Berlinale-Blogger antworten
Quo vadis, Berlinale?
Nicht mehr Dieter Kosslick, sondern Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian: Spürt man durch den Wechsel an der Führungsspitze den „Wind of Change“ und wenn ja, wie äußert er sich?
Foto: © privat
Gabriele Magro - Italien: Da dies meine erste Berlinale ist, kann ich sie nur schwer mit bisherigen Jahrgängen vergleichen. Zwei Dinge kann ich jedoch mit Sicherheit sagen: Die Atmosphäre hier ist energiegeladen, und es freut mich, dass so viele Italiener*innen am Festival beteiligt sind – von den Mitarbeiter*innen bis hin zu den vielen Regisseur*innen – die ihre Arbeit hier in Berlin präsentieren.
Foto: © privat
Ieva Sukyte - Litauen: Die wichtigste Veränderung beim diesjährigen Festival war das neue Wettbewerbsprogramm Encounters. Allerdings fällt es angesichts von insgesamt 350 Filmen einschließlich der Kurzfilme schwer, sich einen Überblick über alle Neuerungen zu verschaffen. Mit dem Wegfall eines der wichtigsten Berlinale-Kinos, dem Cinestar im Sony Center, ist es für die Branche und die Presse schwerer geworden, das Filmprogramm in den anderen Sektionen zu verfolgen. Doch dies ist das erste Jahr unter der neuen Doppelspitze, und man kann sehen, dass beide den richtigen Weg eingeschlagen haben, denn die Wettbewerbsfilme waren in diesem Jahr stärker als bei vorherigen Festivalausgaben.
Foto: © privat
Erick Estrada - Mexiko: Es besteht keinerlei Zweifel: Auf der Berlinale, in Berlin und weltweit ist ein Wandel zu spüren. Im vergangenen Jahr war ich zum ersten Mal auf dem Festival, und ich muss sagen, dass sich der Blickwinkel der Berlinale geändert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig in Worte fassen kann, aber ich habe das Gefühl, dass es neue Stimmen gibt und die alten Geschichten, die uns in Filmen immer wieder erzählt werden, neu in Szene gesetzt wurden. Kurz gesagt: Die (schönen) alten Geschichten haben neue Farben erhalten.
Foto: © Privat
Sarah Ward - Australien: Bei einem derart großen und umfangreichen Festival wie der Berlinale kann eine neue Doppelspitze nicht so ohne Weiteres für frischen Wind sorgen, noch viel weniger in einem Jahr, in dem mit dem 70. Geburtstag des Festivals seine lange Lebensdauer, sein Erbe und seine Geschichte gefeiert werden. Die Festivalausgabe 2020 mutet — trotz der Aufnahme einer neuen Wettbewerbssektion Encounters — mehr wie eine Vorbotin des bevorstehenden Wandels denn wie eine große Revolution an. Gleichwohl setzt der neue künstlerische Leiter Carlo Chatrian ganz klar auf ein alternatives Programm mit anderen Vorlieben, Interessen und Schwerpunkten als der bisherige Leiter Dieter Kosslick.
Foto: © privat
Javier H. Estrada - Spanien: Ich besuche die Berlinale seit 15 Jahren und kann mit Überzeugung sagen, dass diese Ausgabe die bisher interessanteste war und am meisten zum Nachdenken anregen und inspirieren konnte. Im offiziellen Wettbewerb waren großartige Filme wie DAU. Natasha von Ilya Khrzhanovskiy und Jekaterina Oertel zu sehen – ein zentrales Werk des diesjährigen Programms, das meines Erachtens in vergangenen Festivaljahren nicht ausgewählt worden wäre. Darüber hinaus ließen sich in der Sektion Encounters die etwas riskanteren und mutigeren Werke des zeitgenössischen Kinos entdecken.
Foto: © privat
Yun-hua Chen - China: Es gefällt mir, dass das Programm in diesem Jahr nicht so umfangreich ausfällt und ein cineastischer Ansatz zu spüren ist. Darüber hinaus haben die Gespräche im Rahmen von On Transmission einen reizvollen Blickwinkel in das Festival gebracht. Obwohl die Grenze zwischen dem Wettbewerb und der Sektion Encounters noch nicht erkennbar ist, regt die Tatsache, dass sich einige Filme mehreren Sektionen zuordnen lassen, zum Nachdenken an. Tatsächlich hat mich in diesem Jahr ein Film aus der Sektion Encounters besonders beeindruckt: The Trouble with Being Born. Traurig bin ich darüber, dass der Berlinale-Bär nicht mehr auf den Festivalpostern erscheint. Den vermisse ich wirklich.
Foto: © Privat
Egor Moskvitin - Russland: Da dies erst meine dritte Berlinale ist, fürchte ich, dass mein Urteil nicht aussagekräftig ist. Allerdings habe ich den Eindruck, dass das neue Programmteam an den Grundsätzen, dem Aufbau und der Logik des bisherigen Festivals festhält. Bei den für den Hauptwettbewerb ausgewählten Filmen geht es noch immer darum, die Komplexität der Welt, in der wir leben, über den Blick von Künstler*innen unterschiedlicher kultureller und nationaler Herkunft zu ergründen. Es gibt außerdem einige zeitlose Filme (First Cow und Days), die sich nicht auf den Zeitgeist und aktuelle Konflikte, sondern auf das eigentliche Wesen der menschlichen Natur beziehen. Und es gibt Filme, die die Festivalbesucher*innen zu einer Diskussion anregen sollten, ob beim Storytelling ethische oder ästhetische Aspekte im Mittelpunkt zu stehen haben. Die Berlinale scheint also an ihrem bisherigen Kurs festzuhalten, und es braucht sicher mehr Zeit, um echte Veränderungen zu spüren.
Foto: © privat
Anjana Singh - Indien: Ich habe aufgrund des diesjährigen Wechsels in der Führungsspitze keinen „Wind of Change“ gespürt! Die Programmauswahl war sehr gut. Das Festival an sich war genau so perfekt organisiert wie unter Dieter Kosslick. Nur die Berlinale-App wurde leider gestrichen.
Foto: © Privat
Andrea D’Addio - Italien: Ich bin zum dreizehnten Mal auf der Berlinale und kann keine großen Veränderungen gegenüber vorherigen Festivalausgaben feststellen. Meiner Meinung nach gibt es eine Kontinuität zwischen der alten und der neuen künstlerischen Leitung. Vermutlich braucht es mehr Zeit, um die Ergebnisse eines solchen „Wind of Change“ zu spüren. Mir ist lediglich aufgefallen, dass weniger Filme als bisher gezeigt wurden. Es bleibt mehr Zeit, mit Kolleg*innen und Zuschauer*innen über die Filme zu sprechen, was ich sehr gut finde.
Foto: © privat
Hyunjin Park - Korea: Ich finde es positiv, dass die einzelnen Sektionen in diesem Jahr klar organisiert sind. Außerdem bin ich sehr dankbar, dass sich die neue Leitung darum bemüht hat, Themen wie Nachhaltigkeit und Diversität in das Festival aufzunehmen. Insbesondere im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter wurden meines Erachtens wichtige Fortschritte erzielt. Ich freue mich über diese Bemühungen, da es das erste Jahr unter der neuen Leitung ist.
Foto: © Privat
Philipp Bühler - Deutschland: Locarnos Sonne scheint noch nicht auf den Potsdamer Platz, bisher äußert sich der Führungswechsel vor allem im ausgedünnten Programm. Was den Wettbewerb angeht, mit Berlin Alexanderplatz, DAU. Natasha, Filmen von Christian Petzold, Abel Ferrara und Sally Potter – vermutlich hätte Dieter Kosslick, der frühere Festivaldirektor, keinen davon links liegen lassen. Ich glaube, dass sich die größeren Veränderungen erst in den nächsten Jahren ergeben werden, in komplizierten Verhandlungen mit den weiteren Sektionen. Der interessante Zweitwettbewerb Encounters ist da ein erstes Zeichen.
Foto: © Privat
Camila Gonzatto - Brasilien: Die Berlinale hat durchaus ein neues Gesicht. Eine neue Leitung führt immer zu einem neuen Blick. Das bringt neue Stimmungen, auch wenn die neue Aufteilung der Sektionen noch etwas konfus ist. Die Veränderungen ergeben sich aber auch jenseits der Leinwand. Mit Ausstellungen über die ganze Stadt verteilt konzentrieren sich die Zuschauer weniger am Potsdamer Platz. Damit verliert sich ein wenig das Gefühl, sich unter einem Festivalpublikum zu bewegen.
Foto (Ausschnitt): © Goethe-Institut
Jutta Brendemühl - Kanada: „Das Festival braucht keine drastischen Veränderungen“, sagte Chatrian vor der 70. Berlinale. Dann gab es doch einige, gewollte und ungewollte: Doppelspitze, neues Team, 15 % weniger Filme. Gestrichen: viele Pressekonferenzen, zwei Sektionen. Neu: ein zweiter Wettbewerb wie in Cannes und Venedig. Am Ende die Filmauswahl nicht so durgängig „arthouse“ wie erwartet, leider auch weniger indigen als gehofft. Plus ça change, aber ein Festival macht auch noch keine neue Ära. Bravo, Mariette und Carlo, für die Chuzpe!