Mai 2019
Anne Lister: Wir waren immer hier
Ein berauschendes viktorianisches Setting, die Verlockung des Theaters und queere Liebe: Ich weiß nicht, wieso ich so lange gebraucht habe, um Die Muschelöffnerin von Sarah Waters (übersetzt von Susanne Amrain) für mich zu entdecken. Als ich das Buch endlich in die Hand nahm, war ich gefessellt. Waters’ pikaresker Roman folgt seiner Heldin, Nan, durch Londons tobende Subkulturen – von der Welt der Varietétheater über eine Gruppe adliger Sapphistinnen bis hin zu den Sozialist_innen Ostlondons. Waters hat gründlich recherchiert und so sieht nicht nur Nan, sondern auch die Leserin, dass Frauen, die Frauen lieben, schon immer Gemeinschaften für sich geschaffen haben.
Eine ähnliche Erkenntnis liegt Angela Steideles Anne Lister: Eine erotische Biographie zugrunde. Anne Lister (1791 – 1840), Landbesitzerin, Bergsteigerin, Reisende aus Yorkshire und eine ikonische Figur nicht nur für lesbische, sondern auch für Trans- und nichtbinäre Communities, setzte sich über Gender-Normen hinweg, indem sie sich typisch männliche Rollen aneignete. Anne hatte mehrere Beziehungen mit Frauen und verstand diese als genauso gültig wie die konventionellen Ehen, die ihre Gesellschaft anerkannte. Wie Katy Derbyshire, die das Buch ins Englische übersetzt hat, in einem Gespräch über Anne Lister bemerkt, bekommt sie derzeit enorm viel Aufmerksamkeit: Eine Tafel wurde an der Kirche angebracht, in der sie und ihre Ehefrau, Ann Walker ohne legale Anerkennung geheiratet haben und ihr Leben wurde erst kürzlich als HBO- und BBC-Serie verfilmt.
Die Entstehungsgeschichte der Biographie selbst ist schon faszinierend. Lister schrieb fast zwanghaft Tagebuch, sehr zum Leidwesen ihrer unterschiedlichen Geliebten, die sie ihren Tagebüchern zuliebe vernachlässigte. Schon als Jugendliche entwickelte sie eine verschlüsselte Sprache, um über Tabu-Themen zu schreiben und jeder Eintrag in Anne Listers Tagebuch beginnt damit, „ob und mit wem und wie oft sie am Vorabend Sex hatte“. Sechzig Jahre später entdeckt ihr Neffe die Tagebücher, ist fasziniert vom Reichtum der darin enthaltenen örtlichen Geschichten und beginnt, auch die verschlüsselte Sprache zu entziffern. Als ihm klar wird, dass diese Passagen „gänzlich ungeeignet zur Veröffentlichung“ in seinem Zeitalter sind, versteckt er die Tagebücher hinter einer Wandvertäfelung, sodass sie erst Jahrzehnte später wiedergefunden werden.
Die daraus entsprungenen Details über Anne Listers Leben sind erstaunlich und gelegentlich urkomisch. Anne lernte Griechisch beispielsweise, teils, weil sie merkte, dass klassische Literatur Lust in all ihren Formen anerkannte – und wie beabsichtigt las sie diese erotischen Texte „mit einer Hand“. Annes Beziehungen wurden, wie Steidele ausmacht, teils durch die Besessenheit der Regentschaft mit der Jungfräulichkeit ermöglicht: Man glaubte „junge Mädchen am besten von einer engen Freundin vor männlicher Verführung beschützt, weil sie das Herz besetzte und das Bett belegte“. Anne nutzte diesen blinden Fleck völlig aus und verbrachte einen großen Teil ihres Lebens damit, mehrere „enge Freundinnen“ zu umwerben – häufig gleichzeitig.
Wir sollten allerdings vorsichtig sein, wenn wir diese bahnbrechende Figur als Idol erheben. Anne manipulierte immer wieder die Frauen, die für sie schwärmten. Steidele legt nahe, dass beispielsweise Annes erste Freundin, deren Inhaftierung Anne unterstützte, die Inspiration für Charlotte Brontës „mad woman in the attic“ in Jane Eyre sein könnte. Anne war auch in vielerlei Hinsicht ein Mensch ihrer Zeit: Sie glaubte fest an soziale Hierarchien und an körperliche Strafen.
Trotzdem ist Anne Listers Fest der queeren weiblichen Lust enorm wichtig für eine Gemeinschaft, die immer noch kaum in der Geschichtsschreibung zu finden ist. Und wenn man die politische Dimension kurz beiseitelässt, ist, wie Steidele zugibt, der Sex in altertümlicher Sprache einfach „zu reizend“.
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