Gemüse aus der Stadt
Ohne Erde und Sonne
Bevölkerungswachstum und Urbanisierung stellen die globale Lebensmittelversorgung vor große Herausforderungen. Liegt die Zukunft der Landwirtschaft in der Stadt? Mitten in Berlin baut eine kleine Firma in einer ehemaligen Fabrik Gemüse an.
Über sieben Milliarden Menschen bevölkern heute die Erde, nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden es im Jahr 2050 neun Milliarden sein. Zweidrittel von ihnen werden in Städten leben. Diese Entwicklungen stellen die globale Lebensmittelversorgung auf eine harte Probe. Um die Weltbevölkerung von morgen ernähren zu können, bedarf es zusätzlicher Ackerflächen. Doch wird ein Großteil der als Ackerland brauchbaren Flächen bereits bewirtschaftet. Wüstenbildungen verschärfen das Problem zusätzlich.
Um das Problem zu lösen, greift Dickson Despommier mit seinen Studenten an der New Yorker Columbia University einen alten Gedanken der Architektur auf: nach oben zu bauen, wenn in der Stadt der Platz knapp wird. Der Professor für öffentliche Gesundheit und Mikrobiologie entwickelte die Idee der vertikalen Landwirtschaft: Der Anbau von Gemüse und Früchten solle in Wolkenkratzer, sogenannte Farmscrapers, verlegt werden. Dies hätte nicht nur den Vorteil, Platz zu sparen, sondern verbrauche auch 90 Prozent weniger Wasser als herkömmlicher Anbau. Vertikale Landwirtschaft ermögliche ganzjährige Ernten, vermeide witterungsbedingte Ernteausfälle und komme ohne Pestizide aus. Die Nahrung würde nah am Verbraucher angebaut, sodass sich lange Transportwege erübrigten. Forscher auf der ganzen Welt arbeiten fieberhaft daran, den Anbau von frischem Grün in gestapelten Gewächshäusern Wirklichkeit werden zu lassen.
Lebensmittel in der Stadt anbauen
Auch auf einer Fabriketage in einem Kreuzberger Hinterhof mitten in Berlin wird an Alternativen zur herkömmlichen Landwirtschaft getüftelt. Dort betreiben drei junge Israelis, Guy Galonska mit seinem Bruder Erez und dessen Frau Osnat Michaeli, seit Februar 2014 ein Start-up namens Infarm, kurz für „Indoor Farming“. Begonnen hat alles im heimischen Wohnzimmer: Durch Herumprobieren machten die drei die Ideen der vertikalen Landwirtschaft für sich nutzbar, um Sprossen, Keimlinge und Kräuter im Innenraum anzubauen. Inspiriert wurden sie auch durch ein Projekt der NASA. Es erforscht, wie sich Astronauten auf ihrem immer längeren Missionen mit selbstgepflanztem Gemüse versorgen können. Erfahrung mit Landwirtschaft hatte keiner der drei Infarm-Gründer. Dafür aber verband sie der Plan, selbstversorgend zu leben und die Vorteile selbstangebauter pflanzlicher Nahrung in die Stadt zu bringen.Was als bloßes Experiment begann, ist heute ein Geschäftsmodell, das kein geringeres Ziel verfolgt, als die urbane Lebensmittelversorgung zu revolutionieren. Mit Infarm wollen die drei Autodidakten Farmmodule herstellen, die von Hotels, Restaurants oder auch Privatleuten einfach installiert werden können, um sich das ganze Jahr über selbst mit hochwertiger, öko-freundlicher Nahrung zu versorgen. Dadurch soll der Anbau komplett dezentralisiert werden: Lebensmittel kämen dann nicht mehr „aus der Region“, sondern aus dem eigenen Keller oder Dachboden.