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Oleh Pantschuk
„Eine Zeitlang hing alles an einem seidenen Faden“

Eine Collage zeigt Bilder von Oleh Pantschuk und Eugenia Lopata
„Es ist zu schwer, unsere Menschen zu verändern, vor allem die im mittleren Alter und die der älteren Generationen“: Oleh Pantschuk im Gespräch mit Eugenia Lopata. | Collage (Ausschnitt): © privat/Tobias Schrank

Oleh Pantschuk kam 1932 in Czernowitz zur Welt, als Enkel der ukrainischen Schrifstellerin Olha Kobyljanska. Im Interview erzählt er, warum die Sowjetregierung seine Großmutter so verehrte, wie er dazu kam, Chemie zu studieren – und von den Protesten auf dem Maiden, die in seinen Augen auch ganz anders hätten enden können.

Lopata: Sie wurden in Czernowitz geboren. Das war damals noch Teil von Rumänien.

Pantschuk: Ja, als ich zur Schule ging, fand der Unterricht selbstverständlich auf Rumänisch statt. Erst später, in den 1930er Jahren, nach dem Machtwechsel in Bukarest, begann sich die Haltung gegenüber Minderheiten wie Ukrainern, Deutschen und Polen zu verändern. Während meiner Kindheit waren die Bedingungen für Ukrainer hart: Andere Sprachen als Rumänisch waren in öffentlichen Institutionen, darunter auch Schulen, verboten. Einmal saß ich während einer Pause mit meinem Banknachbarn, der ebenfalls ukrainisch war, an einem Pult. Wir flüsterten auf Ukrainisch miteinander. Jemand hörte uns und erzählte es dem Lehrer. Ich wurde bestraft, allerdings eher symbolisch – ich erhielt fünf Schläge mit dem Lineal auf die Handfläche. Es tat nicht weh, aber es war erniedrigend. Damals wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, Menschen ihre Muttersprache sprechen zu lassen.

Lopata: Könnten Sie uns etwas über Ihre Kindheit und Ihre Großmutter erzählen, die berühmte ukrainische Schriftstellerin Olha Kobyljanska?

Pantschuk: Ich wurde am 17. Juli 1932 in dem Haus geboren, in dem sich heute das Olha-Kobyljanska-Museum befindet. Ich wuchs in der Familie meiner Mutter auf. Meine Mutter war Olha Kobyljanskas Pflegetochter und tatsächlich ihre Nichte. 1940 schloss ich das zweite Schuljahr ab und im Juni 1940 wurde die Sowjetregierung ausgerufen. Sie verehrte Olha Kobyljanska zutiefst. Sie war damals die einzige noch lebende Vertreterin der neuen ukrainischen Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Lesja Ukrajinka war gestorben, ebenso Franko and Kozjubynskyj – außer Olha war niemand mehr übrig [Lesya Ukrayinka, Ivan Franko und Mykhaylo Kotsyubinsky gehören zu den prominentesten ukrainischen Schriftstellern der Geschichte, Anm. d. Red.]. Olha war damals jedoch sehr krank. Sie war gelähmt und hatte zwei Schlaganfälle erlitten. Aufgrund dessen war sie nicht in der Lage, ihr Haus oder auch nur ihr Zimmer zu verlassen.

Ich will Ihnen eine interessante Anekdote erzählen: Am 23. [Juni 1940, Anm. d. Red.], zwei Tage, nachdem die sowjetischen Truppen in die Stadt einmarschiert waren, kam eine sowjetische Delegation, bestehend aus der Parteiführung und Mitgliedern des Militärs, mit Blumen zu unserem Haus. Olha wurde zum Sofa im Wohnzimmer getragen. Sie konnte kaum sprechen. Die Offiziere sprachen von Befreiung und sie nickte nur immer. Damals begann das alles: Jeden Tag kamen Delegationen aus verschiedenen Städten und Republiken, um uns zur Befreiung zu gratulieren.

Eines Abends, bei einem Abendessen zur Feier der Beförderung meines Vaters zum Leiter der Universitätsbibliothek, trat ein Vertreter des örtlichen Parteikomitees an meinen Vater heran: „Wie geht es Ihnen? Sind Sie zufrieden, wie die sowjetische Obrigkeit Olha Kobyljanska behandelt?“ Solche Fragen waren unerwartet. Also kam dieser Vertreter zum Punkt und sagte: „Die Befreiung ist anderthalb Monate her und wir sind etwas überrascht, dass sich Olha Kobyljanska nicht öffentlich dazu äußert.“ Vater fängt an, ausweichend zu werden, und erklärt, dass sie gelähmt ist. „Ja, schon, aber Sie könnten Ihr ja etwas vorsagen. Sie hat dem großen Stalin nicht gedankt, obwohl sie das persönlich tun könnte. Das gehört sich so. Alle unsere Siege sind Siege unter Stalin.“ Mein Vater wich erneut aus und antwortete, dass sie wirklich gelähmt sei. Aber ihm wurde gesagt: „Sie überlegen sich besser, wie Sie das trotzdem hinbekommen.“ Mein Vater kam nach Hause und fragte seine Frau Olena um Rat. Sie wussten, was bereits begonnen hatte. Sie wussten, dass die Deportationen von Ukrainern begonnen hatten. Sie kannten das wahre Gesicht dieser sowjetischen Macht schon seit geraumer Zeit. Wir hatten keine andere Wahl, verstehen Sie? Eine Weigerung hätte zu einer Katastrophe geführt. [Aber] eine Einwilligung bedeutete, alle unsere Überzeugungen preiszugeben. Schließlich traf sich mein Vater wieder mit diesem Mann und sagte: „Wir können nicht Nein sagen, aber wir haben Angst, etwas falsch zu machen, bitte schreiben Sie doch selbst etwas und wir legen es Kobyljanska zur Unterschrift vor.“ So wurde es dann auch gemacht. Um etwas Integrität zu bewahren. Dieser Brief wurde Olha gegeben, sie selbst war nicht in der Lage zu schreiben, aber es musste eine Unterschrift geben. Olha fragte, was das für Papiere seien. Man sagte ihr, es handle sich um einige hauswirtschaftliche Angelegenheiten.

So erschien also die erste Grußbotschaft. Sie verlangten monatlich immer mehr Grußbotschaften: „Olha Kobyljanska gratuliert irgendeinem usbekischen Schriftsteller zu seinem Jubiläum und vergisst auch nicht zu erwähnen, wie dankbar sie der sowjetischen Obrigkeit ist“ et cetera. Im Laufe eines Jahres sammelten sich bei uns etwa 30 solcher Briefe an. Später beschloss die Sowjetregierung, Olhas Status sogar noch weiter zu erhöhen. Sie organisierte zu ihrem Geburtstag eine Jubiläumsfeier. Es war kein rundes Jubiläum, deshalb ließ die Obrigkeit so etwas verlautbaren wie: „Anlässlich des 50. Jubiläums ihrer schriftstellerischen Tätigkeit“. Im Kobyljanska-Museum gibt es ein Foto von dieser Veranstaltung. Ukrainische Schriftsteller, darunter Iwan Le, Volodimir Sosjura, Jurij Janowski und andere, waren in unserem Haus zu Gast.

Abends gab es einen Empfang und am nächsten Tag war im Theater ein feierliches Zusammenkommen geplant. Sie wollten Olha dort im Theater auftreten sehen. Unser Vater erklärte, dass Olha kaum in der Lage war zu lesen und ihr Privatarzt ihr strengstens untersagt hatte, das Haus zu verlassen. Das war nach ihrem zweiten Schlaganfall, sie hatte das Haus seit drei Jahren nicht mehr verlassen. Aber die Obrigkeit wollte Olha Kobyljanskas Stimme trotzdem hören. Stellen Sie sich das vor: Letzten Endes wurde eine Telefonleitung vom Theater bis zu unserem Haus gelegt. Man gab ihr ein Mikrofon und sie las eine Hommage, die mein Vater überarbeitet hatte.

Lopata: Zwischen dem Theater und Ihrem Haus liegen beinahe 2 Kilometer!

Pantschuk: Ja, die Telefonleitung war den ganzen Weg bis hier oben gespannt. Die Partei befahl es, also musste es gemacht werden.

Lopata: Mir ist bewusst, wie wichtig es ist, dass wir über Olha Kobyljanska sprechen. Sie gilt als eine der wichtigsten Autor*innen der ukrainischen Literatur, aber die sowjetische Obrigkeit schlachtete ihren Namen aus und benutzte sie. Angesichts der Tatsache, dass Sie schon immer ein politisch aktiver Mensch waren und Olha Kobyljanska Ihre Großmutter war, hätten Sie Schriftsteller werden können oder auch Politiker, aber Sie haben Ihr Leben der Chemie gewidmet.

Pantschuk: Die Geschichte ist ganz einfach. Mein Bruder war im Krieg. Nach seiner Rückkehr musste er sich 1945 an der Universität einschreiben. Frontsoldaten wurden ohne Examen an der Universität zugelassen. Als unser Vater aus den rumänischen Lagern entlassen wurde, versuchte er etwas Geld zu verdienen: Er hatte einen kleinen Milchladen in der Kobyljanska-Straße. Aber der war wegen starker Konkurrenz und extrem hohen Steuern nicht erfolgreich. Dann wollte er für ein Jahr ein Feld pachten, ein paar Rote-Beete-Samen aussäen, diese dann für Zucker abliefern und es wieder verkaufen. Das Leben war damals nicht leicht, wir hatten nicht einmal Brot. Mein Vater war also geschäftlich nicht erfolgreich, aber ein Freund von ihm hatte eine chemische Werkstatt. Mein Vater empfahl meinem Bruder, Chemie zu studieren, mein Bruder gehorchte, und ich folgte dem Beispiel meines Bruders. So ergab sich das.

Dann verfolgte ich eine pädagogische Laufbahn, aber in den 70er- bis 80er-Jahren gab es einen Wendepunkt, an dem ich anfing, mich für öffentliche Angelegenheiten zu interessieren. Obwohl dieses Interesse immer da war, hatte auch die Lebensgeschichte meines Bruders einen großen Einfluss auf mich.

Als er Doktorand wurde, nominierten ihn einige Parteimitglieder für eine Position im Stadtrat. Er konnte sich nicht weigern. Und dann versammelte der Vorsitzende des Parteikomitees alle Abgeordneten um sich: „Wenn man vom Volk ausgewählt wurde, dann muss man für das Volk arbeiten. Ihr werdet Sprechtage haben und müsst den Leuten helfen.“ Mein Bruder ging die Aufgabe mit reiner und ernsthafter Seele an. Nach 6 Monaten kam er zu mir und erzählte mir, dass sich ein paar Leute, deren Fenster von Rowdies eingeschlagen wurden, an ihn um Hilfe gewandt hatten. Es war unmöglich, die Materialien für eine Reparatur zu kaufen. Mein Bruder rief irgendeine Bauorganisation an, mit Brettern und Zement war es dasselbe. Mein Bruder sagte, er sei faktisch nicht in der Lage, irgendjemandem zu helfen. Jahre vergingen, und bei einer der Sitzungen räumten alle Abgeordneten ein, dass sie dasselbe Problem hatten. Alles, was man ihnen sagte, war, dass es daran lag, dass das Land im Aufstieg und Aufbau begriffen war, das ist Kommunismus … Und hinterher war es genau dasselbe. Mein Bruder ging zum Stadtratsvorsitzenden und sagte: „Wenn Sie mir nicht helfen, brauchen Sie mich nicht. Wofür denn? Um einmal im Jahr aufzukreuzen und Ihren Anweisungen zu lauschen?“ Ich erinnere mich, dass beim nächsten Mal, als die reguläre Sitzung stattfand, eine Postkarte vom Stadtrat kam: „Wir bitten um Ihr Erscheinen, da Sie Ihre Verpflichtungen nicht erfüllen.“ Aber mein Bruder ging nicht mehr hin und wurde schließlich abgesetzt. Um das zu tun, brauchte es aber ganz schön Mut.

Es gab andere Fälle, in denen mein Bruder Mut zeigte. Als sein Sohn auf eine ukrainische Schule ging, auf der Sport auf Russisch unterrichtet wurde, ging mein Bruder zum Schulleiter und bat ihn, einen Lehrer zu finden, der ukrainisch sprach. Der Schulleiter sagte ihm, er solle in zwei Wochen wiederkommen. Und als mein Bruder das tat, sagte er, er habe keinen Lehrer gefunden: „Sport wird in der ganzen Ukraine auf Russisch unterrichtet. Mir sind die Hände gebunden.“ Darauf erklärte mein Bruder, er werde seinen Sohn aus der Schule nehmen und ihn im Dorf Mamajiwzi zur Schule schicken. Mein Bruder würde ihn jeden Tag in die Schule fahren und wieder abholen. Innerhalb von 10 Tagen tauchte ein neuer Sportlehrer auf. Das waren damals sehr mutige Taten. Mein Bruder ist derjenige, von dem ich gelernt habe. Mein Bruder war mein Lehrer, im Hinblick auf das Leben ebenso wie auf meinen Sinn für bürgerliche Pflichten.

Es ist zu schwer, unsere Menschen zu verändern, vor allem die im mittleren Alter und die der älteren Generationen.

Oleh Pantschuk

Lopata: Sie haben so viele Regimes und politische Kräfte kommen und gehen sehen, welche Orientierungshilfe würden Sie der jüngeren Generation geben?

Pantschuk: Ich denke, es läuft gut. Es gibt Euch und Tausende wie Euch, die aus eigenem Antrieb aktiv werden. Ihr wurdet nicht von irgendjemandem gezwungen oder bestochen. Und das gibt dem Rest Impulse und Motivation. Wir müssen froh sein, dass die Dinge so liefen, wie sie liefen. Eine Zeitlang hing alles an einem seidenen Faden, beispielsweise damals im Jahr 2014, als Moskau Janukowytsch anwies, einfach Panzer auf den Maidan zu schicken. Putin würde das tun. Janukowytsch hatte Angst vor den Konsequenzen, vielleicht war auch noch ein Rest Menschlichkeit in ihm. Ich weiß nicht, warum es nicht geschah. Das hätte das Ende sein können. Die Besten der Jugend der Nation hätten auf dem Maidan sterben können. Wir hingen an einem seidenen Faden und haben überlebt.

Lopata: Hat die Ukraine in Europa eine Zukunft?

Pantschuk: Wissen Sie, darüber lässt sich streiten. Ich mache nicht gerne Vorhersagen. Die Europäer hätten die Ukraine selbstverständlich gerne. So etwas wie Frankreich, aber im Osten. Oder zumindest so etwas wie Polen. Aber es ist zu schwer, unsere Menschen zu verändern, vor allem die im mittleren Alter und die älteren Generationen. Die Mehrheit wird ihre Denkweise nicht ändern. Die Menschen werden passiv bleiben, weil die Sowjetmacht sie daran gewöhnt hat. Rumänien und Polen kamen schnell darüber hinweg, aber unsere Eltern brachten uns immer noch bei, „den Mund zu halten, sonst kriegen wir Probleme.“ Heute hat sich das geändert. In der Ukraine gab es noch nie so viel Meinungsfreiheit wie heute.

Lopata: Vielen Dank für das Gespräch, das war wirklich äußerst interessant.

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