Interview zum Projekt „Erzähle mir von Europa“
„Uns verbindet die Neugier aufeinander“
Was ist Europa für uns und was soll es sein? Darüber reden Menschen unterschiedlicher Generationen im Projekt „Erzähle mir von Europa“. Ein Gespräch mit Projektleiterin Katrin Sohns vom Goethe-Institut London über Generationen-Respekt, die Suche nach Verbindendem und die einigende Kraft der Musik.
Frau Sohns, seit Anfang September laden die Goethe-Institute Menschen verschiedener Generationen zur Diskussion über Europa ein. Warum brauchen wir den generationenübergreifenden Austausch?
An vielen Stellen in Europa sehen wir derzeit Teilungen oder kleine Risse. Es scheint, als würden sich Europäer wieder voneinander entfernen. Um so mehr wächst bei vielen Menschen das Bedürfnis, das Verbindende zu suchen. Was ist Europa? Was hält uns zusammen? Wie sehen Menschen unterschiedlichen Alters auf Europa und wie können wir diese Perspektiven zusammenführen? Gerade hier in Großbritannien haben viele junge Briten seit dem Brexit-Referendum das Gefühl, sie müssten etwas für Europa tun. Aber auch anderswo treibt das junge Menschen um. Vor zwei Jahren sind wir auf ein Netzwerk von jungen Leuten in ganz Europa gestoßen, den Verein „Arbeit an Europa“. Seine Idee fanden wir toll: Junge Europäerinnen und Europäer interviewen Menschen, die zwischen 1920 und 1945 geboren sind, zu ihren Leben und Erfahrungen.
Inzwischen hat die Gruppe fünfzig Menschen interviewt, viele bekannte Namen sind dabei.
Menschen wie der französische Drehbuchautor Jean-Claude Carrière (*1931), der von der feindseligen Haltung gegenüber den Deutschen nach dem Krieg erzählt. Wie der slowakische Philosoph Egon Gál (*1940), der den wechselhaften Weg der Slowakei in die EU erlebt hat, hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Besorgnis. Sogar die ehemalige isländische Präsidentin Vigdís Finnbogadóttir (*1930), das erste weibliche Staatsoberhaupt der Welt, wurde interviewt.
…und wer reinhört, entdeckt wie wunderbar bunt und vielfältig Europa ist, aber auch wie schwierig und wechselhaft seine Geschichte, geprägt von Kriegen, Konflikten, Grenzverschiebungen. Welche Spuren sie bei den Menschen hinterlassen haben, ist in den Gesprächen heute noch zu spüren. Das Archiv ist eine Art kollektives Gedächtnis Europas. Deshalb wollten wir daraus im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft unbedingt ein Projekt entwickeln: „Erzähle mir von Europa“. An 13 Standorten diskutieren nun junge Menschen mit Kunstschaffenden, Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Journalistinnen und Journalisten. Das Material ist der Ausgangspunkt der Debatten, manchmal sind die Zeitzeugen selbst vor Ort. Wegen Corona war das leider nicht immer möglich.
Die Diskussionen drehen sich um sieben übergreifende Themen. Wie haben Sie diese ausgewählt?
Bei der Sichtung des Materials ist unser Kuratorenteam, Edouard Barthen und Leona Lynen, auf Kernthemen gestoßen, die die Menschen in allen Interviews beschäftigt haben: Die Suche nach Identität, das Leben zwischen den Kulturen, Europa der Nationen, Europa zwischen Ost und West und das Europa der Generationen. Eine große Rolle spielen auch Migration, das Ringen um eine europäische Öffentlichkeit und die Frage, was Europa im Alltag eigentlich konkret bedeutet.
Die Veranstaltungen finden in 13 Ländern statt, auch außerhalb der EU. Im georgischen Tiflis etwa oder in Moskau.
Ja, denn wir haben Europa nicht nur politisch, sondern in erster Linie als Kulturgemeinschaft interpretiert. Der Blick sollte möglichst vielfältig sein. Wir haben alle europäischen Goethe-Institute gefragt: Wer hat Lust mitzumachen? Wer hält das Thema an seinem Standort für relevant? Herausgekommen ist ein spannender Mix. Städte wie Zagreb, Sarajewo und Tirana sind dabei, aber auch Metropolen wie London oder Rom. Und jede Stadt hat einen ganz spezifischen Zugang gewählt.
In Tirana drehte sich Erzähle mir von Europa um den Zeitzeugen Maks Velo, der leider kurz nach dem Interview für das Archiv der Stimmen gestorben war. Velo ist ein großer albanischer Maler. Sein Leben zu würdigen, sich mit seiner Sicht auf Europa auseinanderzusetzen, war dort ungeheuer wichtig. In Sarajewo gab es ein World Café, in dem Jugendliche und Frauen aus unterschiedlichen Generationen kontrovers über Heimat, Religion, Feminismus und die EU diskutiert haben. Man geht dabei von Tisch zu Tisch und notiert seine Gedanken auf eine Papiertischdecke, die andere wieder aufgreifen. In Prag tauschte sich die Zeitzeugin Alena Wagnerová mit jungen Menschen über ihr Leben und ihre Erfahrungen in Europa aus.
Wenn Sie auf die bisherigen Veranstaltungen zurückschauen: Was verbindet die Menschen in Europa?
Sicher die Neugier aufeinander und der Wunsch selbst, immer wieder neu etwas Verbindendes zu entdecken und darüber zu sprechen. Die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Regionen und Generationen spielte in allen Diskussionen eine große Rolle, auch wenn es keine einfachen Antworten darauf gab. In Oslo fand die Veranstaltung in einem Jazzclub statt. Die große norwegische Jazzsängerin Karen Krog erzählte von ihrem Leben im Krieg und in den Nachkriegsjahren. Thema war das ambivalente Gefühl Norwegens gegenüber der EU, der es ja nicht angehört - distanziert und doch mit ihr verwoben. Aber gerade die Musik an dem Abend hat gezeigt, wie transnational, wie verbunden dieses Europa ist.
Postkarte zu Erzähle mir von Europa in Oslo | © Goethe-Institut Welche Unterschiede gibt es zwischen den Generationen?
Aufgefallen ist mir der große Respekt füreinander und die Faszination für die Erzählungen der anderen Seite. Natürlich gibt es Unterschiede. In Helsinki etwa war das Europa-Bild der Älteren tatsächlich durch Krieg und Entbehrung gekennzeichnet, auch die EU-Mitgliedschaft Finnlands (seit 1995) ist für viele der Generation noch ungewohnt. Für die Jungen dagegen ist selbstverständlich. Genauso wie die Tatsache, dass wir uns in Europa frei bewegen können. Sie treibt stattdessen der Kampf für Gleichberechtigung und gegen Rassismus um, sie wünschen sich offene Gesellschaften, die Migration auffangen können. In ihrer Sicht auf die Zukunft waren sich die Generationen bemerkenswert einig: Das künftige Europa soll gleichberechtigt und offen sein.
Erzähle mir von Europa wird künstlerisch begleitet mit Klangcollagen. Wieso das?
Das Archiv der Stimmen ist ein Audio- und Textarchiv. Die Autorinnen und Autoren haben auf Videos verzichtet und wollten ganz die Stimmen wirken lassen. Das hat uns fasziniert. Denn es ist eine sehr intensive Erfahrung, sich ganz auf das Hören zu konzentrieren. Deshalb wollten wir diese Form künstlerisch aufarbeiten lassen. Der Tonkünstler Marc Matter hat eine Klanginstallation aus den Interviews erstellt, passend zum jeweiligen Veranstaltungsort. Matter komponierte aus Textfetzen einen vielstimmigen Klangteppich, bunt, vielsprachig, fast dadaistisch. Bei den Veranstaltungen ist die Klanginstallation zu hören. Sie zeigt wunderbar die Vielstimmigkeit Europas.
Sie heißt „Stimmen: Europa“. Dafür konzentriert er sich auf Interviewpassagen, die sich mit der Zukunft Europas beschäftigen. Seine Komposition ist eine Art Oratorium. Es soll von Laienchören an den Standorten gesungen werden. Durch COVID 19 ist es jetzt natürlich schwierig mit Chören zu arbeiten. Daher hat Langemann seine Komposition in modulare Bausteine zerlegt. Die unterschiedlichen Stimmen können einzeln oder zusammen singen, draußen oder drinnen. Ein Filmteam nimmt die Performances auf und erstellt eine digitale Gesamtfassung, die nächstes Jahr zu hören und sehen sein wird. Die Pandemie setzt viel Kreativität frei. Es ist spannend, was entsteht, wenn sich Künstler neue Konzepte suchen müssen.
Ab jetzt kann „Erzähle mir von Europa“ nur noch digital stattfinden.
Langweilig wird es deshalb nicht: In Moskau läuft die Veranstaltung über den Radiosender Echo Moskvy, in Straßburg gibt es eine Zoomkonferenz mit Einspielungen der Soundcollage von Marc Matter. Anfang Dezember kehren wir mit „Erzähle mir von Europa“ nach London zurück. Das wird ein spannender Moment – so kurz bevor Großbritannien endgültig die EU verlässt.
Dieser Artikel wurde zuerst auf eu2020.de am 15.11.2020 veröffentlicht.