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Jasmin Schreiber
Zurück ins Leben schwimmen

Paula benötigt zum Leben nur ihre Wohnung, ein wenig Geld und ihren geliebten Bruder Tim. Als der bei einem Unfall stirbt, versinkt sie in eine tiefe Depression. Es braucht einen Roadtrip mit einem alten Herren, einem Hund und einem Huhn, um daraus wieder aufzutauchen.

Von Jana Schrader

Schreiber: Marianengraben © Eichborn Der Marianengraben ist eine Tiefseeschwelle im Pazifischen Ozean, in der mit einer Maximaltiefe von 11.000 Metern unter dem Meeresspiegel die tiefste Stelle des Weltmeeres liegt. Für Paula fühlt es sich so an, als sei sie dort versunken, seit vor zwei Jahren ihr kleiner Bruder Tim im Meer ertrunken ist. Tim, den sie so liebte wie niemanden sonst auf der Welt und der einzige, bei dem sie kein Problem mit Nähe hatte. Sein Verlust hat Paula in eine tiefe Depression gestürzt. Da sie seit der Beerdigung nicht mehr an Tims Grab war, rät ihr Therapeut, genau dorthin zu gehen. Paula will bei ihrem Friedhofsbesuch niemandem begegnen, deshalb macht sie sich nachts auf den Weg. Doch sie ist nicht allein: Sie erwischt den Rentner Helmut dabei, wie er die Asche seiner Freundin Helga ausgräbt. Bei der gemeinsamen Flucht über die Friedhofsmauer ergießen sich Helgas Überreste über Paulas Kleider. Kurzerhand nimmt Helmut sie mit, um die Asche wieder einzusammeln. Dabei erfährt Paula, dass er an einen für Helga und ihn bedeutsamen Ort reisen will, um sie dort zu verstreuen. Kurzerhand klinkt Paula sich ein – der Beginn einer skurrilen Reise für zwei Menschen mit gebrochenem Herzen zurück ins Leben.

In ihrem Debütroman Marianengraben setzt sich Jasmin Schreiber mit den Themen Leben, Tod und Trauer auseinander. Sowohl Paula als auch Helmut leiden unter dem Verlust des Menschen, der ihnen der wichtigste auf der Welt war, und beide schaffen es nicht, allein aus ihrer Trauer zu finden. Ihnen fehlt ein stützendes Netzwerk: Paula lässt nicht einmal ihre Eltern an sich heran, Helmut hat bereits derart viele Verluste erlitten, dass er keinen weiteren Schultern will.

Zu zweit zurück ins Leben finden

Doch gerade dieses geteilte Leid sorgt dafür, dass das ungleiche Duo einander Halt geben kann. Sie verstehen, warum der Gedanke unerträglich ist, dass der geliebte Mensch im letzten Moment an sie gedacht hat, man an dem alles verändernden Tag ein Glas Mayonnaise vertilgt oder die Wand grün streicht, obwohl man diese Farbe nicht mag. Nur darum können sie einander bei der gemeinsamen Fahrt mit Helmuts Hund Judy und dem Huhn Lutz aus dem Unglück so tief wie der Marianengraben ziehen.

Paula erzählt diese Reise ihrem Bruder, den sie immer wieder direkt adressiert. Die Du-Anrede verleiht dem Text etwas Persönliches und Unmittelbares. In den Momenten der Trauer ist Schreiber am stärksten. Wenn sie das Foto beschreibt, das Paulas Pulsschlag an jenem Tag zeigt, an dem sie die Nachricht von Tims Tod bekam und dies als Graphen bezeichnet, der abbildet wie ein Herz bricht oder wenn sie und Helmut sich über ihre geliebten Menschen austauschen, dann kann das berührend sein. Schreiber kennt sich aus mit der Thematik, sie fotografiert Kinder, die vor, während oder bald nach der Geburt versterben und ist ehrenamtliche Sterbebegleiterin. Diese Tätigkeiten geben ihr einen feinfühligen und sanften Zugriff auf das schwere Thema Tod.

Traurig und lustig zugleich

Doch Marianengraben ist nicht nur ein trauriger Roman, sondern auch einer voller skurriler und lustiger Momente und an diesen hapert die Geschichte. Zu oft versucht die Autorin, noch ein ungewöhnliches Event einzufügen oder eine verrückte Komponente einzuflechten und vernachlässigt darüber die Charaktermotivation. Warum etwa sammelt Paula plötzlich ein verletztes Huhn von der Straße und nennt es Lutz? An diesen Stellen hätte etwas Zurückhaltung gut getan.

Gelungen ist der studierten Biologin hingegen die Verbindung zwischen der Leidenschaft für das Meer der Geschwister Paula und Tim und deren Auswirkung auf ihre enge Beziehung sowie das Einflechten von naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Phänomenen in Paulas Betrachtungen. Jedes Kapitel ist mit einer Tiefenmeterangabe überschrieben, die Stück für Stück niedriger werden, um schließlich bei null zu enden.

Es ist nicht leicht, über Sterben und Verlust zu schreiben. Beides sind sehr individuelle Vorgänge, mit denen jede*r anders umgeht. Und ebenso ist der Weg zurück ins Leben sehr individuell. Marianengraben zeigt zwei mögliche von unendlich vielen. Jasmin Schreibers Ansatz ist nicht vollkommen neu, aber die Umsetzung ist sympathisch. Der lockere, schnörkellose Schreibstil sorgt für einen schnellen Lesefluss und ein kurzweiliges Vergnügen. Ein angenehmes Debüt.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Jasmin Schreiber: Marianengraben
Köln: Eichborn, 2020. 254 S.
ISBN: 978-3-8479-0042-9

Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe (auch als Hörbuch).

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