllt”. Für die, die das Unheimliche mögen, bietet die Sammlung außerdem dunkle Beschwörungen von Märchen und Mythen, wie ein Gedicht notiert: “was ich von steinen weiß ist ihr gewicht / im bauch von wölfen”.
Das Wort „zugänglich“ wird in Sachen Lyrik nicht oft als reines Kompliment verwendet. Wagners Texte allerdings hinterfragen diese Einstellung. Seine Gedichte machen Spaß und überraschen beim ersten Lesen, bevor sie, wie Origami, immer neue Deutungen und Möglichkeiten entfalten.
Zurück zum Buchblog